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Im Herbst 2012 versammelte der Künstler Lawrence Abu Hamdan eine Gruppe von Leuten um sich, deren Zusammensetzung auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich wirkt. In den Niederlanden trafen sich Linguisten, Aktivisten, Vertreter von Kunst- und Flüchtlingsorganisationen sowie zwölf Somalier und Somalierinnen, denen das Asyl verweigert worden war. Die Geflüchteten waren ohne Papiere nach Holland gekommen, und die Behörden hatten ihnen nach einer Sprachanalyse nicht geglaubt, dass sie tatsächlich aus dem gefährlicheren Süden des Landes kamen.
Aus diesem Treffen im Rahmen von Hamdans Projekt „Conflicted Phonemes“entstanden Diagramme, die die Komplexität individueller sprachlicher Sozialisationen verdeutlichen. Für jeden der Geflüchteten wurde eine Karte gefertigt, die zeigt, welche Sprachen im Umfeld der jeweiligen Person gesprochen wurden – von der Mutter, dem Vater, den verschiedenen Lehrern, den Mitschülern und schließlich von den anderen Asylbewerbern seit der Ankunft in den Niederlanden.
Der politische Kern dieser künstlerischen Arbeit ist in Deutschland ebenso relevant wie in Holland. Wenn es nämlich um das Herkunftsland eines Geflüchteten geht, reichen auch hier ein paar Zweifel der Behörden aus, um eine Untersuchung in Gang zu setzen. Kommt jemand ohne Pass hierher, gibt es verschiedene Methoden, um herauszufinden, ob er auch wirklich aus dem Land kommt, das er angibt – und damit Anspruch auf politisches Asyl hat. In einer Broschüre des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge findet man zu diesen Methoden nur die etwas vage Aussage, „Befragungen zur Ermittlung von Herkunftsland und –region (sowie anderer Bestandteile der Identität wie Religionszugehörigkeit oder Ethnie)“ seien standardmäßig. Ein weiteres Werkzeug zur Identitätsbestimmung, das auch in Paragraf 16 des Asylverfahrengesetzes verankert ist, ist das der Sprachanalyse, mit der Abu Hamdan sich beschäftigt.
In Deutschland eingeführt wurde das Verfahren der Sprachanalyse 1998 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das zu dem Zeitpunkt noch Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hieß. Vorbild waren europäische Länder wie die Schweiz und Schweden, in denen die Praxis bereits gängig war. Damals regte sich Widerstand, hauptsächlich vonseiten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, die Stellungnahmen von Rechtsanwälten und Linguisten veröffentlichte. Seitdem ist es still um das Thema geworden. Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl, vermutet in einer E-Mail, dass das Verfahren in Deutschland „keine große Rolle“ mehr spielt.
Doch eine Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge macht deutlich, dass die Sprachanalyse auch hier weiterhin eingesetzt wird.„Das Bundesamt arbeitet im Rahmen der Sprachanalysen (ausschließlich) mit wissenschaftlich ausgebildeten Soziolinguisten zusammen, von denen ein Großteil weiterhin aktiv als Wissenschaftler an internationalen Universitäten tätig ist und Feldforschung betreiben“, sagt eine Sprecherin der Behörde. „Die Gutachter sind also nicht bei uns beschäftigt, sondern werden frei beauftragt.“ Ihre Identität werde geheim gehalten, für Interviews stünden sie nicht zur Verfügung.
Der Afrikanistik-Professor Raimund Kastenholz beschrieb 1998 in einer Stellungnahme für Pro Asyl die Problematik, die sich für Linguisten aus dem Verfahren der Sprachanalyse ergibt. Kastenholz zufolge ist das im afrikanischen Raum unter anderem die große Sprachenvielfalt. Etwa 2.000 Sprachen werden dort gesprochen, oft auf sehr engem geographischen Raum. Man unterscheidet zwischen vier verschiedenen Sprachfamilien, was bedeutet, dass sich die vielen Sprachen Afrikas auch noch sehr stark voneinander unterscheiden. Es gebe gar nicht genügend Fachkräfte in Deutschland, die die einzelnen Sprachen gut genug beherrschten, um verlässliche Aussagen darüber treffen zu können, sagte Kastenholz. Auch die offiziellen Landessprachen könnten nicht viel Aufschluss über die Herkunft eines Afrikaners geben, ist in der Stellungnahme zu lesen, seien sie doch meist ehemalige Kolonialsprachen, die nicht jeder Bürger gleich gut beherrscht. Kastenholz schätzte die Verlässlichkeit des Verfahrens insgesamt als eher gering ein. Heute möchte er sich zu der Thematik nicht mehr äußern, er habe die Entwicklung nicht weiterverfolgt, lässt er in einer E-Mail wissen.
