Der ganze Rummel
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Der ganze Rummel

Shopping-Center haben sich zum Vergnügungspark-Ersatz entwickelt. Die Konsumkolosse werden aufdringlicher und konkurrieren mit uns um den Platz in den Metropolen.

Profilbild von Peer Schader

Das rote Band ist kaum durchschnitten, schon hat sich vor dem Sneakers-Laden im Ostflügel eine lange Schlange gebildet. „Stehen bleiben, stehen bleiben, stehen bleiben“, zählt ein stämmiger Security-Mann mit Glatzkopf durch. Als drinnen wieder Platz ist, zeigt er mit dem Finger auf die Wartenden: „Und rein, und rein, und rein – du gefällst mir nicht, geh weg.“ Im Laden macht ein DJ Charts-Lärm. Kunden tragen kleine Berge rabattierter Markenklamotten zusammen. Ein junger Mann schleppt kistenweise Angebot-Sneakers in die Ecke, um sie einem Sohlenabgleich mit den eigenen Schuhen zu unterziehen – Anprobe gespart. Wer erfolgreich war, holt sich ein Schäufelchen Süßigkeiten am Ausgang ab und verlässt plastiktütenbehängt den Laden, während der Glatzkopf wieder auf Leute zeigt: „Und rein, und rein – he, Thomas, das kommt heute bei ‘Taff’.“

Bis „Taff“ sind es zu diesem Zeitpunkt noch mehr als sechseinhalb Stunden in der „Mall of Berlin“, dem neuen 76.000-Quadratmeter-Einkaufskoloss am Leipziger Platz, der in der Mitte durch eine Frischluftschneise mit Glasdach getrennt ist. Auf deren Balkonempore sammeln sich ganz oben in der Mitte die Fotografen zum Sichtachsenfotografieren Richtung Bundesrat.

Wer in den ersten Stock will, läuft am Haupteingang unter einem blau-orange leuchtenden „Saturn“-Bogen über den golden in den Boden gravierten Artikel 1, Grundgesetz zur Rolltreppe und sieht schon von Weitem, wie Elektronikbesessene den „Saturn“-Mitarbeitern günstige Smartphones aus der Hand reißen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sein Recht auf Billigelektronik scheinbar auch. Hostessen mit der Shirt-Aufschrift „Scharfe Angebote, was?“ lächeln freundlich, und ein älterer Herr hat entschieden, dass dies ein guter Zeitpunkt ist, die Details seines Handyvertrags durchzusprechen. Im „Food Court“ sinken die ersten Mädchen mit Gratis-Popcorn vollgestopft an die marmorierten Tische, um sich bei einem Milchshake zu erholen. Mitglieder der Kung Fu Academy Berlin schlüpfen in ihr Drachen-Kostüm und teilen Gutscheine für das Essen des Asia-Bratshops aus.

Vor dem Sneakers-Laden am anderen Ende der „Mall“ schiebt sich eine Dame durch die Menge und fragt: „Was ist denn hier los?“ „Schuhe im Angebot“, antwortet der Security-Glatzkopf und grinst freundlich. Eine Etage darüber ist die Toys’R-Us-Giraffe eifrig am Kundenbewinken. Aus ein paar Metern Entfernung sehen die Geschosse aus wie Plattformen in einem Videospiel: Wer sich durch die Schlange des Terrors gekämpft und die Bonusschuhe ergattert hat, steht vorm Giraffen-Endgegner.

Die ältere Kundschaft steht lieber vorm Glücksrad, das Mitarbeiter des Kreativladens „Idee“ mit den Feldern „10 %“, „20 %“, „Mini-Workshop“ und „schade“ beschriftet haben. Im Untergeschoss werden Kunden, die am Glücksrad von „Street Shoes“ keinen Gutschein erdrehen, mit Schuhanziehern aus Plastik getröstet.

Die "Mall of Berlin" hat eine Frischluftschneise mit Glasdach eingebaut.

