„Ich bin keiner von der Softie-Fraktion“
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Interview: „Ich bin keiner von der Softie-Fraktion“

Cem Özdemir ist seit letztem Jahr wieder im Bundestag, doch schon seit mehr als 20 Jahren Politiker: 1994 wurde er erster Abgeordneter türkischer Herkunft. Bei Jung & Naiv spricht der Parteivorsitzende der Grünen über seine Ideale von heute und damals, Einbürgerungsprobleme, die wachsende Islamophobie in Deutschland und seine andauernde Naivität.

Profilbild von Interview von Tilo Jung

http://youtu.be/2r3I-OIg0cY

Cem, was machst du?

Ich bin Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und noch Bundestagsabgeordneter.

Warum gleich beides?

Das hat sich so ergeben.

Seit wann bist du im Bundestag?

Bundestagsabgeordneter war ich schon mal 1994, da war ich der erste Abgeordneter türkischer Herkunft. Jetzt bin ich es wieder seit letztem Jahr. Und Parteivorsitzender bin ich seit Ende 2008.

Seit 1994 bist du im Bundestag…?

Nein, nicht ununterbrochen. Von 1994 bis 2002. Dann war ich mal im Europaparlament und jetzt bin ich wieder im Bundestag aus dem Wahlkreis Stuttgart.

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Vor 20 Jahren bist du in die Politik gegangen?

Noch früher sogar. Ich bin mit ungefähr 15 bei den Grünen eingetreten und habe schon in der Schule angefangen, mich für Politik zu interessieren. Bin Klassensprecher, Schülersprecher gewesen und habe darüber angefangen.

Frank Suffert

Sind deine Ideale von damals, als du angefangen hast, noch dieselben wie heute?

Im Großen und Ganzen eigentlich ja. Es hat sich manches zum Positiven verändert. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass wir mal den Ausstieg aus der Atomenergie beschließen. Da hat sich wahnsinnig viel verändert. Vieles von dem, was wir damals gesagt haben, war am Rand der Gesellschaft, wir wurden dafür verlacht. Dass wir nicht mehr konsumieren als uns zusteht, dass künftige Generationen immer noch die gleichen Chancen haben alle Tier- und Pflanzenarten kennenzulernen, die ich noch kennenlernen kann. Ob alle Menschen auf der Erde sauberes Wasser bekommen, ob sie in einer Welt leben, wo es hoffentlich keine Kriege mehr gibt, wo alle in Freiheit und Demokratie leben können. Das hat sich nicht grundlegend geändert.

Gibt es heute neue Sachen, die du damals noch nicht gewollt hast, die du aber heute willst?

Eher andersrum: Was ich damals wollte und was sich heute zum Teil erfüllt hat. In der Stadt, in der ich geboren wurde, Bad Urach, dort gab es eine Eisenbahnstrecke. Die ist meine Mutter früher gefahren, wenn sie zur Fabrik fuhr und ich durfte als kleines Kind mitfahren. Irgendwann ist die Eisenbahnstrecke eingestellt worden, weil CDU, CSU und FDP gesagt haben: Zug fahren, das braucht man nicht, das ist Kommunismus. Man fährt halt Auto und wer sich kein Auto leisten kann, soll halt Bus fahren. Und Eisenbahn war irgendwie uncool und out. Es sollten sogar die Gleise herausgerissen werden, was wir mit Müh und Not verhindert haben. Da sollte eine Straße drauf gebaut werden. Einige Leute, die für verrückt erklärt worden sind, haben in ihrer Freizeit Sonderzugfahrten gemacht zu besonderen Anlässen. Ein paar Mal im Jahr und ich durfte immer Schaffner spielen. Ich habe dann immer “Hauptbahnhof Bad Urach, alles bitte aussteigen” gesagt. Tolle Geschichte.

Der Zug fährt heute wieder von Urach und ich kann theoretisch von Berlin bis zu meiner Geburtsstadt mit dem Zug fahren. Mit ein paar Mal umsteigen, aber der Zug fährt. Und sollten wir nächstes Mal im Bund regieren, können wir sogar dafür sorgen, dass die Kommunen und Kreise soviel Geld bekommen, dass die Strecke elektrifiziert wird und dann könnte man ein paar Ausweichstrecken schaffen, sodass der Zug in der Gegenrichtung vorbeifahren kann. Und dann gibt es einen richtigen super Taktverkehr. Und die ganzen Schüler, Studenten und was weiß ich müssen dann nicht mehr wegziehen, wenn sie fertig sind mit der Schule, sondern können auch dort im ländlichen Raum bleiben, weil sie in kürzester Zeit in Tübingen, Reutlingen und Stuttgart sind.

War es dein persönlicher Erfolg, dass die Strecke wieder da ist?

Es war ein Beispiel dafür, dass wenn die Mehrheit sagt: Das ist Blödsinn! Dass es trotzdem nicht so sein muss. Zweitens ist es ein Beispiel dafür, wenn sogenannte Experten, die alles ganz kluge Leute sind, studiert haben und so, sagen: Das rechnet sich nicht, das ist wirtschaftlicher Blödsinn, Zugfahren ist irgendwie Quatsch - dass sich das trotzdem als falsch erweisen kann.

Ein ähnliches Beispiel ist ja Atomenergie. Mein Erdkundelehrer hat uns immer erklärt: Ohne Atom geht es nicht, sonst gehen die Lichter aus und dann hat er mal die steile These aufgestellt, wenn es mal ganz mega super gut läuft, dann kriegen wir in Deutschland drei Prozent erneuerbare Energien, aber das ist ein Optimalstszenario, was sehr unwahrscheinlich ist. Heute haben wir 25 Prozent erneuerbare Energien, die Atomkraftwerke werden abgestellt und sogar die Schwarzen, also die Merkelpartei, war gezwungen, Nein zu sagen zur Atomenergie. Und das ist gemessen in der Zeit eine ziemliche Sensation. Und das zeigt, das einzelne Leute eine Menge bewegen können, wenn sie von einer Idee überzeugt sind, daran festhalten, Mitstreiter haben und gucken, dass sie für diese Idee werben und möglichst viele Leute von der Idee überzeugen.

Atomkraftwerke abschalten war also eine Idee der Grünen, wo du sagst, das hat sich irgendwann abgefärbt auf die anderen Parteien…?

Nicht nur der Grünen. Die Grünen haben es ins Parlament getragen und dann haben wir Schritt für Schritt die anderen Parteien überzeugt. Am Anfang, als ich bei den Grünen eingetreten bin, war die SPD noch für Atom. Das war einer der Gründe, warum ich nicht in die SPD bin. Die haben ihre Meinung geändert. Und dann spätestens nach der Flutkatastrophe in Japan und der Atomkatastrophe in Fukushima war dann auch die CDU gegen die Atomenergie und dann wurde zum zweiten Mal in Deutschland der Atomausstieg beschlossen. Wir hatten ihn ja schon mal beschlossen, als wir regiert haben. Das hat die Merkel dann ja wieder zurückgenommen und dann hat sie den Atomausstieg nochmal durchgesetzt. Doppelt hält besser.

