Der Januar ist ein farbloser Nachrichtenmonat. Normalerweise. In diesem Jahr aber berichtete am 8. Januar „Zeit Online“ in einer Vorabmeldung des einen Tag später erscheinenden Wochenblattes: Der ehemalige Fußball-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, inzwischen 32 Jahre alt, erklärt, er sei schwul. Überfällig, unerwartet, überwältigend, alles auf einmal. Eine Woche lange beherrschte Hitzlsperger den Talk der Republik.
Er war vorgewarnt, wenn auch nicht mit direkter Ansprache. Im Mai 2011 hatte die lesbische Schauspielerin Ulrike Folkerts Profifußballern geraten, sich ein Coming-out gut zu überlegen. Das Gezerre an dem ersten schwulen Kicker könne furchtbar werden. Auch Nationalspieler Philipp Lahm befürchtete im selben Jahr noch herbe Sprüche von der Tribüne und aus der Kabine für denjenigen, der als erster aus dem Schrank komme – wie es so prosaisch auf Englisch heißt.
Der Tenor: So eine Offenbarung hätte berufliche Konsequenzen. Für alle Menschen, die im Rampenlicht stehen. Sportler, Musiker, Schauspieler, Geschäftsleute, Politiker. Ein Karriereknick sei unvermeidlich. „Wenn Sie zur Karriere auch die Entwicklung zum Werbeträger zählen, könnte es Probleme geben“, hatte Thomas Hitzlsperger im Januar der „Zeit“ gesagt. Gern hätten wir mit ihm oder Schauspieler Clemens Schick, der im September sein Coming-out verkündete, darüber geredet. Ist die Auftragslage schlechter geworden? Müssen sie um ihre Laufbahn bangen? Sind Sponsoren, Regisseure oder Kollegen nun vorsichtiger?
Thomas Hitzlsperger ist nicht erreichbar. Er twittert, mal aus London, mal aus San Francisco, mal aus Berlin. Die Pressearbeit betreut eine Anwaltskanzlei in der Schweiz – als gehe es um eine justiziable Angelegenheit. Fast sechs Tage braucht das Büro, um eine Antwort zu schicken:
Herr Hitzlsperger möchte sich zum Coming-out nur gezielt und so wenig wie möglich äußern. Er ist grundsätzlich der Ansicht, dass er bereits gesagt hat, was es zu sagen gibt.
Das schreibt Veronique Kirchner aus dem Advokaturbüro Daniel Jaccard und André Gross in Bern, historisches Zentrum, Christoffelgasse 7.
Also eine Ferndiagnose. Für den Ex-Profisportler hat sich der Schritt ausgezahlt. Er ist Sympathieträger, ein vermutlich bekannteres Gesicht als zuvor in seiner Kicker-Karriere, analysierte im Sommer als ZDF-Experte die Fußball-Weltmeisterschaft mit und erhielt Auszeichnungen wie „Typ des Jahres“ von der Fußballzeitschrift „11Freunde“ – wo er nach der WM als Praktikant arbeitete. Vom Sportplatz zur Expertencouch: Thomas Hitzlsperger ist eine Medienperson geworden.
Alles scheint so normal … und doch will niemand zitiert werden
Clemens Schick tut nach wie vor das, was er am besten kann: in die Haut von anderen schlüpfen. Er hat früher viel Theater in Deutschland gespielt, war einer von Daniel Craigs Gegenspielern im Bond-Abenteuer „Casino Royale“ (2006) und wirkt derzeit in internationalen wie heimischen Produktionen mit. Über das Thema Homosexualität im Filmgeschäft möchte auch der 42-Jährige nicht mehr reden, das habe er mit seinen beiden Interviews in der „Gala“ und in „Männer“ ein für alle Mal erledigt. Ein Blick in die Filmdatenbank IMDB verrät, dass der Berliner dieses Jahr mit Anthony Hopkins und Edgar Ramirez („Carlos“) gedreht und zurzeit für einen Film mit Heike Makatsch vor der Kamera steht. Keine Klagen, nirgends.
Alles scheint so normal geworden, Frau mit Frau, Mann mit Mann, und doch will niemand zitiert werden. Wenn nun plötzlich 100 Homosexuelle aus dem Schatten der Umkleidekabinen, Schauspieler-Trailer und Musikstudios hervortreten würden, ja, das wäre eine andere Sache, dann würde die eine Stimme untergehen im Chor der Geschichten, aber als Einzelmeinung fühlen sich die wenigen Promis lauter als sie sein möchten. Also lieber Klappe halten.
Clemens Schick und Thomas Hitzlsperger haben ja jedes Recht dazu. Der Ansturm danach, den muss man aushalten können, die manchmal blöden Nachfragen verkraften. Wie war das denn in der Gemeinschaftsdusche? Als der US-amerikanische Fußballspieler Robbie Rogers sich 2013 im britischen „Guardian“ outete, hängte er vorsichtshalber erstmal seine Karriere an den Nagel und tauchte unter. Einige Monate später heuerte er bei den Galaxy Rangers in Los Angeles an, er hat angeblich diese Saison so gut gespielt, dass er von Trainer Jürgen Klinsmann für den Kader der US-Nationalmannschaft in Erwägung gezogen wird.
Der australische Schwimmstar und mehrfache Olympiasieger Ian Thorpe gab in einem Fernsehinterview zu, Männer zu lieben. Der erst 19-jährige Rennrodelfahrer John Fennell aus Kanada, der an der Winterolympiade in Sotschi teilnahm, tat es ebenso. Der neuseeländische Olympia-Ruderer Robbie Manson traute sich, seine Liebe zum gleichen Geschlecht publik zu machen.
Noch nicht jeder will das Private als Politikum leben
Wie steht es in Hollywood? Schauspieler sympathisieren dort zwar mit der gleichgeschlechtlichen Ehe, doch im Filmgeschäft gibt es wenige, die sie tatsächlich leben. Anders sieht es im Fernsehen aus – nicht nur innovative Stoffe verfilmen TV-Sender wie HBO, ABC oder Showtime, bei ihnen dürfen Hauptdarsteller offen homosexuell sein.
Neil Patrick Harris hat jahrelang einen Hetero-Schwerenöter in „How I Met Your Mother“ gespielt und mit seinem Partner Zwillinge großgezogen. Im Februar wird er die nächste Oscar-Verleihung moderieren. In der Nerd-Comedy „The Big Bang Theory“ spielt Jim Parsons einen aseptischen Verklemmten, in der Öffentlichkeit versteckt er sein Schwulsein nicht. Matt Bomer wurde durch die Krimiserie „White Collar“ als knallharter Meisterdieb bekannt und lebt mit Mann und drei Söhnen in Los Angeles.
In der Geschäftswelt erregte dieses Jahr der ehemalige Chef von British Petrol Aufsehen. Lord John Browne veröffentlichte in Großbritannien seine Memoiren unter dem Titel „The Glass Closet“ – so bezeichnet man die Situation, wenn zwar jeder weiß, dass der andere homosexuell ist, aber niemand das thematisiert. Browne ermutigt andere CEO, dieses Zwitterdasein hinter sich zu lassen, auf der Website glasscloset.org sammelt er ähnliche Geschichten aus der Businesswelt. Er schreibt: „Ich wünschte, ich wäre mutig genug gewesen, mich früher während meiner Amtszeit als Vorstandsvorsitzender zu outen. Ich bedaure dies bis heute.“
Und in Deutschland? Wir sagen, jeder darf sein, wie er ist. Noch nicht jeder hat den Mut dazu. Noch nicht jeder will das Private als Politikum leben. Weil das Berufliche beschädigt werden könnte. Wir hatten bisher Hape Kerkeling, Guido Maria Kretschmer und Harald Glööckler als Vorbilder. Jetzt kommen ein Ex-Fußballer, den manche „The Hammer“ nannten, und ein Schauspieler, der eine starke physische Präsenz hat, hinzu. Wie heißt doch Thomas Hitzlspergers Twitter-Status nochmal: „It Gets Better.“
Aufmacherfoto: Guillaume Paumier, Flickr, (CC BY 2.0)