Die “Mall of Berlin” hat eine Frischluftschneise mit Glasdach eingebaut. Foto: psr

Aus den Lautsprechern schallt die Panflötenversion des Guns-N’Roses-Hits „Sweet Child O’Mine“. Das Fernsehen ist auch da, damit die Regionalnachrichten nachher über die Eröffnung berichten können. Am Abend zuvor war RBB-Reporter Ulli Zelle schon live vom „Pre-Opening“ zugeschaltet („Ich wusste gar nicht, dass es so viele Prominente gibt!“) und durfte den Noch-Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit fragen, wie es ihm gefällt: nämlich sehr gut. („Ich hab ja bald viel Zeit zum Einkaufen.“)

Die neuen„Arcaden“ sind „Paläste“

Es ist historisch unbelegt, seit wann Einkaufszentren-Eröffnungen dafür sorgen, ganze Städte in den Zustand kollektiver Begeisterungslähmung zu versetzen. Aber der Rummel in Berlin wird ganz sicher nicht der letzte seiner Art gewesen sein. 460 großflächige Einkaufszentren zählt das EHI Retail Institute in seinem aktuellen „Shopping-Center Report“. Mehr als 14,4 Millionen Quadratmeter Gesamtfläche. Und wenn man nicht blinzelt, kann man ihnen dabei zusehen, wie sie mehr werden. Als Nächstes ist Stuttgart dran, wo Deutschlands größter Shopping-Center-Betreiber ECE jetzt die Türen zum „Milaneo“ aufsperrt: 200 Läden auf noch mal 43.000 Quadratmetern, in Laufweite zur nicht gerade unterversorgten Stuttgarter Innenstadt. Hört das denn nie auf?

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Eigentlich hat es das schon, sagt Marco Atzberger, Mitglied der Geschäftsleitung beim EHI, im Gespräch mit Krautreporter: „Der große Boom ist vorbei. Es gibt weiter Neueröffnungen, aber deutlich weniger als noch vor zehn Jahren.“ Jetzt seien es vielleicht noch sieben pro Jahr, nicht mehr fünfzehn. „Wir beobachten aber, dass die Konzepte immer spektakulärer werden.“ Um die Kunden zu sich umzuleiten, müssen sich die Betreiber immer neue Kniffe ausdenken. Atzberger sagt: „Es geht darum, ein eigenes Profil zu entwickeln und das Center als Marke bei den Kunden zu etablieren. Zum Beispiel durch besondere Mieter, außergewöhnliche Architektur oder einen Mix aus Gastronomie und Unterhaltung.“

(Krautreporter-Mitglieder können das ganze Interview lesen; Link rechts in der Anmerkung.)

Und durch immer protzigere Namen. Sein Einkaufszentrum in Recklinghausen hat ECE-Konkurrent Mfi, die Nummer zwei im deutschen Shopping-Center-Markt, Ende September nicht mehr unter dem ursprünglich geplanten Namen „Recklinghausen Arcaden“ eröffnet – sondern als „Palais Vest“.

Die Betreiber gehen dorthin, wo die Leute einkaufen wollen.

Marco Atzberger, EHI Retail Institute

In den sozialen Medien hat die Namensveredelung zum Kaufpalast für reichlich Spott gesorgt. Aber sie passt zur Strategie, den Centern einen individuellen Anstrich zu geben, weil auch Neubauten längst keine Selbstläufer mehr sind. ECE hat das zum Beispiel beim „Skyline Plaza“ erfahren, das vor einem Jahr im Frankfurter Europaviertel eröffnete und seitdem arge Schwierigkeiten hat, sich zu etablieren.

Center rücken in die Stadt

Die Kunden kommen nicht mehr automatisch, wenn am Ende doch bloß wieder die x-te Filiale der bekannten Textilkette, der übliche Telefonshop und ein McDonald’s einziehen. Im „Milaneo“ protzt ECE deshalb mit „90 Shop-Konzepten, die es bislang in Stuttgart noch nicht gibt“: Modelabels wie Liebeskind, Replay, Pull & Bear und Ketten wie Primark und Hunkemöller. Außerdem hat der Schmuckanbieter „Dreams of Juwel“ seinen Verkaufsraum „in der Optik einer Meeresgrotte“ gestaltet. „Die Herausforderung besteht darin, den Kunden einen eindeutigen Grund zu geben, warum sie in genau dieses Center zum Einkaufen kommen sollen“, sagt EHI-Forscher Atzberger. Auch auf die Gefahr hin, dabei immer grottiger zu werden.

