Hand aufs Herz: Mein Vorsatz war wirklich, diesen Text über Island nicht mit Björk zu beginnen. Und dann bricht er doch, in tiefster Nacht, als Björk in die Reykjaviker Kaldi Bar hereinstürzt. Sie trägt einen kobaltblauen Brokatmantel und sieht verdammt traurig aus. Björk steuert auf die Stereoanlage zu, die sich in einem Schrank hinter dem Tresen befindet. Ohne Vorwarnung dreht sie dem Laden die Musik ab. „Ist für sie gerade alles etwas schwierig mit der Liebe“, sagt der Barkeeper, bemüht zu erklären, weshalb Islands größter Popstar da morgens um halb zwei in einem Wandschrank steckt.
Björk arbeitet frischweg und genau, zieht ihr Smartphone aus der Manteltasche und stöpselt es an den Verstärker. Anschließend wummern kolossale Basswellen durch die Bar. Sie branden in Küsse und Fetzen lauter Unterhaltungen und machen den Weg frei für das irre Björk-Telefon-DJ-Set, das nun folgt. Keine zwei Tracks und alles ist Rausch. Stühle kippen, raven, mit hochgerissenen Armen bejubeln die Menschen eine unerwartete Wendung dieser Nacht. Und die angeschlagene, abgejagte Björk dreht in der Menge ihre Pirouetten.
Irgendwie kommt einem dieser Wille zur Selbstermächtigung bekannt vor. So, wie sich Björk jetzt verhält, so ähnlich verhielten sich ihre Landsleute nach dem Finanzkollaps.
Island im Herbst 2008. Damals entsprachen die Schulden des Landes, infolge aggressiver Kreditabenteuer, dem Zehnfachen des Bruttoinlandsprodukts. Island stand an der Schwelle zum Staatsbankrott und war sein niedliches Elfenimage urplötzlich los. Doch die Isländer erwiesen sich als hervorragende Reputationsrestaurateure, die das ramponierte Ansehen rasch aufpolieren konnten. Kaum ein anderes Land hat sich in den vergangenen Jahren so erfolgreich vermarktet wie die Insel im Nordatlantik.
Entsprechend lesen sich auch die aktuellen Besucherzahlen. Im vergangenen Jahr (2013) kamen 807.349 Touristen nach Island mit seinen gerade mal 325.000 Einwohnern. Das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr – so viele wie nie zuvor. Die Hotelübernachtungen stiegen um 14 Prozent, wie das Isländische Amt für Statistik von Herzen gerne mitteilt. In dieser flotten Nachkrisengeschwindigkeit wächst die Tourismusbranche seit sieben Jahren, seit die Besuche erschwinglicher geworden sind. Und wenn man nach einer exzentrischen Björk-Party nichts mehr wiederfindet – einen Tourenanbieter, Reiseleiter oder Herbergsbesitzer findet man immer. Für die hoch verschuldeten Isländer ist ein attraktiver Arbeitsmarkt entstanden, der noch die unwirtlichsten Orte in Arbeitsplätze verwandelt.
Eine bläuliche Eiswüste, von Schluchten durchfurcht wie der Menschen finsterste Fantasie: Das ist der Gletscher Sólheimajökull, dessen Eis im Süden des Landes sich ausbreitet. Valdi, 29, wandert bei Nieselregen darauf herum. Früher oft allein. Heute laufen zwölf Touristen in bunter Funktionskleidung hinter ihm her und knallen fröhlich ihre Steigeisen ins Eis. Eigentlich wollte Valdi mit dem Handel von Anleihen großes Geld verdienen. Er studierte Wirtschaft an der Universität von Reykjavík. Damals galt die Insel noch als extraeuropäisches Finanzzentrum. Schließlich waren alle gemeinsam am Ende. Valdi mit seinem Studium und die drei größten Banken des Landes mit ihrem Geschäftsmodell. „Ich war, wie die meisten hier, auf der Suche nach dem nächsten großen Ding“, erzählt er, während seine schnaubende Gruppe eine Pause macht und den Gletscher fotografiert. „Und das Ding ist jetzt der Tourismus.“ Valdi schwingt seine Eisaxt und lacht. „Aus vielen Bankern von damals sind Reiseleiter geworden“, spricht er und stapft weiter vorneweg.