Cem Özdemir mit Tilo im Paul-Löbe-Haus.

Cem Özdemir mit Tilo im Paul-Löbe-Haus. Frank Suffert

Wovon haben euch die anderen Parteien überzeugt?

Auch von manchem sicherlich. Ich sehe heute so aus, weil ich später beim Cro-Konzert in Stuttgart bin mit meiner Tochter, aber normalerweise laufe ich nicht so rum im Parlament. Da habe ich auch einen Anzug an. Das hätte ich früher sicherlich nicht gemacht. Das liegt einfach daran, dass so wie für meinen Vater der blaue Anton seine Arbeitskleidung war, wenn er in der Fabrik war und mit Öl und Splittern gearbeitet hat, so gehe ich halt in den Bundestag oder in die Partei und rede. Und da ist meine Berufskleidung halt der Anzug. Früher hätte ich das als spießig und angepasst abgetan. Heute merke ich: Klamotten helfen manchmal um einfach dafür zu sorgen, dass der andere einem zuhört.

Die Etikette ist wichtig?

Das sind halt die Spielregeln. Beim Interview gibt es ja auch Spielregeln, dass du so ein komisches Teil in der Hand hältst und dort ist ne Kamera. Und so ist halt in meinem Job eine der Berufsregeln, dass man einigermaßen schauen sollte, dass man dazu beiträgt, dass die Leute das hören, was ich sage und nicht auf das schauen, was die Verpackung ist. Und wenn es hilft, dass ich einen Anzug trage, dann mache ich es halt in Gottes Namen.

Hast du trotzdem noch das Gefühl, dass die Leute dich anschauen… und deine Herkunft sehen?

Die kann ich mit einem Anzug nicht wechseln. Die Haarfarbe bleibt, der Name bleibt, die Religion und Herkunft bleibt. Ich habe das Gefühl, das hat sich zum Positiven verändert. Als ich 1994 in den Bundestag gewählt worden bin, war es noch etwas ganz außergewöhnliches: der erste Mensch mit Migrationsgeschichte beziehungsweise mit Migrationshintergrund wie man heute so schön dazu sagt. Da haben viele so geschaut: Hat der denn seine Wasserpfeife dabei? Wer weiß, was drin ist!

Im Ernst?

Ja, die haben schon ein bisschen komisch geschaut. In der Presse war es eine Riesengeschichte, nicht nur hier, auch in der Türkei. Hat er seinen fliegenden Teppich dabei und vielleicht einen Sack, am besten ne Alditüte mit Kopftüchern drin für die weiblichen Abgeordneten und dann noch ein Beschneidungsmesser für die männlichen Abgeordneten? Es hat sich eigentlich im Laufe der Jahre sehr normalisiert. Mittlerweile kenne ich gar nicht mehr die genaue Zahl von Abgeordneten, die mit Migrationshintergrund im Bundestag sitzen. Es gibt sogar Abgeordnete von der CDU, früher unvorstellbar. Es gab die ersten Minister und Ministerinnen mit Migrationshintergrund. Es gibt sogar jetzt ein paar in Baden-Württemberg und Berlin, Frauen überwiegend, was ich toll finde. Also das ist nicht mehr dasselbe.

Als ich mich einbürgern lassen habe, da war ich 18, das hat mich über zwei Jahre gekostet. Da war das noch etwas ganz Außergewöhnliches, eine Einbürgerung. Ich war auf dem Landratsamt, habe die Einbürgerungsurkunde bekommen und bin wieder gegangen. Jetzt neulich war ich im Bundespräsidialamt bei Bundespräsident Gauck und der hat eine Rieseneinbürgerungsfeier gemacht, hat den Leuten ihre Urkunde überreicht, Shakehand und dann wurde gesungen und gefeiert und es gab Sekt. Und ich dachte: Wow, bei meiner Einbürgerung war das nicht so, da hat mir kein Bundespräsident gratuliert. Da war ich froh, dass mir eine Mitarbeiterin vom Landratsamt die Urkunde überreicht hat. Es hat sich zum Positiven verändert und was wir jetzt noch schaffen müssen, ist, dass ein gemeinsames Wir entsteht: das Wir, die Bundesrepublikaner oder wie immer man uns nennen möchte, die hier leben. Die einen haben Vorfahren, die kommen aus Anatolien, die anderen haben Vorfahren, die kommen aus Kasachstan und die dritten, ich weiß ja nicht, wo deine Vorfahren herkommen, die haben vielleicht schon in der Schlacht vom Teutoburger Wald gegen die Römer mitgekämpft. Jedenfalls leben wir hier jetzt gemeinsam und ich finde es eigentlich ganz cool hier. Wir sollten uns alle gemeinsam dafür einsetzen, dass dieses Land, das schon ein relativ gutes ist, noch besser wird. Man sollte die Leute danach beurteilen, nicht wo sie herkommen, sondern danach wo sie hinwollen. Wenn wir das alle machen, dann wird das glaube ich ein ganz gute Geschichte.

Du meintest gerade „Einbürgerung“ - bist du nicht in Deutschland geboren?

Ich bin in Deutschland geboren, aber damals gab es noch kein Geburtsrecht - das haben wir eingeführt als wir regiert haben.

Kannst du das erklären?

In vielen Ländern wie Amerika, Frankreich, da ist man quasi mit der Geburt Staatsbürger. Bei uns galt: Deutscher ist, wessen Vorfahren Deutsche sind, also wer in seinen Adern deutsches Blut hat, wie immer das aussieht. So viel ich weiß, gibt es keine deutsche Blutsorte.

Vielleicht schwarz-rot-gold…

Wahrscheinlich. Damit könnte ich jetzt nicht dienen. Da musste ich mich eben einbürgern lassen und die Tatsache, dass ich hier geboren war, hat keinen Unterschied gemacht.

Du hast doch dein ganzes Leben hier gewohnt.

Nicht nur das. Ich hatte auch einen deutschen Schulabschluss. Ich war zwar früher ganz schlecht in Deutsch, hatte bis zur fünften Klasse immer eine Fünf, aber am Schluss war es dann doch ganz gut. Ich musste aber trotzdem beweisen, dass ich Deutsch kann. Obwohl ich einen deutschen Schulabschluss hatte, musste ich beweisen, dass ich meinen Lebenslauf schreiben kann. Das passiert übrigens auch Germanisten. Da gibt es Geschichten von Leuten, die Deutsch unterrichten, also Deutsche in ihrem Deutsch verbessern, ihre Fehler korrigieren, aber selber halt zum Beispiel griechischer Herkunft sind. Die mussten auch schon beweisen, dass sie schreiben können.

Ist das heute immer noch so?

Ja, das mit dem Lebenslauf ist immer noch so.

Und auch der Deutschtest?

Ja, nicht nur das. Man muss mittlerweile auch einen Test machen, dass man sich auskennt im Land. Da habe ich mich auch schon gefragt, ob den eigentlich alle Biodeutschen bestehen würden.

Ist eine Einbürgerung heute leichter oder schwieriger als zu deiner Zeit?