Parallel dazu wächst die Konkurrenz im Netz. „Wir gehen davon aus, dass 20 Prozent der centerrelevanten Sortimente in den kommenden zehn Jahren in den Onlinehandel abwandern werden“, erklärte Karl Reinitzhuber, CEO des auf Einkaufszentren spezialisierten Immobilienunternehmens Mfi, kürzlich der Lebensmittel Zeitung. Deshalb sei es notwendig, mehr „Premiummarken“ in die Zentren zu holen und die Ladengrößen anzupassen. Nur wenige Händler brauchen noch mehrstöckige Verkaufsflächen, wenn die Kundschaft den neuen Fernseher sowieso online ordert. Mehr Flexibilität ist gefragt. Wenn kleinere Händler pleite gehen, weil sie ihren Zehn-Jahres-Mietvertrag nicht mehr erfüllen können, hat auch das Center wenig davon.

Zeitgleich steht die „Vershoppingcenterisierung“ der Städte in der Kritik, weil sie dem klassischen Einzelhandel gefährlich werden kann und manch architektonisches Abenteuer produziert, das dem Stadtbild auf Jahre hinweg erhalten bleiben wird. „Mit dem geballten Auftreten der Shopping Malls setzt auch bei der Stadtbevölkerung eine gewisse Abstumpfung ein: Die kontrollierte Urbanität der Center wird nicht mehr als Besonderheit wahrgenommen, sondern als Normalzustand – dadurch werden Orte, die diese Eigenschaften nicht besitzen, zur Anomalie erklärt“, sagt Stadtforscher Johannes Novy zu Krautreporter. Anlässlich der „Mall of Berlin“-Eröffnung kritisierte er die „Monotonie standardisierter Konsum- und Erlebniswelten“ vieler Center.

Der Komplex am Leipziger Platz sei angesichts der Bedeutung des Ortes und der riesigen Fläche enttäuschend, meint Novy: „Es ist Ausdruck eines parasitären Charakters vieler Einkaufszentren in der Stadt: Sie nutzen kulturelle Ressourcen aus dem Umfeld für ihr eigenes Standortmarketing,halten es aber nicht für nötig, selbst Fläche zur Verfügung zu stellen, um zum kulturellen Angebot beizutragen.“

Laut IHK Berlin gibt es in der Hauptstadt derzeit 66 Shopping-Center, davon 18 mit mehr als 25.000 Quadratmetern. Alleine der Bezirk Lichtenberg kommt auf zwölf Center, in Mitte sind es zehn. Zusammengenommen können die Berliner auf 1,3 Millionen Quadratmetern Verkaufsfläche shoppen – alleine in Einkaufszentren. Dazu kommen noch 15 Center im Umland. Weitere Projekte sind bereits in Planung – wie das explizit als „Freizeit- und Erlebnismall“ angelegte „Volt“ zwischen Jannowitzbrücke und Alexanderplatz, mit „Skydiving“ und Surfbecken.

Wir erschaffen die urbanen Marktplätze der Zukunft.
Betreibergesellschaft ECE

Und der Drang in die Metropolen wird sich noch verstärken. EHI-Forscher Atzberger erklärt: „Wir beobachten in jedem Fall, dass die meisten Eröffnungen heute in Innenstädten passieren. Die Betreiber gehen dorthin, wo die Leute einkaufen wollen.“ Das gilt auch für Händler, die sich bisher aus Platzgründen eher an Autobahnkreuzen wohl gefühlt haben: Im Juni eröffnete Ikea im Hamburger Stadtteil Altona seine weltweit erste City-Filiale. Für das Möbelhaus wurde eine alte Bausünde abgerissen; trotzdem reagierten viele Hamburger ablehnend auf den neuen Koloss, weil sie fürchten, dass er sich negativ auf die umliegenden Geschäfte auswirkt. Und weil der Platz nicht mehr genutzt werden kann, zum Beispiel für Kunstprojekte oder um günstigen Wohnraum zu schaffen.

In Hamburg hat Ikea sein erstes Möbelhaus mitten in der Stadt eröffnet.

