Von den vielen Argumenten, die Verteidiger von Putins Politik in den letzten Monaten vorgebracht haben, leuchtet eines noch am ehesten ein: Die Angst vor „Regime Change“, also vor dem erzwungenen Regierungswechsel durch fremde Mächte. Kein Land der Welt kann es dulden, wenn seine Regierung durch eine ausländische Macht gestürzt werden soll. Russland begründet seine Angst dabei immer mit den „Farbenrevolutionen“, den Aufständen in Serbien, der Ukraine, in Georgien und Moldawien. Jüngst etwa Präsident Wladimir Putin:
Extremismus wird in der modernen Welt als ein geopolitisches Mittel benutzt, um die Einflusssphären zu verschieben. Wir sehen, zu welchen tragischen Konsequenzen die Welle so genannter bunter Revolutionen geführt hat.
„Ausländische Agenten“ seien Schuld an diesen Revolutionen, sie hätten die Bevölkerung aufgewiegelt.
Der Serbe Srđa Popović und das Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies (Canvas) hatten in vielen Ländern, in denen es später auch zu Revolutionen gekommen ist, Workshops gegeben. Dabei unterrichten sie nach eigener Aussage die Methoden des gewaltfreien Widerstandes, so wie sie auch in den Handbüchern auf ihrer Homepage zu finden sind.
Es ist der 16. Oktober, als ich Srđa Popović in seinem Büro in Neu Belgrad besuche. Der Stadtteil war eines der Riesenbauprojekte, die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern begonnen wurden. Gesichtslose Wohnhäuser werden hier zu Blöcken zusammengefasst, zugige Straßen haben keinen Namen. Canvas hat sein Büro in einem flachen Neubau, das es sich mit einer anderen Organisation teilt. Wenn man zu Popović’ Büro will, muss man auf die Veranda treten und durchs Freie gehen. Sein Büro ist klein, Pamphlete, Handbücher und DVD stapeln sich darin. Das Canvas-Schild hinter ihm ist von der Wand gerutscht. Popović hängt es wieder auf.
Krautreporter-Mitglieder finden in der Anmerkung rechts das volle Transkript des Gespräches und die Original-Aufnahme zum Nachhören.
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Wer ist mächtiger: ein Batallion Soldaten oder fünf Menschen in einem Büro?
Popović: Kommt ganz darauf an, was du erreichen willst. Im 21. Jahrhundert hat sich die Macht verschoben. Im vergangenen Jahrhundert war das Wettrüsten wichtig: wie viele Soldaten du hattest, wie oft du die Welt mit deinen Nuklearraketen zerstören konntest. In diesem Jahrhundert gibt es einen Wettlauf in der Bildung. Die Frage ist, ob die bösen Jungs schneller lernen, wie sie die Bevölkerung kontrollieren können und ob korrupte Demokraten schneller lernen können, ihre Bevölkerung ruhig und in Shoppinglaune zu halten. Oder ob jene Menschen, die die Welt verändern wollen, schnell genug lernen, wie sie mobilisieren, organisieren, Einigkeit erreichen.
Sie vertreiben Bücher und DVDs, halten Vorträge. Sie haben eine ganze Protest-Philosophie entwickelt. Wie kam es dazu?
Wir haben in Studentengruppen 1992 mit großen Anti-Kriegs-Demonstrationen gegen Milošević angefangen. Damals haben wir gelernt, dass die Besetzung einer Universität Milošević nicht davon abhalten wird, seine Panzer nach Kroatien zu schicken. Dann 1996, 1997 haben die gleichen Leute große Demonstrationen organisiert, nachdem die Wahl gefälscht worden war. Drei Monate lang waren wir jeden Tag auf der Straße. Damals haben wir viele Taktiken gelernt: Wie man beweglich bleibt, die Moral hoch hält. Solche Dinge. 1998 haben wir dann Otpor gegründet, die Bewegung, mit der wir schließlich Milošević vertrieben haben. Unser Demonstrations-Stil ist aber nicht neu. Als wir uns die Bewegungen von Gandhi, Martin Luther King oder jene in Südafrika anschauten, haben wir gemerkt, dass wir das Rad nocheinmal erfunden haben.
Und daraus wurde Canvas, Ihre Organisation?
2003 fing es an: Wir bekamen Einladungen aus so verrückten Ländern wie Südafrika und Weißrussland. Darin hieß es: „Hey, wir sind aus Simbabwe und wir sind begeistert über das, was ihr erreicht habt.“ Also haben wir angefangen, diese Gruppen zu beraten. Die Nachfrage wuchs in der ganzen Welt, vor allem nach den Protesten in Georgien und der Ukraine, über die die ganze Welt berichtet hat. Inzwischen haben wir in über 30 Ländern unterrichtet.
Wie finanzieren Sie Canvas?
Die Fixkosten, also Gehälter und Büroräume, werden privat getragen von Slobo Đinović. Er ist der Chef der serbischen Telekommunikationsfirma Orion und war einer meiner Partner bei Otpor. Außerdem bekommen wir Privatspenden. Wenn es um Workshops geht, tun wir uns zusammen. Wenn ich zum Beispiel nach Wien oder München fahre, bezahlen die Organisatoren für meinen Flug und mein Honorar. Ich glaube, dass wir inzwischen mit 70 verschiedenen Gruppen zusammengearbeitet haben. Manche waren an Demokratieförderung interessiert, zum Beispiel Freedom House. Andere wollen mehr über gewaltfreie Aktionen erfahren, andere arbeiten daran, den ländlichen Raum zu entwickeln. Es gibt nur eine Regel bei der Finanzierung: kein Regierungsgeld. Wir können zum Beispiel kein Geld von USAID, der US-amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation, annehmen.
Als Sie die Proteste in den 1990er Jahren gegen Milošević organisiert hatten, wurden Sie trainiert von…
Paul McCarthy, ja.
… der für den US Think-Tank National Endowment for Democracy arbeitet.
Ja, wir haben Paul McCarthy im Mai 2000 in Ungarn getroffen. Es war sehr wichtig für uns, unsere Gedanken zu strukturieren und zu organisieren. Damals wurden wir in die Wissenschaft der gewaltfreien Aktion eingeführt, in die Arbeiten von Gene Sharp. Wir alle begriffen auf einmal, dass jemand viele Bücher darüber geschrieben hatte, was wir uns in den Jahren vorher selbst beigebracht hatten. Dieses Training war sehr wichtig, um alles auf eine systemische Art zu verstehen, gerade auch, weil wir ja auch unsere eigenen Handbücher entwickelt haben.
Die Menschen fragen uns immer: Hättet ihr das auch ohne diese Hilfe geschafft? Natürlich hätten wir das auch ohne diese Hilfe geschafft. Damals, im Mai 2000, hatten wir schon 70.000 Unterstützer. Es war wichtig, aber nicht entscheidend. Es gibt dieses große Narrativ des Revolutionsimports und -exports, das seinen Ursprung in Russland hat. Die haben dort die Idee, dass du nur fünf Serben in ein Flugzeug stecken, ihnen eine Million Dollar geben und sie irgendwohin schicken musst, und - boom - eine Million Menschen sind auf der Straße. Unglücklicherweise läuft es so nicht. Was du wirklich brauchst, ist Einigkeit, Planung und Disziplin bei der Gewaltfreiheit. Du kannst das auch mit Zahlen unterfüttern: Zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung sollten in deiner Bewegung aktiv sein, damit sie erfolgreich ist. Das schaffst du nur, wenn deine Vision eine einheimische ist, wenn etwas darin ist, womit die Menschen etwas anfangen können.
Fremde können solche Bewegungen nicht wirklich anführen. Es gibt so viele Dinge, die du nicht von außen einführen kannst, die du aber brauchst, um zu gewinnen: eine Vision, wo es hingehen soll, viele Mitstreiter, Kreativität, Mut. Was du importieren und exportieren kannst, ist Wissen. Wir schauen uns an, wie du dieses Wissen möglichst benutzerfreundlich organisieren kannst. Es sollte spezifisch genug sein, um vielen Menschen eine Idee zu geben, was sie machen sollten, aber auch breit genug, um zu reflektieren, dass es „copy & paste“ nicht geben kann.
Anstatt den Menschen zu erzählen, was sie machen sollen, begleiten wir sie durch den Prozess, ihre eigenen Ideen zu organisieren. Nur so können diese Ideen dann auch in der echten Welt umgesetzt werden.
Aber verstehen Sie die Haltung von Menschen, die sagen: „Oh, Sie wurden von den USA trainiert 1999 und 2000. Sie haben mit denen Geschäfte gemacht, Sie sind 2004 in die Ukraine und nach Georgien gefahren und waren bei den ganzen Farbenrevolutionen dabei. Und Sie wurden finanziert von…“
Otpor wurde mit Regierungsgeld finanziert, ja.
Verstehen Sie Menschen, die Sie deswegen für unglaubwürdig halten?
Ich glaube, dass diese Menschen vor allem ideologisch eingestellt sind und nicht pragmatisch. Denn jede Bewegung kann selbst entscheiden, wie sie sich entwickelt. Ein Teil unseres Lehrplans widmet sich „Dritten“. Welche dritte Parteien es geben könnte, wie du sie nutzen kannst für deinen eigenen Vorteil, ohne deine Ideale zu verraten und ohne zu machen, was sie wollen. Das ist eine ganz andere Sache. Aber ich verstehe, dass manche Menschen Putins Propaganda sehr oft schlucken. Darin ist er ja auch sehr gut. Aber letztlich ist sein Szenario nicht sehr realistisch. War ein einzelner amerikanischer Berater, der sich mit 20 meiner Leute getroffen hat, der Schlüssel zum Erfolg? Nein, es waren die 70.000 Menschen, die bereits auf der Straße waren. Sie waren die größte Bedrohung für Milošević.
Die internationale Einmischung in jede Art von Rebellion ist ein Fakt. Aber alles hat zwei Seiten. Nimm keinen Rat von Ausländern an, Regierungen haben keine Freunde nur Interessen. Aber klar, wenn du das nutzen kannst, etwa internationale Medien, um die Sichtbarkeit deines Protests zu erhöhen, dann benutze sie auch.
Aber heute ist das sowieso anders. Durch die neuen Medien lernen diese Gruppen superschnell voneinander. Heute hast du einen Studenten aus Venezuela, der einen kurzes Video bei Youtube hochlädt, das dann jemand in der Ukraine für sich adaptiert, das wiederum in Hongkong aufgegriffen wird. Diese Leute brauchen keinen Serben oder Amerikaner. Die lernen voneinander. Diese Entwicklung nimmt sogar noch zu, denn zum einen ist es viel einfacher heute gute Fallbeispiele zu finden, und zum anderen brauchen diese Leute weniger Ressourcen, um erfolgreich zu sein. Vor zehn Jahren musstest du dir noch eine Kamera ausleihen, um ein Video zu machen!
Haben Sie jemals ein Training abgelehnt?
Ja, wir machen Background-Checks. Manchmal ist das leicht, manchmal schwer, aber in der immer weiter wachsenden Familie von Aktivisten wird es einfacher. Wenn etwa eine Gruppe aus Deutschland anfragt, kann ich 15 Kontakte im Land anschreiben und fragen, ob diese Leute Verrückte sind, die Molotow-Cocktails werfen wollen oder ob sie zum Schwarzen Block gehören. Wenn eine Gruppe sich nicht klar zur Gewaltfreiheit bekennt, lehnen wir die Zusammenarbeit ab.
