Ahmad Filfil hofft auf die Erdbeeren, obwohl er weiß, dass dieses Jahr nicht wie die anderen sein wird. Der Krieg hat alles auf den Kopf gestellt. Es ist Erntezeit in Beit Lahiya, und damit eigentlich Erdbeerzeit. “Heute keine Ernte”, sagt der Bauer. Er zeigt auf den Himmel, grau und voller Wolken. Den ersten großen Regen der Saison wolle er noch abwarten. Die Früchte sind noch nicht reif, noch schlafen sie unter weißen Plastikplanen. Dann fallen auch schon die ersten Tropfen.
Im Schuppen stehen die Kartons zum Export bereit: Nach Russland soll es gehen, Frankreich und Holland. „Strawberries“ steht in Großbuchstaben auf der Pappe. „From Palestine Land to the Global Markets“ darunter.
„Unsere Erdbeeren sind weltberühmt“, sagt Filfil, „so gut wie in Beit Lahiya schmecken sie nirgends.“
Der Export ist wichtig für die Bauern des Gaza-Streifens, vor allem in diesem Jahr. Die Bauern müssen die Verluste dieses Sommers wettmachen. 30 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe sind laut palästinensischer Autonomiebehörde vom Krieg betroffen, Ernten gingen verloren, Felder wurden zerstört, Bewässerungs- und Düngesysteme beschädigt.
“Der Sommer war heiß, und wir konnten uns den Feldern nicht widmen, die ganze Gegend war evakuiert.” Nur während der kurzen Waffenstillstände habe er ein-, zweimal gewässert. Dadurch seien die Mutterpflanzen der Erdbeeren zum Großteil kaputtgegangen.
Zudem wurde aufgrund des Krieges später gepflanzt als sonst. Jetzt hat er Angst, dass die Welt nicht wartet - die Exportsaison nach Europa begann, bevor die Erdbeeren in Beit Lahiya rot waren.
Wirtschaftliche Autonomie verloren
“Wie soll man eine funktionierende Exportindustrie aufbauen, man kann ja nicht planen”, sagt Omar Schaban. Ständig komme ein Krieg dazwischen. Schaban hat zehn Jahre lang für ein von den Niederlanden initiierte Erdbeerprojekt in Gaza gearbeitet, mit dem der Export der Früchte nach Europa unterstützt wurde. Jetzt hat der Ökonom einen Think Tank in einem Gebäude namens “Dream Building” in der Nähe des Strandes von Gaza-Stadt. Er berät Institutionen und NGOs, wie sie ihr Geld am besten in Gaza anlegen.
Schaban leitet damit ein wichtiges Unterfangen, gerade in diesen Monaten, in denen Organisationen und Regierungen aus aller Welt Geld nach Gaza werfen, um den Wiederaufbau voranzutreiben.
“Gaza könnte ein Paradies sein – wir haben das Wissen, um das beste Gemüse der Welt anzubauen”, sagt er. Er zündet sich eine Zigarette an, guckt auf die Pinnwand gegenüber, ein Foto von ihm in jungen Jahren. “Ich träumte einmal davon, mein Land aufzubauen. Ganz ehrlich, ich kann nicht fassen, wo wir jetzt stehen.”
“Wir sind zu einer Gesellschaft geworden, die auf Hilfe von außen angewiesen ist”, sagt Schaban. “In den 1980ern und 90ern hatten wir keine Sorgen in Gaza, aus wirtschaftlicher Sicht, wir konnten uns selbst versorgen.” Laut der Bauerngenossenschaft Beit Lahiyas exportierte Gaza seit 1967 Tomaten, Süßkartoffeln, Paprika nach Europa. Anfang der 1990er lieferte die Enklave am Mittelmeer tonnenweise Erdbeeren und Millionen von Schnittblumen in die ganze Welt.
Die Blumen seien vielleicht das beste Beispiel für den Niedergang des Güteraustauschs.