In Hamburg hat Ikea sein erstes Möbelhaus mitten in der Stadt eröffnet. Foto: psr

Wenn immer mehr Deutsche in Städten wohnen wollen, sich zugleich dafür entscheiden, dort kein Auto mehr zu brauchen, und dann gar nicht mehr dorthin kommen, wo die Händler sitzen, werden die Konflikte zunehmen. Um diese Menschen noch als Kunden zu erreichen, müssen die Unternehmen weg von den Autobahnkreuzen. Dahin, wo die Leute ohne Auto sind. „Wir erschaffen die urbanen Marktplätze der Zukunft“, wirbt die Shopping-Center-Betreibergesellschaft ECE.

Für Stadtforscher Novy klingt das wie eine Drohung. Er sagt: „Wir brauchen eine öffentliche Auseinandersetzung darüber, wie unsere Städte aussehen sollen, und nicht diese Mischung aus Pragmatismus und Resignation wie in Berlin.“ Nach dem Mauerfall habe es für einige Jahre eine solche Debattenkultur gegeben. „Heute hab ich das Gefühl, es wird einfach hingenommen: Da ist noch Platz, da kommt eine Mall hin.“

Ausflugsziel Einkaufszentrum

Dass sich Wohnungssuchende und Ladenketten in den Metropolen gegenseitig auf den Füßen stehen, um den Platz für sich zu reklamieren, ist vor allem deshalb kurios, weil zur gleichen Zeit diskutiert wird, wie es mit Karstadt weitergehen soll. Seit der Übernahme der Warenhauskette durch den österreichischen Immobilieninvestor René Benko ist die Rede von bis zu 30 Schließungen – zu altmodisch und unzeitgemäß sind viele der 83 verbliebenen Filialen, vor allem in kleineren Städten.

Gleichzeitig liegt für viele Berichterstatter die Lösung auf der Hand: die Umwandlung der Karstadt-Häuser in Shopping-Center. Mit dem Innsbrucker „Kaufhaus Tyrol“ ist Benko das schließlich schon einmal gelungen. Der vierstöckige Protzbau hat sich als Kundenmagnet etabliert. Doch die Investitionen bei Karstadt wären enorm. Und ob die Städte zehn, zwanzig zusätzliche Center auf einen Schlag verkraften könnten, ist kaum abzuschätzen. „Das entspräche einer kompletten Neuerfindung von Karstadt“, sagt Marco Atzberger vom EHI Retail Institute über die Spekulationen. Die Frage sei auch, „ob sich der Händler überhaupt noch als solcher versteht – oder bloß noch die Fläche zur Verfügung stellen will.“

Am Leipziger Platz in Berlin ist das Warenhaus schon jetzt nur noch eine symbolische Schwarz-Weiß-Reminiszenz: Dort, wo vor hundert Jahren das bekannte Kaufhaus Wertheim stand, erinnern im Center-Neubau nun Fotos daran, wie die Berliner vor einem Jahrhundert eingekauft haben. Betreiber Harald Huth wirbt deshalb mit dem Slogan „Shopping is coming home“ und meint, sein Schaffen sei „glorreich für Berlin, verbindend für Europa, Ost und West“. Das klingt, als wär’s den Versuch wert, internationale Konflikte demnächst zu befrieden, indem man verfeindeten Volksgruppen ein Einkaufszentrum vor die Nase baut. Bescheidenheit hat im Center-Geschäft nichts zu suchen.

Das Kaufhaus ist Geschichte, und in den neuen Kolossen geht es längst nicht mehr bloß ums Einkaufen. Die Center sind zu einem Vergnügungspark-Ersatz für Städter geworden, mit künstlicher Grotte und Schlangestehen für besondere Attraktionen. Besucher wollen unterhalten werden und vom Glutamatessen gesättigt mit dem guten Gefühl den Heimweg antreten, ein besonderes Schnäppchen gemacht zu haben. Selbst wenn das anschließend auf Nimmerwiedersehen im Kleiderschrank verschwindet. Der große Boom der Einkaufszentren mag vorbei sein. Aber die Konkurrenz um den Platz in den Städten hat gerade erst begonnen.


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