Das ist eine komplizierte Frage. Sie ist leichter und schwieriger zugleich. Das ist ein schönes Beispiel für Politik, das könnte man im Politikseminar super studieren. Als wir regiert haben, haben wir die Absicht gehabt, dass wir das Staatsangehörigkeitsrecht vereinfachen, dass wir das Geburtsrecht einführen, dass man nicht mehr 15 Jahren warten muss, bis man einen Rechtsanspruch hat sich einzubürgern, sondern schon nach acht Jahren. Damals war es aber so, dass die doppelte Staatsbürgerschaft leichter zu bekommen war, da wir aber unter anderem wegen dieses Gesetzes dann in Hessen die Wahlen verloren haben, war die Mehrheit im Bundesrat futsch. Und das Gesetz muss durch Bundestag und Bundesrat. Und da wir die Mehrheit in der zweiten Kammer nicht hatten, ist das Gesetz leider verschlimmbessert worden. Seither ist jetzt die Einbürgerung für viele schwerer geworden, beispielsweise für Menschen mit türkischer Herkunft. Die müssen ihren türkischen Pass aufgeben um Deutsche zu werden, sonst werden sie nicht eingebürgert. Wenn du aus Italien kommst, kannst du deinen italienischen Pass behalten. Der Grund ist: Italien ist Mitglied der EU, die Türkei ist es nicht. Wenn du aus dem Iran kommst, kannst du deinen iranischen Pass auch wieder behalten, weil der Iran dich nicht ausbürgert. In der Türkei könntest du theoretisch ausgebürgert werden. Also es ist kompliziert.

In einem anderen Land kann ich leben und drei Pässe haben. Und in Deutschland kann man am Ende, wenn man Deutscher ist, nur den deutschen Pass haben?

Ja, vielleicht kurz zusammengefasst: Ungefähr 50 Prozent derjenigen, die einen deutschen Pass beantragen, bekommen die doppelte Staatsbürgerschaft völlig legal. Die anderen 50 Prozent nicht. Das ist natürlich ein bisschen schwer zu erklären, warum die einen es bekommen und die anderen nicht. Ich finde, da fällt uns kein Zacken aus der Krone, wenn man da ein wenig gelassener damit umgeht wie die Amis. Die sagen: der amerikanische Pass ist der wichtigste.

Es gab gerade eine Umfrage, wo 96 Prozent der Deutschen gesagt haben, also Abstammung ist uns gar nicht mehr so wichtig, aber was wichtig ist: Man ist Deutsch, wenn man Deutsch spricht.

Ja, da ist sicherlich was dran.

Aber dann sind die Österreicher ja auch Deutsche…

…und ein Teil der Schweizer. Also die Sprache gehört dazu, das ist völlig klar. Ich finde, wer hier geboren ist und aufwächst, wer ins Land kommt, muss Deutsch können oder lernen. Bei der Generation meiner Eltern muss man ein bisschen genauer hinschauen. Das sind die Menschen, die in den 60ern gekommen sind. Damals gab es keine Sprachkurse für sie, das war auch gar nicht erwünscht, sondern die sollten am Fließband ihre Handgriffe machen, funktionieren, ihren Akkord, ihre Schichtarbeit machen. Und Deutsch lernen war nicht wirklich wichtig oder vorgesehen. Insofern muss man da ein gewisses Verständnis haben, wenn die Leute, die hier jetzt auch im Rentenalter sind oder schon älter, wenn die nicht so gut Deutsch können. Aber für alle anderen, die jetzt ins Land kommen, ist es natürlich wichtig. Wobei Integration nicht nur Sprache ist. Integration ist natürlich auch, dass man sich an die Verfassung und die Gesetze hält. Und das gilt für Zugewanderte aber auch für Deutsche, beispielsweise auch für Leute, die sich die Haare abrasieren lassen und mit Springerstiefel herumlaufen, auch die sollten sich an die Gesetze halten.

Kann ich Deutscher sein ohne Deutsch zu können?

Theoretisch ja, natürlich. Wenn du in Deutschland geboren bist und du lernst nicht Deutsch, kann man dir den Pass dafür nicht wegnehmen.

Man kann ihn mir nur nicht geben.

Genau. Du kannst ihn dann nicht bekommen. Du musst nachweisen, dass du Deutsch kannst. So ist es. Das galt übrigens auch für mich. Ich musste auch vom Schwäbischen ins Hochdeutsche kommen, damit ich eingebürgert werde.

Der Innenminister will jetzt wegen dem “Islamischen Staat” Pässe markieren und so weiter. Was hälst du davon?

Ich weiß nicht, ob man dafür eine Gesetzesänderung braucht. Man kann ja heute bereits Personalausweise zum Beispiel wegnehmen oder den Pass ersetzen durch ein anderes Papier, damit die Leute nicht ausreisen können und da kann man heute schon sehr viel machen. Das ist schon okay, dass er darüber diskutiert.

Aber ich finde, das lenkt ein bisschen ab davon, dass das eigentliche Problem ist: Wie kann es eigentlich passieren, dass Leute, die mit dir und mir zusammenleben, hier in dieser Gesellschaft aufwachsen, auf einmal radikalisiert werden durchs Internet, was auch immer - und dann gehen die nach Syrien, in den Irak und bringen dort Leute um, vergewaltigen Frauen, köpfen Kinder? Und das im Namen einer Religion von der sie meistens nullkommanull Ahnung haben. Die meisten sprechen kein Wort Arabisch, lassen sich irgendwelchen Schwachsinn erzählen und laufen dann hinterher und glauben das sei irgendwie ideal und sie müssten irgendeine Mission erfüllen. Damit sollte sich der Innenminister viel mehr beschäftigen: Wie passiert das? Das ist ja nicht nur bei uns. Das gibt es in anderen Ländern. Und vor allem: Was kann man dagegen tun? Wie kann man die Eltern unterstützen, wie kann man mit den Moscheegemeinden zusammenarbeiten, wie kann man gucken, dass man denen Angebote macht, damit sie sich nicht mit solch einem Schwachsinn beschäftigen, dass die vielleicht wirklich was über ihre Religion erfahren. Aber natürlich auch: Wie kann man dafür sorgen, dass die Türkei sie nicht einfach durchpassieren lässt?

Wird Religion in der Politik ausgenutzt?

Ich weiß nicht, ob es in der Politik ausgenutzt wird. Ich glaube, es gibt manchmal den Fall, dass Religion ausgenutzt wird durch Leute, die mit Religion nichts am Hut haben, die was ganz anderes wollen. Das gilt für viele sogenannte Islamisten, die den Islam benutzen. Das gab es früher auch im Christentum und im Judentum. Das gibt es leider in allen Religionen. Aber gerade ist es im Islam besonders krass. Und was es auch gibt und was mich sehr ärgert, ist dass man auf die Religion reduziert wird. Weder du noch ich haben sich die Religion ausgesucht, sondern das wird man per Geburt. Genauso wie man sich selten seine Eltern oder seine Sprache aussucht oder wo man geboren wird. Das ist irgendwie entschieden, wenn man auf die Welt kommt.

