Es soll Menschen geben, die schon im Bett auf dem Handy die neuesten Nachrichten abfragen. Dazu gehöre ich nicht. Mein Medientag beginnt auf der Autofahrt in unser Büro in Berlin-Kreuzberg, während der ich entweder NPR oder BBC World Service anschalte. Dass es sich dabei um englischsprachige Sender handelt, ist für meinen Medienkonsum bezeichnend – ich muss gestehen, dass ich teilweise besser über aktuelle Entwicklungen in China oder Mali informiert bin, als über solche aus Deutschland.
Langjährige Begleiter
Zu den deutschsprachigen Medien, die mich schon seit vielen Jahren begleiten, gehört die Süddeutsche Zeitung. Die abonniere ich, mit Unterbrechungen von längeren Auslandsaufenthalten, seit meiner Studienzeit in München Ende der 80er-Jahre. Auch heute werfe ich fast täglich wenigstens einen kurzen Blick hinein, checke die Schlagzeilen auf der ersten Seite und scanne das Panorama, bevor ich dann das Feuilleton und den politischen Teil durchblättere. Seitdem ich betterplace und das betterplace lab mache und wir viele Unternehmenskontakte haben, schaue ich gelegentlich in den Wirtschaftsteil rein.
An brand eins hänge ich, seitdem meine Freundin Ina und ich dort die ersten drei Jahre eine monatliche Kolumne zur kulturellen Globalisierung hatten (unsere erste handelte von Coca Cola in Trinidad und hier ist eine über Sexpics). In unserem Haus liegen außerdem Wired (UK und USA, von der deutschen Wired ist ja gerade erst die erste Ausgabe erschienen), Fast Company und GDI Impuls herum, alles Abos meines Mannes. Im Flugzeug greife ich als erstes zum Economist oder schnappe mir das Wochenend-Magazin der Financial Times. Mein liebstes Druckerzeugnis ist jedoch der New York Review of Books (NYREV), der mit seinem übergroßen Format alle zwei Wochen meinem Briefkasten sprengt. Der schafft es immer wieder, mich in völliges Themenneuland reinzuziehen; mich für „The Mental Life of Plants and Worms“ ebenso zu begeistern wie für eine Biographie von Coco Chanel.
On the Road
Da ich im Berliner Alltag nicht dazu komme, alle einzelnen Ausgaben erschöpfend durchzuarbeiten, nehme ich den NYREV oft in die Ferien mit. Auf Reisen lese ich ansonsten gerne lokale Zeitungen, sei es die Hindustan Times oder den Sydney Morning Herald. Glücklicherweise sind auch mein Mann und unsere zwei Kinder begeisterte Leser – wir können viele Stunden lesend in Cafes verbringen und dabei unzählige Minztees und Melanges trinken. Wenn in den USA, gehört die dicke Sonntagsausgabe der New York Times zu meiner Pflichtlektüre, wobei mich auch hier insbesondere der Book Review immer wieder anzieht. Glücklicherweise studieren meine Kinder in den USA in Städten mit phantastischen Buchläden. Der Bookstore des St. John’s College in Santa Fe ist eine wahre Fundgrube, klein aber fein. Und Powell’s in Portland ist an sich schon eine Reise in diese tolle Stadt in Oregon wert, handelt es sich doch um den größten Independent Bookstore der USA. Alleine in der Anthropology-Sektion kann man Stunden verbringen – letztes Mal war ich besonders erfreut, als ich dort mein Buch „Seeing Culture Everywhere“ sah. (Überhaupt ist es sehr cool, die eigenen Bücher im Buchladen zu finden. Gestern entdeckte ich in Berlin „Edwina ermittelt in Berlin“, einen Kinderkrimi, den ich gerade mit meiner Freundin Judith geschrieben habe).