Und nicht nur aus den Bankern. Es herrscht wieder Goldgräberstimmung auf der Insel, und sie hat längst auch andere aufgezehrte Branchen befallen. Etwa den Kosmos Gunnar Sigurdssons. Bislang verstand sich Sigurdsson auf die Leitung von Theater- und Filmschauspielern. Neuerdings lotst er Touristen durch Lavafelder. „Von irgendwas müssen wir unsere Schulden abbezahlen“, sagt der Regisseur und überreicht mir bei einem Kaffee in einer der zwei Dutzend Bars von Reykjavik seine Visitenkarte: „Your friend in Iceland“ steht da drauf.
Wie die meisten Mittelständler setzte unser Freund in Island in den Jahren des Booms auf einen starken Kurs der Isländischen Krone. Er kaufte ein Auto. Dann kaufte er eine Wohnung. Finanziert mit Krediten in ausländischen Devisen. Als sich der Wert der Krone nach dem Kollaps halbierte, verdoppelten sich seine Schulden. „Die komplette Mittelschicht war ruiniert“, sagt Sigurdsson. Er fühlt sich übers Ohr gehauen, von seiner eigenen Leichtgläubigkeit. Lieber wirft er sich die eigene Dummheit von einst vor, als sich selbst Gier einzugestehen. Die Restwut des kleinen Anlegers flackert noch in ihm. Ein Überbleibsel des Schocks von 2008, als er mit seinen Landsleuten auf die Straße ging.
Mit heftigen Protesten zwang das Volk die damalige Regierung aus Konservativen und Liberalen, die die radikale Liberalisierung des Bankensektors vorangetrieben hatte, zum Rücktritt. Doch die kollektive Erinnerung der Isländer rotiert in unergründlichen Bahnen um die Vernunft; bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2012 wählten sie jene fortgejagten Parteien wieder zurück an die Macht. Die liberal-konservative Regierung unter Premierminister Sigmundur David Gunnlaugsson setzt nun auf einen weiteren Ausbau des Tourismus, der neben der Fischerei den wichtigsten Wirtschaftszweig ausmacht.
Während im aktuellen Haushalt Schulen, Krankenhäuser und Kultureinrichtungen erhebliche Budgetkürzungen erleiden, ist ein Posten ausdrücklich vom Sparen ausgenommen: Die staatliche PR-Abteilung, ein Institut namens „Promote Iceland“. 31 Angestellte erdenken dort immer wieder neue Erfolgsgeschichten über ihren Inselstaat. „Promote Iceland“ ging unmittelbar nach dem Bankenkollaps ans Werk und verantwortet seither sämtliche Werbemaßnahmen des Landes.
Die Strategie des Instituts lässt sich an der Social-Media-Kampagne „Inspired by Iceland“ verdeutlichen: Ihr Herzstück ist ein Videoclip. Strickpulli tragende Isländer aller Altersgruppen tanzen darin zu den Gesängen Emiliana Torrinis vor prachtvollen Polarpanoramen, überbetont heiter, mitgerissen, gut durchblutet. Teilt das Video, zeigt den Menschen im Ausland, dass hier alles in bester Ordnung ist, lautete der Appell der Reykjaviker Werbeprofis an die isländische Bevölkerung. Und die machte mit. Der Clip wurde 2010 viral – gleich nach dem Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull, der mit seiner Aschewolke den europäischen Flugverkehr lahmlegte und Island zum kontinentalen Gesprächsthema machte. Das Timing der Kampagne war perfekt. Bevor ein frustrierter Flugpassagier Eyjafjalladingens buchstabieren konnte, machte die positive Inseldeutung die Runde.
