Mit jedem Donner fahren die Gäste des Cafés kollektiv zusammen. Ein Mann am Nebentisch hält sich die Ohren zu, ein anderer fasst sich ans Herz, atmet mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Sie blicken sich um, vergewissern sich, dass die anderen auch so reagieren. Wie Kinder, die Gewitter fürchten.
Ein beeindruckender Sturm hat sich über Gaza-Stadt zusammengebraut, mit grellen Blitzen und schepperndem Donner. Der Wind schlägt in die Plastikplanen, die die offenen Fenster des Restaurants im elften Stockwerk bedecken. Es donnert wieder, diesmal heftiger. Neben mir rutscht der Fotograf Ezz al Zanoon nervös auf dem Stuhl hin und her. Oh, mein Gott, sagt er. Wie im Krieg.
“Genau so klangen die Panzer”, sagt er. “Die Hubschrauber und Flugzeuge waren noch lauter.”
Eigentlich freut man sich in Gaza, wenn der Regen kommt. Regen ist selten, ein Segen, und in diesem Jahr gab es noch nicht viel davon.
In diesem Jahr erinnert man sich nur an den unnatürlich heißen Sommer. Und damit automatisch an den Krieg.
Es sind Momente wie dieser Abend im „Level Up“, in denen man die Dimension des Traumas erahnen kann, das die Bevölkerung des Gaza-Streifens erlitten hat.
Jeder spricht vom Krieg. Vor allem vom letzten, den alle als anders beschreiben, als die vorhergehenden von 2008 und 2012. Der Krieg von 2014 dauerte 50 Tage, und keiner kann ihn vergessen.
Zwei Monate habe ich im Gaza-Streifen verbracht. Ich entschied mich für die Reise in den Nahen Osten, nachdem ich eine dreimonatige Sierra-Leone- und Liberia-Reise wegen Ebola vorübergehend verschieben musste. Bereits im vergangenen Jahr war ich eine Woche in Gaza. Das war nicht genug, um den Ort zu verstehen, den man vermeintlich kennt, weil er alle Jahre wieder Schlagzeilen macht.
Das Bild, das wir von Gaza haben, ist nicht schön. Googelt man “Gaza”, sieht man schreckliche Fotos: brennende Ruinen, zerfetzte und verbrannte Kinder, schreiende Menschen. Menschen, die schrecklich leiden.
Doch es gibt ein Leben hinter diesen Bildern von Zerstörung und Krieg. Auf den ersten Blick könnte man sogar denken, der Alltag ist wieder eingekehrt in Gaza-Stadt: Morgens sieht man die Erwachsenen zur Arbeit hasten, mittags die Kinder in blau-weiß-gestreiften Schuluniformen von der Schule nach Hause schlendern. Freitags, am Ruhetag, gibt es nach dem Gebet frischen Fisch oder Makluba, ein traditionelles Reisgericht, danach starken Kaffee zur Verdauung, und abends verfolgt man mit Freunden und Familie gebannt, ob Haitham, der palästinensische Vertreter bei „Arab Idol“, es in die nächste Runde schafft. Es wird viel gelacht in Gaza.
Doch nach einigen Wochen spürt man die Schwere in den Herzen der Menschen. “Wir sind am Leben, aber wir leben nicht”, sagt Ahmed Baluscha, ein 25 Jahre alter Journalist und Social Media Aktivist aus dem Norden des engen Landstreifens. Er arbeitet für eine ägyptische Zeitung und für eine libanesische Organisation für Pressefreiheit. Auf Facebook postet er satirische Kommentare über den Alltag in Gaza, er ist einer von vielen begabten Kreativen, Dichtern, Tänzern, Malern, die ich hier kennengelernt habe.
“Man kann nicht mehr träumen in Gaza.” Wir spazieren auf der Haupteinkaufsstraße der Stadt, Rimal. Es ist ein Donnerstagabend, und ganz Gaza ist unterwegs. Er habe das vermisst während des Krieges, Freunde zu treffen, im Café zu sitzen, Rimal auf und ab zu gehen. “Wozu noch träumen? Egal, was man plant, immer kommt etwas dazwischen.” Ein Krieg, ein Machtwechsel, ein Terroranschlag.
Ahmed Balousha träumte vom Reisen. Vom Studieren im Ausland, von der Möglichkeit, nach dem Studium eine Karriere als Journalist zu starten. Von 24 Stunden Strom, einem eigenen Auto, normalem Leben.