Frank Suffert

Bei der Religion kann man irgendwann sagen, wenn man erwachsen ist: Das ist jetzt nicht meins, ich werde Atheist…

Im Normalfall kannst du das. Auch das gilt nicht überall. Es gibt manche Länder, da kannst du für das Wechseln der Religion deinen Kopf verlieren. Das gibt es leider auch. Was mich ärgert ist, wenn man auf die Religion reduziert wird. Das ist ein wichtiges Merkmal von jemanden, aber das ist ja nicht das einzige. Außer dass du vielleicht Christ bist, bist du ein Mann, bist du jung, bist du hoffentlich VfB-Stuttgart-Fan so wie ich, bist Musikfan. Es sind verschiedene Dinge, die einen ausmachen. Religion ist da ein Bestandteil davon, aber nicht das einzige. Ich habe so das Gefühl, manchmal werden die Muslime auf den Islam reduziert, und das ist halt nicht das einzige, was einen ausmacht.

Und es gibt auch nicht den Islam, genauso wenig wie es die Christen oder die Juden gibt. Es gibt im Islam welche, die praktizieren so und andere praktizieren anders. Meine Mutter war noch nie in Mekka, aber sie würde sich als gläubig-praktizierend bezeichnen. Und das ist ihre Art ihre Religion zu leben. Und es gibt andere, die leben ihre Religion anders. Und weder kann man sagen, die einen haben recht und die anderen haben Unrecht. Sondern am schönsten ist es doch, wenn jeder einen mit seiner Religion so lässt, wie er ist, aber sich auch nicht einmischt beim anderen.

Hast du das Gefühl, dass in den letzten Jahren die Islamophobie zugenommen hat?

Ja. Ich habe zumindest das Gefühl, dass so ein Bild vom Islam zugenommen hat: Also der richtige Islam, das sind die, die Leute köpfen und Frauen knechten und Frauen tief verschleiert. Jetzt kenn ich aber Millionen, die nicht so sind. Das sind dann jetzt alles keine richtigen Muslime. Das heißt, die Mehrheitsgesellschaft hat ein Bild vom Islam, projiziert das auf die und sagt quasi: die Lady mit tiefen Schleier ist die richtige Muslima und der Typ, der vor ihr läuft, ist quasi der richtige Muslim.

Ich war einmal in einer Sendung, da saß ein Imam aus Leipzig. Dabbagh heißt der, den ich übrigens nie eingebürgert hätte, der hat einen deutschen Pass, den hat ein CDU-Innenminister eingebürgert, da lege ich sehr viel wert drauf. Die CDU hat den eingebürgert und lässt ihn überall auftreten und sagt: Guckt mal, da muss man doch was machen. Die geben solchen Leuten Pässe und schieben es uns dann in die Schuhe, aber das nur am Rande. Und dieser Typ gibt Frauen nicht die Hand, läuft immer mit so einem komischen Gewand herum, wo man die schön behaarten Beine sehen kann, ist ja auch ein toller Anblick, und hat immer einen Koran dabei und den verschenkt er dann nach einem Gespräch. Jeder Muslim läuft mit einem Gewand rum, jeder Muslim hat dicke behaarte Beine, die er zeigt und schüttelt Frauen nicht die Hand und hat immer den Koran als Geschenk dabei. Millionen von Zuschauern sehen das und denken: Aha, das ist der richtige Islam. Und der Özelbrötzel, also ich, das ist irgendwie so ein Fakemuslim, das zählt nicht wirklich. Da erzeugt man ein Bild bei den Zuschauern. Und zwar nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei den Muslimen. Das heißt, die deutsche Gesellschaft, die deutschen Medien sagen: das ist der richtige Muslim. Wenn du so bist, wie der Özdemir, bist du kein richtiger. Und das finde ich eigentlich falsch.

Man muss sich das mal andersrum vorstellen: Im türkischen Fernsehen gibt es eine Sendung über Deutschland. Da tritt dann die Partei Bibeltreuer Christen auf und die Christliche Mitte und Millionen von türkischen Zuschauern schauen sich das an und denken: Ah, so ist Deutschland. Und dann kommt vielleicht noch ein kleiner Beitrag über irgendwelche Rechtsradikalen: Das ist die deutsche Jugend. Und dann denken alle: Ah, so sind die Deutschen. Das würden wir, glaube ich, ziemlich zum Kotzen finden. Umgekehrt geht es mir auch so, dass ich das ziemlich daneben finde, wenn quasi ein bestimmtes Bild auf alle übertragen wird. Ich sage nicht, dass es das nicht gibt und damit müssen wir uns alle beschäftigen, aber das sind nicht die einzigen und nicht die Mehrheit.

Wenn es zum Beispiel bei Günther Jauch um den Islam geht, dann sitzt da natürlich ein Politiker, der muslimischer Herkunft ist oder so, also kein Fundamentalist. Und dann sitzt aber immer ein Imam, der als extreme Stimme dazugeholt wird. Warum ist das so? Warum casten die Medien so?

Das ist ja nicht nur das. Manchmal, kann man nachlesen, sagt man denen, dass die ruhig mal kräftiger zulangen sollen vom Auftreten her. Am besten bei der Kleidung schon, damit jeder genau sieht: Kinder einschließen! Achtung, der Islam kommt! Ich bin großer Fan des britischen Humors, ich bin großer Fan von Fawlty Towers. Wer Monty Python kennt, kennt auch Fawlty Towers. Und da gibt es eine Episode “Meet the Germans”, wo John Cleese ein Hotel managt und dann kommen junge Deutsche…

“Don’t mention the war!”…

Genau, sehr gut. Und das finden wir irgendwie nicht so cool, wenn man in England ständig auf die Nazis angesprochen wird. Das ist jetzt erstens schon eine Weile her und zweitens können die meisten Deutschen, die heute leben, gar nichts dafür. Die haben vielleicht Verantwortung, dass sowas nicht nochmal passiert, aber sie tragen keine Schuld. Wenn das ständig in der Sun und anderen Medien immer auf die Seite eins gebracht wird und ein Stereotyp entsteht, dass der Deutsche ein heimlicher Nazi ist und im Kleiderschrank immer noch die Naziuniform hat und wartet, dass er sie wieder tragen kann, finden wir das alle nicht so prickelnd. Ähnlich ist es halt, wenn man über den Islam ein anderes Bild macht. Nochmal: was nicht heißt, dass man nicht die Probleme ansprechen soll. Da bin ich der letzte, der das nicht machen würde. Ich bin ja derjenige, der im Nordirak, in Kurdistan war und dort wirbt dafür, dass man ISIS bekämpft und zwar auch militärisch. Ich bin keiner von der Softie-Fraktion. Bei Islamisten habe ich nullkommanull Toleranz. Gerade weil ich Muslim bin, will ich nicht, dass diese Banden den Islam hijacken und sagen, wie der Islam sein soll. Aber wir machen es denen auch leichter. Ohne Not. Wenn wir denen auch noch eine Propagandafläche bieten und quasi noch den roten Teppich ausrollen und sagen: Guckt mal, wenn ihr so seid, kommt ihr ins Fernsehen.

Hast du irgendeinen Beruf erlernt?