Vor zwei Jahren veröffentliche Wikileaks interne E-Mails des US-Think Tanks Stratfor, der Analysen zu Geo- und Sicherheitspolitik erstellt und von einer Zeitschrift einmal leicht übertreibend „Schatten-CIA“ genannt wurde. Darin tauchen Sie auch auf. Hatten Sie eine Geschäftsbeziehung zu Stratfor?
Nein, nein.
Aber diese Mails zeigen, dass Sie für Stratfor Analysen erstellt haben. Die Firma hatte Ihnen sogar einen Quellen-Code zugeordnet.
So what? Ich denke… die ganze Sache ist doch schon lustig. Dass es da eine Gruppe von Hackern gibt, die deine private E-Mails abruft. Dass ein paar Boulevard-Journalisten eine Geschichte machen, die nur darauf abzielt, dich als Person zu verunglimpfen.
Ganz generell: Ich war einmal bei Stratfor. Ich habe meine Standard-Präsentation gehalten, die sehr ähnlich zu der war, die ich auch in München beim Zündfunk Kongress gehalten hatte. Darin ist nichts Geheimes. So, wie die Boulevard-Journalisten das Ganze zusammengefügt hatten, klang es wie eine große Verschwörungstheorie: Dass wir bei Canvas mit den Aktivisten auf der ganzen Welt sprechen würden….
…um deren Informationen an Stratfor zu verraten…
Ja. Dabei wissen diese Journalisten ganz genau, dass einige dieser Aktivisten unter einer strikten Überwachung stehen. Mein Telefon wurde abgehört seit ich 23 Jahre alt war. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, sind sich der Überwachung bewusst.
Sie meinen, diese Theorie ist deswegen Unsinn, weil die Geheimdienste sowieso so schon alles über die Aktivisten wissen?
Genau. Das größere Problem dahinter ist, dass es wieder an die dumme Idee anknüpft, dass die Eliten die Welt regieren würden. Kein Stratfor, kein Canvas dieser Welt kann dir Freiheit und Erfolg in einer Rebellion geben, wenn du nicht genug Leute hast oder genug Mut. Wenn das ginge, Export und Import, dann wäre ich der glücklichste Mensch der Erde. Jeder einzelne Diktator stellt das immer so dar, als würden seine eigenen Leute aus dem Ausland finanziert werden, denn warum in Herrgottsnamen sollten diese Menschen denn sonst gegen unsere schöne Regierung in Venezuela demonstrieren? Vielleicht ja, weil Venezuela die höchste Inflation in Südamerika hat oder aus anderen Gründen?
Ich vergleiche das immer mit dem Herrn der Ringe. Es waren nicht die Zauberer und nicht die Ritter, die die Veränderung geschafft haben, sondern die Hobbits, die letzten Leute, von denen du das erwarten würdest. Sie haben eigenartig behaarte Beine, lieben gutes Essen und Tabak und Haschisch. Aber dennoch haben sie den Ring nach Mordor getragen. Das ist die Schönheit gewaltfreier Bewegungen: Dass sie von den einfachen Menschen getragen werden. Und davor haben die bösen Jungs und Verschwörungstheoretiker Angst. Denn, wenn du, wie in Ägypten, einfach nur 20 kluge Studenten brauchst, um einen Diktator zu stürzen, dann ist alles möglich. Wer war Lech Walesa? Ein Elektriker von einer Werft in Gdansk. War er Harvard-Absolvent mit Verbindungen zu großen Geheimdiensten? Nein. Wer war Martin Luther King? Ein Dorfpfarrer, ein sehr guter zwar, aber ein Dorfpfarrer. Wer war Harvey Milk? Ein Betreiber eines Kameraladens.
Leute, die nicht an die Kraft der Hobbits glauben, lieben Verschwörungstheorien nach dem Motto: „Dort gibt es ein superböses Zentrum, die Bilderberger, dieses, jenes… sie entscheiden über unser Schicksal.“ Aber ich sage: Das ist Müll. Wir entscheiden über unser Schicksal - und wir können Menschen beibringen, wie sie das auch können.