“Gaza schickte einst 20 Millionen Schnittblumen nach Holland, sie wurden in alle Länder Europas verkauft”, sagt Schaban. Sie wollen kein Geld in Gaza; sie wollen das Ende der Blockade, die habe alles ruiniert. Die Wirtschaft. Und den Ruf.
“Stell dir vor, wenn es in Deutschland Blumen aus Gaza gäbe, vielleicht hätten die Menschen ein anderes Bild von uns.”
Doch seit der Abriegelung des Streifens im Jahr 2007 hat die Welt nicht mehr viele Blumen aus Gaza gesehen.
Es gibt einen Grenzübergang, über den Produkte in und aus dem Streifen gelangen: Abu Salem (auf Arabisch) / Kerem Shalom (auf Hebräisch). Er wird von Israel kontrolliert. Wann, was und wieviel rein- und rauskommt liegt nicht in der Macht der Palästinenser.
Heute findet man kaum mehr Blumenbauern in Gaza. In Rafah, der Grenzstadt zu Ägypten und einstigen Hochburg für Gazas Blumen, finde ich einen, Salah Siyam. Er begann 2004 Blumen zu pflanzen, nachdem er infolge der graduellen Schließung des Gaza-Streifens seinen Job in Israel verlor. Mehr als 80 Gärtner habe es bis vor ein paar Jahren gegeben, sagt er. Die komplizierten Ausfuhrregulationen und die willkürliche Öffnung der Grenzen habe den Handel jedoch ruiniert.
Genau das sieht Ciro Fiorillo von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Jerusalem als eines der großen Hindernisse für den Export der Produkte aus Gaza. “Es gibt viele Regularien, angefangen bei der Größe der Verpackung, die zu den Schwierigkeiten beitragen”, sagt Fiorillo. “Manchmal kommen die Produkte am Grenzposten an, doch er ist geschlossen.” Es gebe kein Kühlsystem, um Obst, Gemüse oder Blumen frisch zu halten. Die Ware verfällt. Siyam, der Blumengärtner, sagt, das sei der Grund für die Holländer gewesen, den Import aus Gaza zu beenden. “Unsere Blumen kamen verwelkt in Europa an – wer will schon kaputte Blumen, die noch dazu teurer sind als die anderen?”
Fiorillo von der FAO sagt, es müsse nachhaltig investiert werden, um Gaza wieder wirtschaftlich autonom zu machen. Durch die Blockade ist Gaza in den vergangenen Jahren in ein prekäres Abhängigkeitsverhältnis gerutscht, das in Zeiten einer Eskalation zum Zusammenbruch der Versorgungslage führt.
Wie in diesem Sommer.
Laut UN waren bereits vor dem Krieg 57 Prozent der in Gaza lebenden Palästinenser auf Nahrungshilfe angewiesen. Im Krieg stieg die Zahl laut palästinensischer Autonomiebehörde auf fast 71 Prozent. Der Grenzübergang war nur sporadisch geöffnet, und die Familien, die sich selbst hätten versorgen können, hatten durch die Kämpfe keinen Zugang zu ihren Feldern, Obstbäumen oder Viehställen.
Ein Teufelskreis. Denn das Ende des Krieges bedeutete nicht automatisch das Ende der instabilen Versorgungssituation. Die Ernte fiel kleiner aus, die Fläche der kultivierten Felder hat sich reduziert. Ein Beispiel: Vor 2007 wurden beispielsweise auf 2,5 Quadratkilometern Erdbeeren kultiviert – heute sind es nur noch knapp 600.000 Quadratmeter. Durch den Krieg ist ein Teil davon ungenießbar geworden.
Die Bauern stecken in einem Dilemma: Um keine Verlust zu machen, müssten sie ihre Ernte eigentlich zu höheren Preisen exportieren. Doch das liegt nicht in ihrer Macht. Die Folge: Die Preise auf den lokalen Märkten steigen. Der Preis eines Kilos Tomaten ist in diesem Jahr von umgerechnet 20 Cent auf 90 Cent gestiegen. Das Kilo Kartoffeln von 30 auf 50 Cent. Auch die Erdbeeren werden in diesem Jahr teurer als sonst: Normalerweise kostet das Kilo einen Euro. In diesem Jahr kostet es 1,50 Euro.