Hihi, nee. Nur Däumchen drehen. Ich bin gelernter Erzieher, das was man früher Kindergärtner nannte. Ich habe danach noch Sozialpädagogik studiert. Und zwischenzeitlich um meine Brötchen zu verdienen, wenn ich nicht irgendwo im Sommer gejobbt habe, in der Fabrik von meinem Vater oder sonstwo, habe ich noch als freier Mitarbeiter bei diversen Lokalmedien gearbeitet.

So habe ich auch angefangen.

Siehste. Und aus dir ist auch was geworden.

Das weiß ich nicht.

Die Frage stelle ich mir auch immer. Also über mich, nicht über dich.

Wie würde ein Sozialpädagoge das heutige soziale Deutschland beschreiben?

Puh, und das möglichst kurz…

Frank Suffert

Nö, kannst du auch lang machen.

Danke. Also gemessen an anderen Staaten sind wir natürlich ein Sozialstaat. Ich war 2003 eine Weile in den USA, da hatte sich jemand bei mir beworben, der ein Praktikum machen wollte und ich habe gesagt: Ich kann dich leider nicht aufnehmen, weil es dafür leider keinen Etat gibt. Und ich war ja selber dort Mitarbeiter und wenn ich einen Praktikanten beschäftige, hätte ihn mein Arbeitgeber bezahlen müssen. Der hat gesagt: In Amerika bezahlen wir die nicht, das ist ein Privileg, wenn du eine Praktikumsstelle bekommst. Ich habe gesagt: Das mache ich nicht, dann kann ich dich nicht nehmen. Dann hat er gesagt: Du hilfst mir mehr, wenn du mich nimmst. Denn wenn ich da drin bin, komme ich in das Netzwerk rein und habe dadurch eher die Chance einen Job zu bekommen.

Kontakte.

Genau. Und dann habe ich mitbekommen, dass der Fahrrad fährt und keine Krankenversicherung hatte. Ich dachte: Wenn der jetzt mal hinfliegt, richtig blöd, was ist eigentlich dann? Ist der finanziell ruiniert?

Auf dem Weg zu deinem Job…

Genau. Der hat kein festes Einkommen, keine Krankenversicherung. Vor Obama war das der Normalfall in Amerika und das fanden viele Politiker ziemlich normal: Pech gehabt, wenn du dir keine Krankenversicherung leisten kannst, dann ist das so. Da bin ich ganz froh, dass wir in Deutschland eine andere Philosophie haben und sagen, dass jeder eine Krankenversicherung haben muss. Auch diejenigen, die es sich sonst vielleicht nicht leisten könnten. Trotzdem haben wir auch Lücken im System. Bei uns ist es leider so, das sieht man jetzt in der großen Koalition, dass diejenigen, die am besten organisiert sind, am ehesten dann auch die Wohltaten des Sozialstaats bekommen. Und diejenigen, die nicht so laut sind, die man nicht so gut hört, Dauerarbeitslose, Langzeitsarbeitslose, Alleinerziehende mit Kindern beispielsweise, Erwerbsgeminderte, also Leute, die lange gearbeitet haben und dann eben durch körperliches Gebrechen durch die Schwere der Arbeit nicht mehr arbeiten können, das sind diejenigen, die oft auf der Strecke bleiben. Oder jetzt aktuell Leute, die durch die längere Lebenserwartung pflegebedürftig sind und ihr Leben lang nicht so viel verdient haben, das sind diejenigen die häufig auf der Strecke bleiben. Mein Eindruck ist: Es gibt da ein paar Risse im sozialen Netz, die man dringend schließen sollte.

Ist Deutschland heute ein besserer Sozialstaat als vor 20, 30 Jahren?

Also in vielen Fragen sicherlich ja. Viele würden sagen, dass durch die Agenda 2010, also durch die Reform der rot-grünen Jahre, manches in die Schieflage geraten ist. Ich würde das nicht pauschal sagen. Aber es ist sicherlich so, dass manches besser geworden ist, es gibt aber auch manche Lücken. Ich würde es vielleicht so zusammenfassen: Das größte Problem ist für aktive Politiker, sich nicht zu sehr davon beeinflussen zu lassen, dass die größte Zahl von Wählern immer älter wird. Und dass wir damit auch eine Schieflage in der Wählerschaft bekommen. Das heißt, das ist gerade für die großen Volksparteien, die jetzt gerade 80 Prozent im Bundestag haben und zusammen regieren, immer eine Versuchung, die Mütterrente, die Rente mit 63, einzuführen, die 160 Milliarden Euro bis 2030 kostet. Pro Jahr zehn Milliarden Euro oder wie man jetzt nachlesen kann, wahrscheinlich sogar noch mehr.

Aber gleichzeitig fehlt uns das Geld für Bildung, gleichzeitig haben wir noch nicht sicher gestellt, dass es in jeder Schule ein gesundes Mittagessen für jedes Kind gibt. Auch für die Kinder, die es sich nicht leisten können. Gleichzeitig haben wir nicht sichergestellt, dass wir in einem Land leben, wo der Geldbeutel nicht dazu führt, dass man vielleicht nicht den Schulabschluss bekommt, den man sonst bekommen könnte. Die Proportionen stimmen nicht so richtig bei uns. Das hat natürlich auch was damit zu tun, dass die einen eine stärkere Lobby haben als die anderen. Die einen haben den Deutschen Gewerksschaftsbund, siehe Rente mit 63, die anderen haben die Frauenunion in der CDU/CSU, siehe Mütterrente. Und beide tun sich dann zusammen und geben schlapp mal 160 Milliarden aus. Eigentlich Geld, das meinen beziehungsweise unseren Kindern gehört - und nicht uns.

Hast du damals für Hartz IV gestimmt?

Da war ich nicht im Bundestag, könnte ich jetzt sagen. Aber ich hätte dafür gestimmt.

War es mittlerweile ein Fehler?

Nein. Ich finde es nach wie vor richtig, aber es ist immer so, dass wenn du ein Gesetz machst, dass es ganz schnell, hopplahopp gemacht werden muss. Und dann musst du noch nächtelang verhandeln mit der CDU/CSU, weil im Bundesrat hast du keine Mehrheit. Dann kommt da viel raus, was man auch im Nachhinein besser hätte machen müssen. Nur um mal ein Beispiel zu nennen, das mittlerweile geändert wurde: Wir sagen alle, die Leute sollen für ihre Rente auch privat sparen und gleichzeitig hat man dann die Altersrückstellungen den Hartz-IV-Beziehern quasi wegnehmen wollen. Das passt irgendwie nicht zusammen. Und das sind halt so Sachen, die huschen in so ein Gesetz rein, wenn man es schnellschnell macht und dann irgendwie da ein Kompromiss und dort ein Kompromiss und da noch an einer Mehrheitsfähigkeit arbeitet, dann leidet manchmal die handwerkliche Sorgfalt bei dem Gesetz. Deshalb ist es gut, dass man Gesetze, das sollte man grundsätzlich machen, auf den Prüfstand stellt und schaut: Hat es sich eigentlich bewährt? Hat es den Zweck erfüllt? Oder hat es sich gar als Irrtum herausgestellt? Oder muss man nachjustieren? Und ich finde, da fällt einem kein Zacken aus der Krone, wenn man auch mal zugibt, dass wir da einfach handwerklich schlecht gearbeitet haben und es jetzt korrigieren müssen.

