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In der letzten Vitrine des Museums ist ein Büchlein ausgestellt. Es ist das Tagebuch eines zehnjährigen Mädchens von 1936. Sie schrieb in dem kleinen Notizbuch auf, was sie auf der größten Eisenbahnreise erlebte, die sie je unternommen hat, von ihrem Zuhause in Chan Yunis, im südlichen Teil des Gaza-Streifens, nach Damaskus.
Eine große Landkarte darüber zeigt die Reiseroute des Mädchens auf: Ganz unten links beginnt die gestrichelte Linie in Chan Yunis, läuft über Gaza, Tel Aviv und Haifa an der Mittelmeerküste entlang nach Beirut, wo sie 90 Grad abbiegt in Richtung Damaskus.
“Sie beschreibt die aufregende Bahnfahrt, die Hotels und Restaurants, in denen sie war, die Gärten und Blumen, die sie gesehen hat, alles in bezaubernder Kindersprache”, sagt Yasmeen Khoudary, die Managerin des Museums. Sie wolle das Büchlein transkribieren, den Text aus dem Arabischen übersetzen und neben das Original stellen.
“Vor 80 Jahren konnten die Menschen von Chan Yunis nach Damaskus mit dem Zug fahren. Ohne Erlaubnisscheine oder irgendwelche Dokumente, ohne Pässe, Zäune und Rafah-Grenzübergange.”
Davon kann die 25-Jährige heute nur träumen. Wäre diese Bahnfahrt möglich, kämen wahrscheinlich mehr Touristen in das archäologische Museum, das ihr Vater 2008 hier eröffnete. Sie würden in dem luxuriösen Hotel übernachten, das zwei Jahre später hinzukam und das Yasmeen Khoudary seit Anfang des Jahres managt. Sie würden am Abend im Restaurant mit Panoramablick aufs Mittelmeer den Fang des Tages bestellen, und am nächsten Morgen frische Oliven und dampfendes Pitabrot mit Du’a frühstücken, einem speziell in Gaza hergestellten Thymiangewürz. Sie könnten den lokal produzierten Kaffee probieren, und wenn ihnen die schwarze arabische Mischung mit der Note Kardamom nicht schmeckt, gibt es auch Espresso, Cappuccino und Filterkaffee.
Doch sogar wenn es in Chan Yunis noch einen Bahnhof gäbe, die Reise des Mädchens würde fünf Kilometer nördlich des Mathaf Hotels enden. Dort ist die Grenze des Gaza-Streifens mit Israel. Seit 2007 kann sie niemand ohne Sondererlaubnis passieren.
Es ist Frühstückszeit. Ein Brunnen plätschert in der Mitte des offenen Restaurants des Mathafs, in das man vom Museum durch die farbig verzierte Lobby gelangt. Es läuft Fairuz, die bekannte Sängerin aus dem Libanon, Fairuz hört man in ganz Nahost am Morgen. Das Restaurant ist leer, bis auf einen Platz an der Fensterfront ist kein Tisch besetzt.
“Keiner kommt nach Gaza, um sich einfach mal die Stadt anzuschauen”, sagt Khoudary. Das liegt zum einen an den Reisebeschränkungen: Der Erez-Grenzübergang im Norden nach Israel ist nur für einige wenige geöffnet. Der Rafah-Grenzübergang nach Ägypten, den theoretisch jeder nutzen kann, ist seit der Machtübernahme Abdel Fatah Al-Sisis in Ägpten nur sporadisch geöffnet. Seit den Attacken im Sinai vor zwei Monaten ist Rafah komplett geschlossen.
Khoudarys Schwester, die mit ihr zusammen das Hotel managt, saß bis vor zwei Wochen in Kairo fest, zusammen mit tausenden weiteren Palästinensern, denen von ägyptischer Seite die Heimreise verwehrt wurde. Schließlich öffneten die Behörden den Übergang für zwei Tage, um gestrandete Gazawis zurück in den engen Landstreifen zu lassen. Jetzt ist die Grenze wieder zu.