Aber warum hatten Sie nicht einfach die Zusammenarbeit mit Stratfor abgelehnt. Deren Leumund ist fast überall sehr schlecht.
Ja, nur „fast überall“. Im Fall Serbien haben diese Leute die NATO-Aggression deutlich verurteilt. Sie waren der einzige Think Tank, der sagte, dass dieser Angriff ein Fehler war. Damals wurden sie also nicht als die bösen Leute wahrgenommen. Es kommt auf die Wahrnehmung an. Also: Warum sollte ich es ablehnen, eine Präsentation in einem Ort wie diesen zu geben? Ich würde auch mit der CIA reden, wenn sie mich einladen würden, oder mit Putin oder dem KGB - wenn sie mir zuhören würden. Warum sollte ich das nicht tun?
Serbien hat sich seit Ihren Demonstrationen recht ruhig entwickelt, wenn man das Land mit der heutigen Ukraine oder mit Georgien vergleicht. Fühlen Sie sich für die Entwicklungen dort verantwortlich?
Nein, denn ich gebe den Menschen keine Ratschläge. Ihren Kampf müssen sie selbst ausfechten. Wir versuchen nicht, ihnen eine Strategie zu liefern. Falls sie uns doch danach fragen, sagen wir nichts, denn wir glauben, dass Ausländer dazu nicht in der Lage sind.
In Serbien waren wir erfolgreich, weil wir nicht in die Fallgrube der Nachfolge gefallen sind. Bei uns ging es nicht darum, Milošević zu entfernen. Das war nur ein wichtiger Meilenstein von vielen. Wir standen vielmehr für eine bestimmte Gruppe von Werten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie und faire Wahlen, Frieden mit den Nachbarn und für die EU-Integration. Als Milošević ersetzt wurde, setzten wir die neue Regierung von Tag eins an unter Druck, diesen Werten zu folgen. Das ist ein großer Unterschied zum Beispiel zu Ägypten. Die Ägypter waren richtig gut darin, Mubarak loszuwerden, aber sie haben mitten im Prozess das Spiel für beendet erklärt und sind nach Hause gegangen. Dabei solltest du auch nicht den Eliten vertrauen. Das war der Fehler der Ukraine in der Orangenen Revolution. Die Demonstranten haben freie Wahlen garantiert und dann Juschtschenko und Timoschenko in die Ämter gewählt. Die haben sich überworfen, alle waren enttäuscht und Janukowitsch war wieder da.
Hatten Sie Kontakte zu den Aktivisten des Euromaidan?
Nein, wir haben da nicht gearbeitet, sondern alles nur beobachtet mit Hilfe der Menschen, die wir kennen.
Werden wir mal etwas theoretischer. Welche Arten gibt es, eine Bewegung zu organisieren?
Die Taktik der Konzentration, bei der du alle deine Eier in einen Korb legst. Das ist die typische „Occupy“-Taktik, wo es einen Umzug gibt, eine Kundgebung und wo 10.000 Menschen jeweils zwei Stunden Zeit investieren, was insgesamt 20.000 Arbeitsstunden bedeutet, die du darin investierst, auf einem Platz zu sitzen, einen Park zu besetzen und deinen Reden zuzuhören. Das aber solltest du erst ganz am Ende machen. Warum? Weil es wichtig ist, dass deine Leute an einem Strang ziehen. Wie aber sollst du das schaffen, wenn das einzige Angebot zum Mitmachen ist, dass Leute ihre Jobs aufgeben und in einem Park sitzen sollen. Du solltest die Hürde so niedrig wie möglich machen. Wenn ich ein Abzeichen trage, gehöre ich zu der Bewegung. Wenn ich von meinem Fenster aus auf Töpfen und Geschirr herumtrommeln soll, kann das jeder machen.