Was ist heutzutage grün? Wofür stehen die Grünen?

Im Grunde stehen sie noch immer für dieselben Grundanliegen, für die sie sich gegründet haben…

Atomausstieg… Pazifismus…?

Ja, der Atomausstieg und der Pazifismus sind ja keine Ziele, sondern das sind quasi Mittel. Aber das Ziel ist, wenn ich eines Tages mal aufhöre mit der Politik, dass dann hoffentlich meine Kindeskinder sagen: Jetzt wollen wir ans Ruder, jetzt mach mal Platz! Vielleicht sagen sie es auch etwas netter. Dass ich dann sagen kann, ich habe meinen Beitrag geleistet, dass der CO2-Ausstoß runterging, dass wir das mit dem Klimawandel nicht allzu sehr außer Kontrolle geraten lassen, dass es weniger Kriege auf der Welt gibt, dass es weniger Rüstungsexporte gibt, dass es gerechter zugeht. Dass auch bei uns im Land alle Kinder, ob reich oder arm, ob die Eltern Akademiker oder nicht Akademiker sind, einigermaßen ähnliche Chancen haben, dass ich meinen Beitrag dazu geleistet habe. Und das ist das, wofür sich die Grünen gegründet haben und das Thema, was sie von allen anderen unterscheidet.

Soziale Gerechtigkeit gibt es auch bei der SPD und in etwas radikalisierter Form bei der Linkspartei. Das Thema Wirtschaft und alles was im weitesten Sinne mit der Wirtschaft zu tun hat, gibt es auch bei der CDU und die etwas radikalisiertere Form war früher die FDP, heute würde man vielleicht zum Teil AfD sagen. Die einzigen, die das Thema Ökologie im Zentrum haben - also wie steht es um unseren Planeten? Welche Art von Landwirtschaft haben wir, ist es okay, dass wir Lebensmittel haben, die dazu beitragen, dass der Boden verseucht wird durch Nitrat oder gar Nitrit, dass unser Wasser verseucht wird, dass die Luft verpestet wird oder kann man das nicht klüger machen? - das sind die Grünen.

Solange die Grünen an dem Jahrhundertthema Ökologie immer festhalten und das immer im Zentrum haben, bin ich überzeugt davon, dass es uns auf Dauer sehr lange brauchen wird. Eigentlich müsste es das Ziel der Grünen sein, dass vieles von dem, was wir sagen, überflüssig wird, weil die anderen das übernehmen. Aber man merkt ja gerade beim Thema Energiewende, wie sehr es uns braucht, weil die CDU/CSU und SPD haben zwar kapiert, dass man aus Atom aussteigen soll, was sie nicht kapiert haben ist, dass Kohle kein guter Ersatz ist für Atom. Man hat den Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben. Bei Atom gibt es das Risiko einer Nuklearkatastrophe und den Atommüll, bei Kohle gibt es das Problem, dass du jeden Tag deine Luft verpestet und dafür sorgst, dass der Klimawandel beschleunigt wird, die Polarkappen schmelzen und wir Milliardensummen später mal ausgeben müssen. Mit einem Bruchteil des Geldes könnten wir heute die Energiewende machen. Es ist auch wirtschaftlich völliger Schwachsinn, was wir da machen. Dass wir Kohlekraftwerke aus der Zeit von Sepp Herberger am Netz halten, weil Bundeswirtschaftsminister Gabriel glaubt, die sind wichtig. Und gleichzeitig haben wir Stromexport ins Ausland und Überschuss und wissen nicht wohin damit. Das ist wieder so ein Beispiel für Lobby in der Politik, dass eben da die Kohlelobby über die Erzeugerseite einerseits und die Gewerkschaft anderseits auf CDU/CSU und SPD kräftig einwirken. Dann sagen die halt: Erneuerbare Energie und Energie sparen ist schon gut, aber unsere Kohlekraftwerke, die bleiben bitteschön.

Habt ihr Angst vor dem Image eine Verbotspartei zu sein?

Nein, Verbote sind ja auch sinnvoll…

Es gibt Verbote, die man anstreben kann.

Klar. Das Asbest-Verbot war sinnvoll, das hätte man eventuell früher machen sollen. Es wird auch in Zukunft Verbote geben. Verkehrsvorschriften haben schon ihren Sinn. Dass man nicht irgendwie sagt Laissez-faire… guckt wie man sich durchschlägt und wer den stärksten Wagen hat, kommt am Ziel an und die anderen haben halt Pech gehabt…

Für welche Verbote seid ihr denn?

Ich würde beispielsweise gerne dafür sorgen, dass die Zahl der Plastiktüten abnimmt, beispielsweise indem man sagt, man macht eine Abgabe. Wenn das nicht hilft, muss man irgendwann halt mal verbieten. Ich finde das keinen erstrebenswerten Zustand, dass ich, wenn ich im Mittelmeer schwimmen gehe, mittlerweile schon die Mikropartikel sehen kann. Das war in meiner Kindheit nicht so. Heute, je nachdem wie der Wind steht, sieht man das und das ist nur ein kleines Rinnsal dessen, was in den Weltmeeren ist. Da gibt es riesige, kilometerbreite Plastikteppiche.

Ist das wirklich Freiheit, dass wir Plastikteppiche bilden, dass die Fische das Zeug schlucken, dass wir das dann über den Nahrungskreislauf wieder aufnehmen? Meines Erachtens nicht. Da wird es noch eine Menge Verbote im Bereich Umweltschutz brauchen. Was wir aber gelernt haben, ist, dass wir Mittel und Ziele nicht verwechseln sollen. Das haben wir letztes Jahr nicht so geschickt gemacht. Stichwort: Veggie Day. Das Thema, was du isst und wann du was isst, das musst du schon selber entscheiden. Mein Job als Politiker ist es, dafür zu sorgen, dass die Schweinerei aufhört im wahrsten Sinne des Wortes, dass wir Millionen von Hühnern und ungezählte Schweine im Stall haben. Und weil die so eng zusammen stehen und so gestresst sind und nicht artgerecht gehalten werden, muss man dann dazu greifen, dass man denen Antibiotika und Sachen gibt, die da nicht reingehören. Und die dann dafür sorgen, dass du Multiresistenzen hast und wenn du ins Krankenhaus kommst und wirklich Antibiotika brauchst, dann wirkt das nicht mehr.