Als Rafah offen war, war die Situation zwar nicht optimal, aber besser. Sie hatten einen syrischen Soap-Opera-Schauspieler im Haus, eine berühmte palästinensische Band aus einem der libanesischen Flüchtlingslager – das Hotel war voll, Menschen kamen aus ganz Gaza, um Fotos mit den Stars zu machen. “Wir hatten Jimmy Carter hier, er übernachtete nicht, er pflanzte einen Baum im Garten.” Jetzt machen sie nur mit dem Restaurant ein Geschäft, besonders lukrativ ist das jedoch nicht.
“Und dann gibt es eben die Kriegssaison.” Doch davon spricht Yasmeen Khoudary nicht gerne. Auch wenn im Krieg der Hotelbetrieb so läuft, wie er eigentlich laufen sollte: Im Krieg sind Gazas Hotels voll.
„Wenn das der einzige Weg ist, brauchen wir kein Geld“
“Man kann in Gaza nur Geld machen, wenn etwas Schreckliches passiert. Wie dieser letzte Krieg, oder der Krieg davor, oder der Krieg davor”, sagt Osama Abu Middain, Manager des Deira Hotels. Übertrieben laut pustet er den Rauch seiner Zigarette aus, starrt ins Leere. “Es bringt dich um. Wenn das der einzige Weg ist, Geld zu machen, dann brauchen wir das Geld nicht.”
Abu Middain sagt, er sei nicht depressiv, doch besonders gute Laune hat er schon lange nicht mehr gehabt. Ihm macht es nichts aus, vom Krieg zu sprechen, er hat die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Ihn mache das schon lange nicht mehr traurig: “Ich bin Realist, ich sehe die Lage wie sie ist. So wie eins plus eins zwei ist - das weiß ich. Aber hier versuchen die Leute mir zu erzählen, eins und eins ist fünf.”
Er übernahm das bekannte Hotel vor einem Jahr von einem Freund, der kurz vor dem Bankrott war. Es ist ein kleines Juwel direkt am Strand von Gaza-Stadt. Kunstvoll und antik eingerichtet, die Übernachtung kostet 100 US-Dollar respektive 150 US-Dollar für eine Suite. Im Krieg verdoppelt sich der Preis. Er mache das nicht fürs Geld, und außerdem verdiene er mit dem Restaurant, nicht mit den Zimmern. Für junge Leute sind Hotels wie das Deira ein beliebter Ort zum Ausgehen. Vor allen an Donnerstagabenden ist das Restaurant voll. Kaffeetrinken und Wasserpfeiferauchen sind die beliebtesten Freizeitaktivitäten im Land.
Im Krieg ist das Deira der erste Anlaufort für Journalisten geworden. Warum, weiß keiner so genau, vielleicht wegen der zentralen Lage und dem Meeresblick, vielleicht wegen des guten Essens. Vielleicht wegen der Sicherheitsgarantie. Die meisten Hotels in Gaza sind sicher, das Deira war eines der ersten, das das so genannte Security Clearing - so nennen das die Manager der Hotels - der Israelis bekam. Ein kleiner Kasten auf dem Dach sendet der Armee die Koordinaten für das GPS-System: Hier wird nicht angegriffen.
Wie nah die Realitäten von Security Clearing und Nicht-Security Clearing im Krieg beieinander liegen können, hat der Vorfall der Bakr-Kinder gezeigt: Der Raketenangriff der Israelis, bei dem vier Fußball spielende Kinder starben, spielte sich am Strand vor dem Deira Hotel ab.
Es ist eine absurde Realität, dass Hotels in Gaza das beste Geschäft in Zeiten von Blutvergießen und Leid machen. Und dass es auch in den Phasen, in denen kein Krieg herrscht, kein Minusgeschäft ist. Die Dutzende an Nichtregierungsorganisationen, die seit Jahrzehnten versuchen, dem Streifen zu helfen, buchen die Hotels für Konferenzen und Workshops.
Osama Abu Middain hat trotzdem die Schnauze voll. Vor allem von der eigenen Regierung. “Vor fünfzehn Jahren gab es normales Leben in Gaza”, sagt er. “Man konnte feiern, wann man wollte, konnte trinken, was man wollte, konnte zur Moschee gehen, wenn man wollte. Sex haben, wenn man wollte.”