Diese lebt hauptsächlich von zwei Aspekten: der fabelhaften Naturkulisse und der offensiv zur Schau gestellten Kreativität der Isländer. Wie diese Attribute glaubwürdig annonciert werden können, lässt sich im Gründungsbericht von „Promote Iceland“ nachlesen: „Es ist notwendig, Lyriker, Schriftsteller, Fotografen und Musiker einzuspannen, um die Geschichten überzeugend zu vermitteln.“
Dass die Kulturschaffenden von der Popularität ihrer Insel profitieren, will in Reykjavik niemand ernsthaft bestreiten. Vor allem für isländische Musiker funktioniert ihre Herkunft zuverlässig als Marke, ihre Alben werden mit dem Ort assoziiert, an dem sie entstehen. Ein Konzept, das sich in der Popkultur schon oft genug bewährt hat – siehe Chicago Soul, Sound of Detroit, Hamburger Schule. Solang der Hype währte, war fast egal, was aus diesen Städten musikalisch rumkam, ein Vorschuss an Aufmerksamkeit war eigentlich gesichert.
So finanziert sich ein schmucker Plattenladen wie 12 Tónar in der Reykjaviker Innenstadt durch den Verkauf von Island-Pop eine überaus wohlsortierte Vinylabteilung für Barock- und Renaissancemusik, dass selbst dem alten Händel Glückstränen kämen.
Doch nicht alle Isländer wollen sich mit den Touristenströmen arrangieren.
Auf den ersten Blick wirken Urdur Hákonardóttir und Jón Atli Jónasson wie ein Powerpaar, ganz nach dem Geschmack von „Promote Iceland“. Sie machte in den Nullerjahren als Sängerin der Band GusGus internationale Popkarriere und mischt in diversen Musik- und Tanzkollektiven mit. Er ist Dramatiker und arbeitet sich in seinen Stücken an Alkoholismus, Polarfischerei und Familienwahnsinn ab, gefällt sich aber auch gut als Teil der besseren isländischen Gesellschaft, wenn er wieder einmal beim Präsidenten des Landes zu Gast ist und dort bei Preisverleihungen Laudationes auf seine Künstlerkollegen hält. Hákonardóttir und Jónasson sind respektiert, umtriebig und bestens vernetzt. Und sie können mit der aktuellen Entwicklung auf der Insel wenig anfangen.
„Der Tourismus verändert unser Zusammenleben hier unverkennbar“, sagt Hákonardóttir, als wir durch die Innenstadt von Reykjavik spazieren. Vorbei an Hotelbaustellen, wo einst traditionsreiche Musikbühnen standen. „Wer will schon noch als Lehrer arbeiten, wenn er als Reiseleiter doppelt so viel verdient?“ Eine rhetorische Frage, deren Antwort ihre Laune nicht besser macht.
Auch Jónasson verzweifelt am Eifer, mit dem Island seine Urlaubszielwerdung betreibt. Die Isländer würden es wieder einmal übertreiben und hätten aus der Finanzkrise wenig bis nichts über das rechte Maß gelernt. „Es hat kein Mentalitätswandel stattgefunden“, stellt Jónasson fest und guckt derart frustbewegt durch die Gegend, als wolle er mit seinen Blicken all die neuen Hotelfassaden in Grund und Boden bröseln.
Insofern birgt die Lage genügend dramatisches Potential für mindestens ein neues Theaterstück. Doch Jónasson wird es nicht in Island schreiben. Er und Hákonardóttir wollen ihre Koffer packen und fortgehen. Ihr Sehnsuchtsort speit keine Lava, ist dafür aber ebenfalls ausgesprochen pleite und lebt von seinen vielen hassgeliebten Besuchern: Berlin.
Diese Reportage erscheint als Kooperation von Weeklys und Krautreporter.
Aufmacher-Bild: Alexandra Rusitschka