Das ist doch krank, dass wir nicht genug Futtermittel haben. Die kommen dann aus der Heimat meiner Frau, aus Argentinien. Dort werden die Regenwälder abgeholzt, dort wird genverändertes Soja angebaut, vom Himmel mit Flugzeugen bespritzt, die Anlagen sind direkt an den Wohnsiedlungen, da spielen Kinder und kriegen dieses Zeug mit und das essen wir anschließend. Da fühle ich mich nicht wohl dabei. Ich will nicht, dass von meinem Essen Kinder krank werden. Ich will nicht, dass für mein Essen Böden vergiftet werden. Ich will nicht, dass für mein Essen das Wasser vergiftet wird. Das hat auch was mit Ethik und Grundüberzeugungen zu tun. Ich finde, wenn man die beiden Finger ins Ohr steckt, bei den meisten Menschen berühren sich die Finger nicht, sondern da gibt es zwischendrin was, was wir Gehirn nennen und dieses Gehirn gibt uns die Möglichkeit es klüger zu machen.

Warum war denn der Veggie Day eine Scheißidee?

Den Veggie Day kannst du bei Jung & Naiv bewerben. Ich als Cem Özdemir, wenn ich irgendwie in der Kirchgemeinde, in irgendeinem Verein wäre, kann ich das auch bewerben. Aber eine Partei sollte den Leuten nicht erklären, wann sie was zu essen haben. Eine Partei sollte die Bedingungen ändern unter denen die Lebensmittel hergestellt werden, eine Partei sollte die Bedingungen der Landwirtschaft verändern. Eine Partei sollte dafür sorgen, und das ist unser Job, dass gesunde Lebensmittel ökologisch hergestellt werden, die den Planeten nicht belasten, die Tiere nicht unnötig quälen, überall für dich verfügbar sind und nach Möglichkeit zu einem Preis, den sich jeder leisten kann. Das ist mein Job. Aber die Frage, was du im Regal dann nimmst, das musst du schon selber entscheiden. Ich kann dazu beitragen, indem ich sage: in der Schule muss es Aufklärung geben. Ich finde zum Beispiel, zur Kultureigenschaft gehört auch, dass man das Kochen an die nächste Generation weitergibt, dass nicht alles aus der Tiefkühltruhe kommt…

Du kannst also kochen?

Ha. Gut erwischt. Geht so. Backen besser wie kochen…

Also dass Kinder das in der Schule besser lernen können. Ich bin ja gelernter Erzieher, bei mir im Kindergarten war es so, dass wenn wir gebacken oder in der Küche etwas gemacht haben, das war ein Innenstadtkindergarten, dann haben viele Jungs gesagt: Nö, das ist für die Mädchen, das ist nicht Jungsarbeit. Und dann haben wir eingeführt, dass das auch Spaß machen kann, wenn man gemeinsam was backt. Und auf einmal hatten gerade die Jungs am meisten Spaß und wollten zuhause auch alle backen. Die Mütter kamen und sagten: Was ist mit unseren Söhnen los? Die wollen gar nicht mehr aus der Küche raus. Manche Väter waren auch besorgt: Wird unser Sohn jetzt schwul, wenn er backt? Ich sagte: Da besteht kein zwingender Zusammenhang, dass wenn man backt dringend schwul wird. Man kann es empirisch nicht belegen.

Das zeigt: solche Verhaltensmuster sind änderbar. Und natürlich ist es entscheidend, dass wir Schulen haben, wo es eine Mensa gibt, wo frisch gekocht wird und das Essen nicht per Tiefkühlkost angekarrt wird. In Berlin gab es mal den Fall, dass die Erdbeeren aus China kamen und die Kinder hatten alle Durchfall davon. Das ist also am falschen Ende gespart und zeigt auch eine Perversion, dass Erdbeeren aus China immer noch billiger sind wie Lebensmittel, die hier bei uns saisonal hergestellt sind. Das zeigt auch die ganze Perversion auf unserem Planeten, dass der Transport von Lebensmitteln kein Kostenfaktor ist heute, weil es so billig ist. Da gibt es einfach ökologisch-schädliche Subventionen, die man eigentlich dringend korrigieren müsste.

Du hast gerade deine Kindergärtnerzeit angesprochen. Im Kindergarten sind Kinder ja noch anders. Die kleinsten Bürger von uns sind, scheint mir, immer noch egalitärer: Wir teilen. Wir kennen keine selfishness

Das lernen sie dann schon relativ schnell von den Eltern.

Wie kommen wir dahin, dass wir wieder mehr wie eine Kindergartengruppe werden? Dass die Deutschen sagen: Wir sind bereit zum Teilen. Wir sind ja alle im selben Boot…

Da spielt was man zuhause erfährt eine ganz wichtige Rolle. Der beste Kindergarten kann das Elternhaus nicht ersetzen. Wenn du in einem maroden Elternhaus aufwächst, wo das nicht gelernt, nicht eingeübt wird, dann ist das sehr schwer. Trotzdem sollte ein Kindergarten, eine Kita, die Schule den Anspruch haben, dass sie dir so viel wie möglich mitgibt mit Dingen, die du für dein Rüstzeug brauchst, für dein späteres Leben. Und wenn das Elternhaus das nicht machen kann, nicht machen will, aus welchen Gründen auch immer, Eltern sind berufstätig, alleinerziehend, haben nicht die Zeit oder es fehlt ihnen die Information… bei manch sind es auch Einstellungen, die antidemokratisch sind, die sie den Kindern versuchen weiterzugeben. Ich meine, das rassistische Zeug haben die Kinder ja nicht mit der Muttermilch aufgesaugt, sondern das lernen sie durch andere, die es ihnen vorleben, die ihnen die Sprüche sagen und dann übernehmen sie die eben. Und da erwarte ich schon, dass der Staat über die Einrichtungen, die er hat, seine Kitas, seine Schulen, gegensteuert. Das kann er natürlich dann besser machen, wenn er pädagogisches Personal hat, das es auch gelernt hat, das eine entsprechende Ausbildung hat und übrigens auch entsprechend bezahlt wird. Und wenn wir auch eine Schule haben, die eine Ganztagsschule ist, sodass auch jedes Kind in der Schule die Hausaufgaben gemacht hat. Das heißt, das nicht mehr wie in meinem Fall entscheidet, ob meine Eltern zuhause sind, gut Deutsch können und vielleicht selber Akademiker sind, ob ich am nächsten Tag meine Hausaufgaben gemacht habe. Sondern dass ich genauso die Chancen habe, weil ich in der Schule die Hausaufgaben machen kann. Da hilft natürlich eine Ganztagsschule.

Ich wünsche mir eigentlich eine Schule, in der jedes Kind, egal ob es aus einer Arbeiterfamilie kommt oder einer Akademikerfamilie, eine Chance hat, ein Musikinstrument kennenzulernen. Das ist auch eine Form von Gewaltprävention. Dass, wenn ich aus einer muslimischen Familie komme, vielleicht eine Chance habe über den Islam etwas zu erfahren. Dass vieles, was diese Schwachmaten erklären, gar nichts mit dem Islam zu tun hat. Wenn es die Eltern nicht machen, wenn es mein Umfeld nicht macht, vielleicht sogar das Gegenteil erzählt, dann habe ich doch nur eine Chance, wenn ich in der Schule gute Lehrer habe, die das gelernt haben, die pädagogisch geschult sind und die sagen: Es tut mir leid, dass ich das jetzt sagen muss, aber was deine Eltern dir erzählen, was dein Vater dir erzählt über den Islam stimmt nicht. Das ist nicht der Islam. Der Islam hat die und die Geschichte, und das und das ist die Realität.