Er sei von einem Gefühl der Schwere befallen, sagt Baluscha. “All diese Kriege, sie haben etwas mit uns gemacht, sie lasten auf unseren Körpern und Seelen.” Er schreibt jeden Tag, versucht der Situation mit schwarzem Humor zu trotzen. Doch seit dem letzten Krieg sei er müde. “Wie die Batterie meines Handys. Ich habe das Gefühl, ich müsste meine Batterie aufladen, aber das geht hier in Gaza nicht.” So wie die Handys ständig unaufgeladen bleiben, weil nie lange genug Strom da ist, habe sein Körper nie genug Energie.
Nachts könne er nicht schlafen, weil der Generator des Nachbarn so laut rattere. Die Menschen, die es sich leisten können, haben die Maschinen, um die stromlosen Stunden zu überbrücken. Baluscha hasst die Generatoren, die abends Gazas Geräuschkulisse bestimmen. Sein Nachbar hat ein Falafelgeschäft.Nachts, wenn der Strom ausfällt, springt der Motor an, der genau hinter der Wand steht, an der er schläft. “Jede Nacht schlafe ich zum Rattern des Generators ein.” Er macht eine kurze Pause, bricht dann in Lachen aus: “Wenn der Strom wiederkommt und der Generator ausgeht, höre ich plötzlich ein Fiepen im Ohr, als würde etwas fehlen. Plötzlich fehlt mir das Geräusch des Generators.” Das sei Gaza, sagt er und lacht.
Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit habe sich in der Gesellschaft breit gemacht, sagt Hasan Zeyada, der Leiter des Trauma-Zentrums in Gaza-Stadt. Alle seien traumatisiert, sagt der Psychologe, auch er selbst. Acht Familienmitglieder habe er im letzten Krieg verloren, darunter seine Mutter. “Wir versuchen die Menschen zu behandeln, aber alle drei Jahre fangen wir wieder bei Null an.”
Solange die Situation sich nicht ändere, könne das Trauma nicht geheilt werden. “Momentan reden wir nur von Erholung vom Trauma, aber nicht von Heilung.” Betroffen sei jeder in Gaza, vor allem die Kinder.
Der letzte Krieg sei deshalb so schwerwiegend gewesen, weil er sich gegen alle gerichtet habe, nicht nur gegen die politische Führung. “Keiner war sicher, alle fürchteten um ihr Leben, ihre Angehörigen, ihr Haus.”
Und diese Angst bleibt.
Die Kampfflugzeuge der Israelis haben den Himmel über Gaza bis jetzt nicht verlassen. Ein ständiges Surren liegt in der Luft, die israelischen Drohnen überwachen jede Bewegung im Streifen.
Am Abend nach dem Terrorattentat in einer Synagoge in Jerusalem sitze ich im Wohnzimmer der Familie, bei der ich zu Gast bin. Es ist ein kleines Haus in einer engen Straße in Gaza-Stadt. Wie fast jede Nacht ist auch diese eine schwarze, stromlose Nacht, in der nur die batteriebetriebenen Lampen schwaches Licht spenden, hässlich und weiß. Die Menschen in Gaza haben derzeit zwischen sechs und acht Stunden Strom am Tag. Das bestimmt den Tagesablauf: Kommt der Strom nachts, schläft man tagsüber, um nachts zu lernen, zu arbeiten, im Internet zu recherchieren.
Dann hören wir die Flugzeuge, die die Schallmauer durchbrechen.
“Welcome back, F-16”, sagt Abier, eine der Schwestern der Familie. Als hätte sie das Donnern vermisst, so wie Ahmed Baluscha den Lärm des Generators.
Aufmacherfoto: Victoria Schneider: Ahmad Baluscha auf dem Balkon einer lokalen Radiostation
Im Oktober reiste ich nach Gaza, um das Leben jenseits der schwarzen Fernsehbilder zu erkunden. Dies ist eine Reihe von Geschichten, die in den vergangenen zwei Monaten entstanden sind, über Menschen und ihre Versuche, sich von der Situation nicht unterkriegen zu lassen.
- Der Traum vom Leben (dieser Beitrag)
- Gazas Anti-Tourismus
- Das Erdbeer-Dilemma
- Gazas Smile Seller
- Foto-Essay: Aus dem Leben