Verhärtete Fronten
Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der bereit ist, sich über seine Arbeit als Gutachter zu äußern. Das mag damit zusammenhängen, dass die Praxis mit ihren bürokratischen und politischen Implikationen so gar nicht in den liberalen, humanistischen Habitus der akademischen Welt passen will. Schon 1997 forderte Pro Asyl alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die an dem Verfahren beteiligt waren, auf, „aus dem Schatten zu treten und für die Wissenschaftlichkeit der von ihnen verwendeten Methoden mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit einzutreten“. Seitdem haben sich die Fronten noch verhärtet. Die vorherrschende Atmosphäre der Ablehnung sei eine schlechte Vorraussetzung für eine offene, wissenschaftliche Diskussion, sagt uns ein Gutachter, der aus diesem Grund lieber anonym bleibt.
Er sagt auch, dass sich das Verfahren seit den 1990er Jahren verändert habe. Damals wurde die sogenannte laiendialektologische Praxis quasi aus Schweden übernommen, bei dem Muttersprachlern ein Linguist nur begleitend zur Seite gestellt wurde, während Linguisten heute in manchen Fällen direkt mit einem Asylbewerber sprechen, und so gezielt Fragen stellen können. Ein Erbe des laiendialektologischen Verfahrens ist die „Befundaufnahme“ durch einen Dolmetscher oder einen Behördenvertreter. Diese schicken die Aufnahmen der Gespräche dann an einen Linguisten zur Auswertung. Das sei nicht ideal, meint der Gutachter. Aber wenn der Umfang oder die Qualität der Aufnahme nicht genüge, um eine Auswertung vorzunehmen, sei er sowieso in der Pflicht, das mitzuteilen. Besser sei es jedoch, von Angesicht zu Angesicht mit einer Person zu sprechen und möglichst genau biographische Daten, die spezielle Lebenssituation und das Sprachrepertoire eines Asylbewerbers zu erheben.
Der Gutachter sieht die Sprachenvielfalt Afrikas nicht als Hindernis, im Gegenteil, er ist der Meinung, dass es die Feststellungsmöglichkeiten der Sprachanalyse erhöht. Die meisten afrikanischen Sprachen werden in relativ engen geographischen Gebieten verwendet. Wenn also eine Sprache nur von sehr wenigen Personen in ein paar Dörfern gesprochen wird, erhöhe das die Chancen, die Herkunft aus einem dieser Dörfer zu belegen.
2004 verfasste eine Gruppe von 19 Linguisten aus Australien, Belgien, Schweden, England und Amerika einen Leitfaden für das Verfahren, der dazu dienen soll, es aus akademischer Sicht zu verbessern. Die Verfasser des Dokuments wiesen darauf hin, dass die Sprachanalyse ungeeignet sei, die Herkunft von jemanden zu bestimmen: „Nationale Herkunft, Nationalität und Staatsangehörigkeit sind allesamt politische oder bürokratische Kriterien, die nicht notwendigerweise mit Sprache in Zusammenhang stehen.“
Dennoch, so die Verfasser, sei es möglich, aufgrund der Sprache Rückschlüsse auf die Sozialisierung einer Person zu ziehen, also auf ihre Wechselbeziehungen mit ihrer Umwelt. Da sich Sprachgrenzen und Landesgrenzen in vielen Regionen der Welt nicht deckten, könnten die Sprachexperten allerdings oft lediglich die Region, nicht aber das Land bestimmen, in dem ein Geflüchteter sozialisiert wurde. Außerdem seien die Einwohner vieler Länder im Vergleich zu Europa polyglott. Neben der jeweiligen Muttersprache beherrschten sie oft noch die offizielle Landes- und eine oder mehrere Verkehrssprachen. Wenn jemand also verschiedene Sprachen mischt, hieße das nicht automatisch, dass er versucht, seine Herkunft zu verschleiern.
Unterschiede zwischen Dialekten
Obwohl die Ersteller des Leitfadens ganz offensichtlich das ehrenwerte Ziel verfolgen, ein wenig Licht in das bürokratische Dunkel zu bringen, muss die Frage erlaubt sein, was der Nutzen eines Verfahrens ist, dessen Effizienz und Verlässlichkeit von vornherein derartig eingeschränkt sind. Ein zentraler Punkt des Dokuments ist daher, auf die laienlinguistische Praxis zu verzichten und ausschließlich ausgebildete Linguisten mit Universitätsabschluss einzusetzen, deren Kenntnisse sowohl in sprachwissenschaftlicher Hinsicht, als auch in der jeweiligen Sprache auf dem neuesten Stand sein sollen.
Die schwedische Firma Verified, die im Auftrag einiger europäischer Regierungen Interviews mit Geflüchteten auswertet, sieht diese Notwendigkeit nicht. Roderick Martin, der leitende Berater der Firma, schreibt in einer E-Mail: „Studien haben ergeben, dass die Fähigkeit, zwischen Dialekten unterscheiden zu können, von Person zu Person verschieden ist. Dieser Unterschied steht jedoch nicht in Zusammenhang mit einer Ausbildung, sei es im linguistischen Feld oder in einer bestimmten Sprache.“ Mit anderen Worten: Unterschiede zwischen Dialekten zu erkennen, meint Martin, sei ein Talent und gleiche einem „Gehör für Musik“. Bedauerlich nur, dass Talent ein Kriterium ist, das sich schwer messen lässt.
Verified ist eine von mehreren schwedischen Firmen, die Sprachanalyse zu ihrem Geschäft gemacht haben. „Phonetische Forensik“ nennt sich das dann, Tonaufnahmen werden nach Schweden geschickt und dort von jeweils einem Muttersprachler und einem Linguisten ausgewertet. Die drei anonymisierten Protokolle einer solchen Auswertung, die „Verified“ Krautreporter zur Verfügung gestellt hat, lassen jedoch erahnen, dass dem Muttersprachler mehr Verantwortung zufällt als dem Linguisten: In allen drei Fällen wird derselbe Linguist beauftragt – für Syrisch-Arabisch, Somali und Kibajuni. Martin findet das richtig, er mutmaßt gar „Rassismus“ und „wissenschaftliche Ignoranz“ bei Ämtern, die von ihren Gutachtern eine akademische Ausbildung verlangen – wie zum Beispiel das Bundesamt für Migration oder die schweizerische Behörde LINGUA.
Gedanken über die Prämissen des Systems
Lawrence Abu Hamdan verfolgt dieses Thema intensiv. In seiner Audio-Dokumentation „The Freedom of Speech Itself“, die ebenso wie sein Projekt „Conflicted Phonemes“ 2012 entstand, interviewt er Linguisten, Beamte, Anwälte und schließlich Asylbewerber zu dem Thema der Sprachanalyse. Die Anwendung der Methode kennzeichnet eine Verlagerung vom Subjekt zum Objekt, sagt Abu Hamdan, von der inhaltlichen Abwägung einer Aussage hin zu einer formalen Einschätzung – wichtig ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird.
https://soundcloud.com/forensic-architecture-1/the-freedom-of-speech-itself
Abu Hamdan interessiert sich für die Eigenheiten des Verfahrens, aber er macht sich auch Gedanken über die Prämissen des Systems. Er sagt: „Das Asylverfahren basiert auf Fiktionen, die Regierungen auf sehr bürokratische Art und Weise implementieren. Die Annahme ist zum Beispiel: Jemand, der aus dieser Region kommt, oberhalb dieser Linie, braucht Asyl; jemand, der unterhalb dieser Linie gewohnt hat, braucht keines. Das ist eine willkürliche Abgrenzung von Bereichen in einem fremden Land, die vor Ort vielleicht gar keinen Sinn ergibt.“
Normalerweise dienen Diagramme dazu, Sachverhalte zu abstrahieren, um sie klarer darzustellen. Abu Hamdan hat stattdessen bei seinem Projekt „Conflicted Phonemes“ ganz bewusst eine komplexere Art der Präsentation gewählt. „Die Dichte dieser Karten ist eine Reaktion auf die vielschichtige Aufgabe, die Stimmen und Biografien derjenigen aufzuzeichnen, die vor Konflikt und Hungersnot fliehen“, sagt er.
Alltag an der Grenze zur EU
Was passiert, wenn diese Komplexität nicht berücksichtigt wird, hat Bashar Al Tammawi erlebt. Der Arzt aus Syrien kam im Oktober 2013 nach drei Monaten Flucht in Deutschland an. Zuvor war er an der Grenze zu Griechenland festgehalten und verhört worden. Weil er der einzige dort war, der Englisch sprach, übersetzte er schließlich für die Grenzbeamten. Wenn jemand keine Papiere hatte, wurde er mit Fragen über seinen Heimatort konfrontiert. Al Tammawi, der es inzwischen sogar fertigbringt, über die unmenschlichen Bedingungen im griechischen Gefängnis zu lachen, erzählt im Interview sachlich und mit leiser Stimme. Ab und zu mischt sich ein deutsches Wort in sein Englisch. „Ich sollte ihnen ein Zeichen geben, wenn jemand aus Syrien kam“, sagt er. „Ob der Beamte ein Spezialist war, weiß ich nicht, aber er sprach ein paar Worte Arabisch.“
An der Grenze zur EU scheint die doch etwas differenzierte Methode der Sprachanalyse also keine große Rolle zu spielen. Stattdessen werden „klassischere“ Verhörtaktiken angewandt. „Sie sagen: ‚Sei einfach ehrlich, dann bekommst du deine Papiere.’ Das ist natürlich nicht wahr“, berichtet Al Tammawi. Dass die Sprachanalyse eine verlässliche Methode ist, um sein Heimatland als Herkunftsort zu bestimmen, bezweifelt Al Tammawi. „Es gibt sehr viele verschiedene Dialekte in Syrien; Unterschiede zwischen Stadt und Land; und gerade in den Grenzregionen vermischen sich die arabischen Dialekte“, sagt er.
Manfred Woidich, Professor für Arabistik an der Universität Amsterdam und mittlerweile emeritiert, sieht das ähnlich. „Es gibt im arabischen Raum zwar mehrere große Dialektgruppen, wie etwa die ägyptische, die levantinische, die palästinensische oder die syrische„, sagt er. “Aber man kann zum Beispiel kaum feststellen, ob ein Palästinenser aus dem Westjordanland oder aus Jordanien kommt.” Wenn die Sprachenvielfalt Afrikas das Verfahren tatsächlich erleichtert, stellt sich die Frage, ob im arabischen Raum, wo viele Dialekte einer Sprache gesprochen werden, das Gegenteil der Fall ist.
Eine offene Diskussion über das Verfahren im akademischen Bereich wäre bestimmt sinnvoll. Die legale Konsequenz jedoch, die von den Ämtern gewünscht wird, ist schon in der Prämisse entwertet. Wenn die Sprachanalyse – und da sind sich alle einig – lediglich die Region, nicht aber das Land bestimmen kann, aus dem jemand geflohen ist, lässt sich daraus nicht auf die Nationalität einer Person schließen. Die bürokratische Kategorie also, in die jemand eingeordnet werden soll, beschreibt gewissermaßen eine völlig andere Ebene als die linguistische. Darin spiegelt sich der Widerspruch, der jeder Art von Bürokratie innewohnt: Rigide Kategorien lassen sich eben nur bis zu einem gewissen Grad auf das organische Gebilde anwenden, das wir Gesellschaft nennen.
Das Audiofile wurde erstellt von Christian Bollert von detektor.fm
Titelbild:
„Conflicted Phonemes“, Lawrence Abu Hamdan 2012
Individual counter-voicemaps
Grafik: Janna Ullrich
Mit freundlicher Genehmigung von Lawrence Abu Hamdan