Producer Alex Theiler schaut Cem & Tilo zu.

Producer Alex Theiler schaut Cem & Tilo zu. Frank Suffert

Aber wem glaubt man? Was man in der Schule lernt oder dem Papa…

Wenn ich gar nichts mache, dann weiß ich, was passiert. Deshalb muss ich den Anspruch haben, dass ich was dagegen mache. Es ist völlig klar: Im Idealfall erzieht man mit den Eltern zusammen. Im Konfliktfall muss man auch dagegen anstehen. Also ich erwarte, wenn die Eltern dem Kind zuhause Nazizeugs erzählen und das Kind dies in der Schule reproduziert, dass man widerspricht und das Gleiche gilt natürlich auch für islamistische Einstellungen. Das Gleiche gilt für Einstellungen, die demokratiefeindlich sind. Das muss dann in der Schule aufgearbeitet werden. Das kann aber nicht in der Vormittagsschule gemacht werden, weil die Zeit dazu gar nicht da ist. Das kannst du nur machen, wenn du auch die nötige Zeit hast, die nötige Muße, den nötigen Personalschlüssel logischerweise hast und eben auch Möglichkeiten hast, dass Kinder in einer durchökonomisierten Schule nicht nur funktionieren müssen. Stichwort G8 und morgens ganz früh da sein, damit man schnell wieder gehen kann. Es muss auch eine Schule sein, wo sie zum Lebensort, zum Erfahrungsort wird, wo man eben nicht nur als Maschine funktioniert, sondern auch mit seinen Sorgen hinkann. Wo man auch Gelegenheit hat, Dinge, die einen bedrücken, loszuwerden.

Auf der anderen Seite fand ich es damals gar nicht so schlecht, dass ich nur bis mittags Schule hatte und den Rest des Tages mein Ding machen und ein bisschen meine Persönlichkeit ausprägen konnte…

Das soll ja auch nicht wegfallen. Eine Schule, in die ich morgens schon ungern gehe, wird nicht deshalb eine bessere Schule, wenn ich länger dort hingehe. Das wäre nicht mein Konzept von Ganztagesschule. Ganztagesschule bedeutet für viele Schulen auch, dass man im Prinzip neue Schulgebäude braucht. Du brauchst ja mehr Platz, Möglichkeiten für Sport, Aktivitäten, Ruhe. Wenn das alles nicht geht, dann reicht es nicht, dass man einfach nur länger da bleibt. Das ist sowieso ein grundsätzliches Problem, das ich habe: Dass jetzt alle sich einig sind, wir brauchen Ganztagesschulen. Alle sind sich einig, man muss das Kitaangebot ausweiten, aber die Qualitätsfrage spielt eine untergeordnete Rolle. Es geht nicht darum, Kinder zu verwahren, sondern es geht darum, dass es auch qualitative Zeit ist. Das geht nicht nur, wenn die Kinder länger da sind, sondern dass auch etwas sinnvolles mit ihnen gemacht wird. Da spricht ja gar nichts dagegen, dass man das mit den Vereinen macht, dass Schule und Sportverein kooperieren. Das ist ja angesichts von Übergewicht eine gute Chance, wenn das ein oder andere Kind darüber einen Zugang zum Sport findet, den es vielleicht sonst nicht bekommen würde.

Warst du auch mal naiv?

Ich glaube, ich bin es immer noch.

Verglichen mit der Zeit, als du in die Politik gekommen bist, sagst du dir: die Naivität habe ich jetzt abgelegt? Du hattest doch auch mal einen Skandal gehabt, da sagtest du: Oh, da war ich naiv…

Ich bin ja gelernter Sozialpädagoge, Erzieher und bin mit 28 in den Bundestag gekommen, mit all der Euphorie: Ich will die Welt verändern und so weiter. Was ich sicherlich gelernt habe: Du musst deine privaten Sachen im Griff haben, du brauchst genug Zeit für Familie, sonst geht das in die Brüche. Ich will nicht, dass irgendwann mal, wie man das ja gelegentlich bei prominenten Politikern nachlesen kann, dass die Kinder mal ein Buch über den Vater schreiben, wo du dich in Grund und Boden schämst, weil das Kind eben sagt: Ich habe meinen Papa nie kennengelernt, mein Papa war ein Grüßgottonkel. Und du musst dein Zeug im Griff haben. Alles was mit deinem Leben zu tun hat, deine Work-Life-Balance, damit du auch hier [im Bundestag] fit bist. Das sind alles Sachen, die musste ich mühsam lernen. Da bin ich x-mal auf die Schnauze gefallen. Was nicht heißt, dass jetzt alles perfekt wäre, da würde ich einen falschen Eindruck erwecken.

Ich bin immer noch am optimieren, wie ich es noch besser machen kann. Gestern hatten wir eine Sitzung mit dem Team, wo wir die Planung gemacht haben von jetzt bis Ende Januar, und da musste ich nochmal hart kämpfen, dass mein Fußball dienstagabends unangetastet bleibt. Was natürlich auch schwierig ist, weil der Druck ist groß - der Wahlkreis, Parteivorsitz, Abgeordneter. Aber du musst dir halt deine Freiräume erhalten. Der Sonntag ist ein Familientag. Morgens will ich meine Kinder beim Frühstück sehen, meine Tochter fährt mit dem Fahrrad zur Schule mittlerweile, ich bringe meinen Sohn zur Kita, sodass diese Sachen unangetastet bleiben. Wenn man das nicht macht, wenn man glaubt auf meinen Schultern lastet die ganze Verantwortung der Welt und ich muss jetzt irgendwie wie im Hamsterrad funktionieren, dann kann man erstens auch nicht wirklich gut arbeiten und zweitens rutscht man dann irgendwann aus. Ich sehe hier eine Menge Leute, wo es privat in die Brüche geht, die Beziehungen, oder die sonst vor dem Nichts stehen.

Ich glaube übrigens nicht, dass es in der Politik schlimmer ist als anderswo. Aber wir stehen halt im öffentlichen Rampenlicht, da sieht man es vielleicht eher. Da muss man rechtzeitig aufpassen. Und wenn ich was gelernt habe, dann ist es, dass man dies neugewählten Abgeordneten an die Hand geben darf, dass man die nicht allein lassen darf. Da ist die grüne Partei natürlich eine Partei gewesen, weil wir so neu und so jung waren, wo jeder sich selbst ein bisschen der Nächste war am Anfang. So nach dem Motto: Ins kalte Wasser und jetzt musst du dich schon irgendwie zurecht finden. Da haben die großen Volksparteien natürlich eher ihre Mechanismen, dass sie da solche Institutionen haben, wie man reinkommt. Und das mussten wir Grünen mühsam lernen.


Ergänzend zu diesem Interview: Teil 2 mit dem Vorsitzenden der Grünen und euren naiven Fragen an Cem, die wir im Vorfeld via Facebook, Twitter und Google+ gesammelt haben.


Gespräch: Tilo Jung, Produktion: Alex Theiler, Redaktion: Hans Hütt