Um die Situation zu entspannen, muss die internationale Gemeinschaft weniger Nothilfe leisten und dafür mehr nachhaltig investieren. “Gaza hat alles, um sich selbst zu versorgen”, sagt Fiorillo. Die Industrien müssten wieder aufgebaut werden, und anschließend müsste die Ausfuhr vereinfacht werden.
Dennoch sieht Ciro Fiorillo von der FAO Licht am Horizont. In den vergangenen Wochen habe sich die Situation am Grenzübergang verbessert. Zum ersten Mal seit 2007 dürften die Bauern ihre Ware ins Westjordanland ausführen. Zwar zunächst nur in kleinen Mengen, bisher sind ein paar Dutzend Lastwagen über die Grenze gekommen. “Das ist noch keine Revolution, aber ein sehr wichtiges, positives Zeichen.” Vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung.
Trotzdem ist Ahmad Filfil nicht glücklich, als er endlich ernten kann. Zwei Wochen nach dem ersten Besuch sind die Plastikplanen weg, die Felder strahlen in Grün, überall blitzen rot die Erdbeeren hervor. Die Farbe stimmt, der Geschmack, die Größe, vorige Woche passierten sie den Qualitätstest in Israel, jetzt sind sie fertig für die Welt.
Die Erlaubnis, seit sieben Jahren zum ersten Mal wieder ins Westjordanland zu exportieren, entschädigt nur geringfügig für den Schmerz, den er empfindet. “Ja, ja, die Farbe und der Geschmack und die Größe, das alles ist schön und gut”, grummelt Ahmad Filfil. Er und seine Frau sitzen im Schuppen neben den Feldern, der süße Geruch von Erdbeeren erfüllt den Schuppen. “Die Preise sind zu niedrig”, sagt Filfil. In diesem Jahr zahle die israelische Firma, über die die Bauern exportieren, knapp drei Euro pro Kilo. Im vergangenen Jahr habe der Preis bei fünf Euro gelegen. Er macht den Israelis keinen Vorwurf, sie müssten ja schließlich auch ihr Brot verdienen.
“Wir haben den Anschluss an die Welt verloren”, sagt der 60-Jährige betrübt. “Wir wollen exportieren, doch wir sind zu spät dran, die anderen Länder sind mal wieder schneller.” Sie bestimmen den Preis, die Bauern in Gaza ziehen hinterher.
Wenn sie Glück haben, sagt Ahmad Filfil, wird es an Weihnachten besser. Dann sind sie aus Gaza die Einzigen, die Erdbeeren liefern, vielleicht können sie dann den Preis beeinflussen. Blitzschnell sortiert er die roten Früchtchen: Die perfekten in die 250-Gramm-Packungen, die am nächsten Tag nach Russland gehen. Die nicht perfekten zurück in den Karton – für die Kilopackungen, die auf den Märkten in Gaza verkauft werden.
In der Ecke des Raumes stehen die abfahrbereiten Kartons, fein säuberlich sind die Erdbeerschälchen darin sortiert. Zehn Packungen à 250 Gramm. Morgen geht’s mit dem Flugzeug in die Welt.
Im Oktober reiste ich nach Gaza, um das Leben jenseits der schwarzen Fernsehbilder zu erkunden. Das Ergebnis ist eine Reihe von Geschichten, die in den vergangenen zwei Monaten entstanden sind, über Menschen und ihre Versuche, sich von der Situation nicht unterkriegen zu lassen. Weitere Folgen:
- Der Traum vom Leben
- Comedy in Gaza: lieber lachen als weinen
- Gazas Anti-Tourismus
- Gazas Smile Seller
- Foto-Essay: Aus dem Leben
Aufmacher-Bild: Ezz al Zanoon