Taktiken der Konzentration wurzeln wohl in einem sehr oberflächlichen Verständnis der Arabellion. Nicht nur die Leute von Occupy Wall Street, auch die Indignados aus Spanien, auch Maidan, auch Hongkong… diese dumme Idee! Weil sie alle auf den Tahir-Platz geschaut haben, sagen sie: „Alles, was diese Leute gemacht haben, war 19 Tage auf dem Platz zu sitzen, und dann begann es, Schokolade vom Himmel zu regnen.“ Mubarak konnte entfernt werden, weil die ägyptischen Organisatoren wussten, wie sie mit den Gewerkschaften umgehen sollten, wie sie die Leute der Muslimbruderschaft auf ihre Seite ziehen konnten, wie sie die Polizei draußenhalten konnten, in dem sie selbst dafür sorgten, dass auf dem Tahir Recht und Ordnung herrschte. Sie hatten diese Bewegung 2008 gestartet.
Wenn du eine Konzentration von Menschen hast, besteht die banale Gefahr, dass Trunkenbolde Steine werfen. Außerdem brauchen diesen Menschen viel Pflege: Sie müssen trinken, essen, pissen, scheißen. Wer auch immer Menschen einlädt, einen Platz zu besetzen, sollte darüber nachdenken, wie dieser Platz am Tag fünf aussieht.
Das sind die Herausforderungen der Taktik der Konzentration. Die Taktik der Verteilung hingegen funktioniert anders: Sagen wir, dass ich 5.000 Menschen habe. Will ich, dass diese 5.000 Menschen auf einem Platz sitzen für zwei Stunden oder sollen sie zwei Stunden lang an Türen klopfen und wirklich reden? Da geht es um eine Analyse der Ressourcen.
Eine Besetzung ist nicht der Anfang, sondern das Ende einer Bewegung. Das Problem ist nur, dass die Medien so etwas lieben. Im Fernsehen könntest du auf die Idee kommen, dass es nur darum gehe, möglichst viele Menschen auf einen Platz zu kriegen. Aber diese Wahrnehmung ist falsch.
Die Occupy-Bewegung war nicht sehr erfolgreich - jedenfalls, wenn man sich anschaut, was sie konkret durchgesetzt hat.
Dabei gibt es so eine große Lücke in westlichen Gesellschaften: Soziale Ungleichheit. Besonders seit dem Crash des super-liberalen Kapitalismus 2008, der zu Instabilität geführt hat, die wiederum hohe Arbeitslosigkeit bedingte. Alle Zutaten sind da: ein deutliches Problem, das eine ganze Generation spürt. Diese Generation kommt aus der Mittelklasse, sie hat Zugang zu den Medien und technische Fähigkeiten. Das schlechteste, was du machen könntest, ist diese Generation in einem Platz zu versammeln. Denen wird es schnell langweilig, es könnte gewalttätig werden.
Ich hatte die Leute von Occupy Wall Street getroffen. Super intelligent, super clever, super gut gebildete Leute mit gutem Auftreten, guten Redner-Fähigkeiten, gutem Umgang mit der Technik. Ich hatte gesagt: Lasst uns ein Spiel versuchen. Wie viele Leute sind heute im Park? Wie viele von diesen Leuten bekommen Post von ihrer Bank mit frankiertem Antwortumschlag? Ihr wisst schon, diese Briefe, die einen dazu anhalten, dieses oder jenes zu tun. Was wäre, wenn ihr einen Ziegelstein in den Briefumschlag tut und zurückschickt? Dafür müsste die Bank zahlen und auf den Ziegelstein schreibt ihr: „Wir sind die 99 Prozent!“ Dann bringt ihr das 20.000 Menschen bei. Sie senden alle Ziegelsteine ein. Diese Banken reagieren auf Geld, sie interessiert es nicht, wenn ihr in einem Park sitzt. Aber, wenn ihr sie für die Zustellung von Ziegelsteinen zahlen lasst… vielleicht fangen sie dann an, sich zu fragen: „Sind die Zwangsräumungen wirklich so eine gute Idee?“
Der einzige Weg, wie du die Regierung, große Banken und die korrupten Ölfirmen schlagen kannst, führt über die Menschen und ihre Kreativität.