Er zeigt auf das Che-Guevara-Porträt über seinem Kopf: “Ich bin Atheist, das ist mein Gott.” Er bekommt jedes Jahr ein Schengenvisum, hat eine Firma in Deutschland und plant, ein Hotel in Spanien zu eröffnen. Er habe die beste Zeit seines Lebens in Gaza verbracht. Zwischen 1998 und 2002. Nach der zweiten Intifada - dem gewaltsamen Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis in den Jahren 2000 bis 2005 - änderte sich alles schlagartig, mit den Sanktionen gegen den Gaza-Streifen und der graduellen Schließung der Grenzen. Mit der Machtübernahme der Hamas 2006 wurde Gaza komplett abgeschottet. Von außen und von innen.
“Gaza hat keine Zukunft”, das sagt Osama Abu Middain vier-, fünfmal während meines Besuchs. Nicht mal der Blick aus dem Fenster kann ihn aufmuntern. Er hat die Nase voll. “Nichts ist normal hier.”
Jahrtausende alte Geschichte
Dabei ist so vieles da, was Touristen potenziell anlocken könnte: Es gibt historische Stätten zu besuchen, wie man sie nur in Gaza findet. Christen, Juden, Muslime, alle waren hier. Kanaanvölker, die Philister, Alexander der Große, die Römer, die Mamelucken, sie alle haben in Gaza ihre Spuren hinterlassen. Die große Omari Moschee, einst eine Kirche, wurde um 1100 gebaut, die Saint Porphyrius Kirche wurde im fünften Jahrhundert gebaut. Im Süden von Gaza-Stadt liegt ein altes Kloster. Archäologische Funde gehen bis zum Bronzezeitalter zurück.
Es gibt dutzende Luxushotels in Gaza, die meisten reihen sich an der Strandpromenade aneinander, die gerade neu gebaut wird. Es gibt gemütliche, heimelige Hotels wie das Marna Haus, das versteckt hinter Bäumen im Herzen der Stadt liegt, es gibt große kommerzielle Hotels wie das „Arcmed Al Mashtal Hotel“, das aussieht wie ein Clubhotel in der Karibik. Und es gibt das Mathaf, das innen aussieht wie ein Palast aus 1001 Nacht, aber eigentlich gar kein Hotel sein will.
“Es ging meinem Vater um das Museum, das ist viel wichtiger als das Hotel.” Es liegt der Familie Khoudary am Herzen, die Geschichte Gazas zu konservieren und nach außen zu tragen.
Ihr Vater begann seine Sammlung 1987, er fand einen islamischen Glasring, den er um den Hals trug und seiner künftigen Frau zur Verlobung schenkte. Seine Sammlung wuchs über die Jahre: Glas, Porzellan, Marmor, Kunst, Glas.
3.500 Jahre alt sind die ältesten Stücke, die Yasmeen Khoudarys Familie im Mathaf Museum ausstellt. Hinter einer Glaswand am Ende des Museums stehen Tonkrüge aus verschiedenen Ländern. „Diese Karaffe kam aus Rhodos, das haben die Archäologen aus Jerusalem am Stempel erkannt.” Der letzte der Krüge in der Reihe ist aus Gaza. “Es ist der fragilste von allen, hier nutzte man sie für Wein. Sie mussten eine bestimmte Art Lehm nehmen, um den Wein zu lagern.” Gaza sei die letzte Stadt der Region gewesen, die zum Christentum konvertierte.
Yasmeen Khoudary streicht einfühlsam über das polierte Glas. Sie bleibt vor einer leeren Ausstellungswand stehen. “Hier wollten wir die delikaten Funde hinsetzen … aber die Aufsteller sind im Krieg zerstört worden – die Werkstatt wurde von Raketensplittern getroffen.” Sie seufzt. Das Museum sei immer noch nicht fertig. Die vielen Kriege. Alle Jahre fangen sie wieder ein bisschen von vorne an. Hoffend, dass vielleicht doch irgendwann mal alles ganz normal wird.
Der Text wurde gesprochen von Juliane Neubauer von detektor.fm
Im Oktober reiste ich nach Gaza, um das Leben jenseits der schwarzen Fernsehbilder zu erkunden. Das Ergebnis ist eine Reihe von Geschichten, die in den vergangenen zwei Monaten entstanden sind, über Menschen und ihre Versuche, sich von der Situation nicht unterkriegen zu lassen. Weitere Folgen: