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Eine halbe Stunde Motorroller, das natürlich viel zu schnell, und viel zu heiß, brüllheiß, dazu trockener Husten, dichte Luft. Bricht etwas auf jetzt, der Smog, könnte aber auch bloß Fahrtwind sein, oder schon Meerluft. Noch ist alles über mittlere Distanz hinweg verdeckt, und die Sonne scheint am Morgen gar nicht bis auf den Boden, weil die Häuser alle hochhaushoch und so gedrängt beieinander sind. In Beirut geht es nur nach oben, in immer neue Höhen, die senkrechte Zukunft.
Wir sind auf dem Weg zum Rosenhaus im Stadtteil Raouché. Hier, auf den letzten Metern, dem Hafen zugewandt, knallt einem endlich kurz die Sonne entgegen. Bevor die lange Auffahrt im kleinen Schatten des Vorplatzes endet. Absteigen, schauen, staunen – über das verblüffend unkitschige Stück Geschichte, das hier plötzlich auftaucht, mittendrin in dieser fast komplett bautristen Betonstadt.
Das Rosenhaus, ein Kolonialstilhaus, eines der letzten in Beirut. Ein Hausmädchen aus Bangladesch öffnet die Türe, führt durch eine große Küche in den Salon. Hier sollen wir, der Reporter und ein Freund der Familie, eine Weile warten. Der Schimmer eines stolzen Adels von einst liegt rührend angejahrt über allem. Die Baufälligkeit, der pastellpink blätternde Putz auf der Außenseite. Und innen sieht es aus wie eine Lobby aus den maskierten Welten unbedingt älterer Großstadthotels: Mächtige Möbel, ein schwarzer Steinway, Schränkchen mit Keramik und Porzellan. Das Sonnenlicht flutet hell durch die Fenster. Ein Brief von Louis XIV. hängt an der Wand. Das Hausmädchen bringt frische Maulbeerenschorle.
Fayza el Khazen, Autorin, Kunstsammlerin und Pianistin, empfängt im Schlafzimmer. Sitzt da auf ihrem Bett, die richtige Menge Schmunzeln im Gesicht. Fayza, eine Grande Dame, formuliert ruhige Sätze mit unruhigen Armen, und sie schwärmt gleich am Anfang von der Vergangenheit, den goldenen Sechzigern, die Jahre vor dem Krieg, als Beirut das Paris des Nahen Ostens und das Rosenhaus Treffpunkt der High Society waren. „Ich sehe ja fürchterlich aus“, sagt die Grande Dame routiniert, schmunzelt und fasst sich ans Haar.
Beirut. Oder Bairut. Oder Beyrouth, mit französischem Akzent. Wir besuchen Fayza el Khazen (unangemeldet, wie man es hier so macht), weil ihre Familie seit Jahrhunderten in der Stadt wohnt und sie uns an dieser Stelle wohl ein letztes Mal von der Zeit vor, während und nach dem Bürgerkrieg erzählen kann. Vor dem Gründerzeitbett, auf dem Fayza el Khazen jetzt im Fersensitz Espresso trinkt, steht stilbruchartig ein 60-Zoll-Flachbildfernseher, den sie sich kürzlich hat ins Haus kommen lassen. Es läuft eine Hochzeit ohne Ton. Und dann stehen da überall kleine und große Umzugskartons. Fayza wird in einigen Wochen zurück nach Frankreich gehen. Für immer. Was die neuen Eigentümer mit dem Rosenhaus anstellen, ist ungewiss.
Die el Khazens sind Maroniten, die größte christliche Gemeinde im Libanon, die sich im 5. Jahrhundert gründete und als einzige unierte Kirche gegenüber Rom Unabhängigkeit bewahren konnte. Die Geschichte der Khazen-Familie geht zurück bis ins Frankreich während der Kreuzzüge. Jener vor der Salonwand her grüßende Louis XIV. machte Ende des 17. Jahrhunderts einen el Khazen zum Konsul von Beirut.
Fast die Hälfte aller Libanesen spricht heute französisch. Architektonisch ist vom frankofonen Erbe des Osmanischen Reichs nicht mehr viel übrig in der Stadt. Historische Wohnhäuser gibt es wenige, und wenn doch, sind es meist übrig gebliebene Rudimente, Ruinen, durchlöchert von Bomben und Granaten, dem Kugelhagel der Straßenkämpfe im Bürgerkrieg. Oder aber Downtown, im historischen Stadtkern, den sich Beirut als Vorzeigeort leistet, in dem Gebäude aus der französischen Mandatszeit wiederaufgebaut wurden. Hier liegen Parlament, Weltbank, Botschafts- und Regierungsgebäude und das UN-Hauptquartier. Das alte Paris steckt vor allem in Boutiquen, Banken und anderen nostalgisierten Renditekolonien. Beirut, Zufluchtsort für syrische Flüchtlinge, aber auch eine Geldsäcke-Stadt, mit Investoren, die sich zuvörderst nach noch mehr Wolkenkratzern sehnen.
Auch das Rosenhaus, auf einer Anhöhe zwischen Palmen gelegen, etwa zweihundert Meter vom Mittelmeer entfernt, könnte bald für einen weiteren großangelegten Hotelkomplex geopfert werden. Wie in vielen arabischen Großstädten ist der Kulturraum Beiruts meist chancenlos gegen größere Investitionsvorhaben. Der Gedanke an den unraffinierten Akt, auch hier vertikaldominante Hässlichkeit hinzustellen, löst sofort starkes Unbehagen aus.
„Wenn wir heute kaum noch Gebäude bewahren können, müssen wir uns wenigstens um unsere Erinnerungen bemühen“, sagt Fayza widerstandsbescheiden.
Mohammad Adati, ein libanesischer Architekt, hatte das Rosenhaus 1882 über den Grundriss einer alten Jagdhütte gebaut. Hier lebte er mit seiner Familie bis in die fünfziger Jahre. Vor den Khazens wohnte hier der US-amerikanische Kultur-Attaché Russ Linch, der das obere Stockwerk in den Jahren 1963 und 1964 an den abstrakten Maler John Ferren vermietete. Ferren war ein enger Freund Pablo Picassos und hatte einst die Leinwand aufgespannt, auf der Picasso sein Guernica-Gemälde malen sollte.
Als der Bürgerkrieg 1975 begann, verließ Fayza wie so viele wohlhabende Libanesen die Stadt, ging nach Paris, studierte Kunst und Architektur. Ihre Mutter blieb, zog sich zurück ins zweite Stockwerk, während syrische Milizen das Erdgeschoss besetzt hielten. Für Fayza war Paris kein Exil. Sie kannte die Stadt von vielen Reisen vor dem Krieg. Französisch war ihr schon immer Muttersprache gewesen. Und Frankreich wurde zweite Heimat und schärfte ihren Blick für die erste.
Nach ihrer Rückkehr aus Europa, in den neunziger Jahren, begann Fayza an Büchern über die Architektur aus der Zeit des Osmanischen Reichs zu arbeiten. „Entscheidend”, sagt sie, „war 1979. Ich kaufte mir ein sehr altes Buch, das tausend Seiten lang und zehn Kilogramm schwer war. In dieses Buch habe ich mich verliebt.“ Zurück in Beirut verlegte sie zuerst das schwere Lieblingsbuch neu. „Mission de Phenicie“ (1864) von Ernest Renan, einem französischen Historiker, der eine detaillierte Studie der Geschichte der größeren Städte Libanons nachgezeichnet hatte.
„Ich wollte dieses Buch unbedingt neu herausbringen, um zu zeigen, wie uns das Französische geprägt, wie es sich ursprünglich mit den arabischen Traditionen verwoben hatte“, sagt Fayza. „Daraus hat sich bei mir eine Leidenschaft für historische Ausschnitte entwickelt, die sich noch steigerte, als die Stadt in Trümmern lag.“
Anfang des Jahres lud Fayza el Khazen den britischen Künstler Tom Young ein, in ihrem Haus zu malen. Als Young erfuhr, dass Fayza das Rosenhaus verkauft hatte und schon bald verlassen würde, wollte er sofort so viel wie möglich in seinen Bildern konservieren.
Young malt Bilder, auf denen kalte, düstere Neubauten die warmen Flecken der wenigen historischen Orte Beiruts zu verschlucken drohen.
„Der Neuerfindungsgeist, die Geschwindigkeit und Kraft dieser Stadt, alles immer wieder aufzubauen, ist natürlich erstaunlich und beeindruckend“, sagt er. „Nur schön ist es leider nicht geworden. Die jüngere Architektur spiegelt den Krieg, ein Misstrauen gegenüber allen Manierismen. Lieber wird gleich kühl und funktional gebaut, eben stark renditeorientiert. Es scheint, als wisse man, dass aufwendig gestaltete Gebäude die Welt auch nicht mehr zusammenhalten werden.“
Young hofft, dass die neuen Eigentümer, eine ohnehin schon sehr, sehr reiche Unternehmerfamilie, sich überzeugen lassen, zur Abwechslung einmal in das Überleben eines Ortes zu investieren. Im Rosenhaus kuratiert er mit anderen Künstlern und Aktivisten bis Ende Dezember mehrere Ausstellungen. Und er wird noch länger bleiben und versuchen, die Eigentümer davon zu überzeugen, das Gebäude zu erhalten.
„Es wäre toll, hier einen Ort zu schaffen, wo die Leute sein können, einfach so, ohne hundert Dollar Eintritt bezahlen zu müssen”, sagt Tom Young. „Das Rosenhaus könnte eine Insel sein in einer Stadt, in der Begegnung fast immer mit Konsum zu tun hat. Eine Art Kreativwerkstatt vielleicht. Jedenfalls für alle offen.“
Auf dem Weg nach Raouché fuhren wir mit dem Motorroller am alten Theater vorbei, dessen Saal der Opéra national de Paris nachempfunden ist. Während des Bürgerkriegs war es teils zerstört und lag unmittelbar an der Demarkationslinie, die die Stadt in Ost- und West-Sektoren teilte. Im Theater war in dieser Zeit ein Pornokino. Jetzt planen Investoren, aus dem Überbleibsel ein Hotel mit Einkaufspassage zu machen. Die Aktivisten der Gruppe „Save Beirut Heritage“, die sich jetzt dem Rosenhaus zugewendet hat, musste kapitulieren_._ In einer iPhone-Applikation für gefährdete Gebäude, die von der Gruppe programmiert wurde, prangen auf einer interaktiven Stadtkarte über dem Theater die Worte „too late“. Etwas weiter gewischt erscheint das Rosenhaus, mit dem Wort „urgent“ apostrophiert. Höchste Zeit also.
Wir nehmen den Rest der dritten Maulbeerschorle mit auf den Balkon. Eine hektische Palmenallee schnörkelt sich dort unten dem Wasser entgegen. Wir sehen die Küste, die Fischerboote, Fußgänger, Fahrräder.
„Meine Kinder wurden hier geboren, ich habe meinen Mann hier auf dem Balkon geheiratet“, sagt Fayza leise. Jetzt also der endgültige Abschied in die Erinnerungen.
Die Stadt ist am Nachmittag natürlich noch heißer, dicht aufgeladen, stickig. Zeit zu gehen.
Fayza möchte gleich noch in die Berge fahren. Und tief Luft holen.
Wer sich im Dezember in Beirut aufhält und auf der Suche ist nach einem tatsächlich einzigartigen Zugang zur Geschichte der Stadt, der besuche das Rosenhaus und eine der Veranstaltungen dort. Adresse: Maison Rose, Raouché, Beirut. Dienstag bis Samstag geöffnet.
Titelbild: Jasper Fabian Wenzel
Das Audiofile wurde erstellt von detektor.fm
Auch hierzulande weichen viele historische Gebäude Retorten-Neubauten. Wo sind die Gegenbeispiele? Wo entstand in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den letzten Jahren mutige, beispielhafte moderne Architektur, die das Stadtbild bereichert, statt zerstört?