Ein Sachbuch, ein Roman
Powell’s verlasse ich immer mit einem großen Stapel neuer Bücher, meist eine Mischung aus Sachbuch und Belletristik, die ich parallel lese. Momentan lese ich zum Beispiel Mark Epsteins neuestes Buch „The Trauma of Everyday Life“. In dem vergleicht der Mediziner die psychotherapeutischen Ansätze der Traumabewältigung mit denen der Mystik. Ausgangspunkt sind traumatische Erlebnisse im Leben von Buddha und wie dieser sie durch seine spezielle Meditationstechnik überwinden konnte. Eines der Sachbücher, die mich in letzter Zeit am meisten beeindruckt hat, ist ganz klar „Kongo“ des belgischen Autors David Van Reybrouck. Sehr gut gefallen hat mir auch „The Fat Years“ von Chan Koonchung, den ich im Frühjahr persönlich in Peking interviewen konnte. Momentan liegt „The Book of Strange New Things“ von Michel Farber auf meinem Nachtisch. Da ich erst fünf Seiten gelesen habe, kann ich aber noch nichts dazu sagen. Tipps für gute deutschsprachige Romane bekomme ich fast alle von meiner Freundin Renate, zum Beispiel Robert Seethalers „Der Trafikant“ oder „Frühling der Barbaren“ von Jonas Lüscher.
Auch wenn ich schon den dritten Kindle habe, lese ich doch die meisten Bücher auf Papier. Das ist viel sinnlicher, und man bekommt ein besseres Gefühl für das Werk als solches. Zum Beispiel, indem man weiß, wie lang ein Buch jeweils ist. Außerdem bin ich eine gnadenlose Annotiererin und Eckenkneiferin und kommentiere und unterstreiche eindrucksvolle Passagen.
Mein feedly
Das alles klingt jetzt so, als wäre ich ein analoger Mensch – eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Mindestens die Hälfte meines Medienkonsums findet online statt. Dabei ist feedly meine wichtigste Anlaufstelle – ich wundere mich immer wieder über alle, die behaupten, RSS-Reader seien tot. Auf feedly laufen meine wichtigsten Blogs zusammen, eingeteilt in „General“, „Anthropology“, „Development“ und „Digital-sozial“. Die checke ich mindestens einmal wöchentlich, oft am Wochenende. Seit meiner Zeit als aktive Kulturanthropologin verfolge ich Blogs wie Savage Minds, Culture Matters und Exporting China’s Development to the World.
Für meine Arbeit bei betterplace ist Lucy Bernholz’ Blog Philanthropy 2173 eine unersetzliche Inspirationsquelle, und ich war wahnsinnig froh, Lucy diesen Sommer für eine Woche mit dem gesamten Team vom betterplace lab in Frankreich zu treffen. Ein Ergebnis dieser Kollaboration, der Blueprint 2015, eine Vorschau aktueller Trends in der digitalen Zivilgesellschaft, erscheint Anfang Dezember. Spannend finde ich auch immer wieder My Heart’s in Accra, den Blog von Ethan Zuckerman vom MIT Media Lab, sowie danah boyds Blog zur digitalen Jugendkultur. Auf White African berichtet Eric Hershman aus der dynamischen digital-sozialen Szene in Kenia, während Patrick Meier vom Qatar Computing Research Institute auf irevolution über Digital Humanitarianism blogt. Die Analysen der Philanthropie-Geeks von Give Well und von Duncan Green gehören ebenfalls zu meiner Pflichtlektüre. Für mich relevant sind auch der Poverty Matters, Blog des Guardians, und die Website des Co:llaboratory (in dessen Beirat ich bin). Wenn ich ein bisschen mehr Zeit habe, schaue ich gerne die neuesten Kampagnen auf Osocio aus den Niederlanden an, stöbere im Stanford Social Innovation Review oder checke das weltweite Bloggernetzwerk von Global Voices.
Da ein Großteil meiner Arbeit aus Trendscouting besteht, scanne ich im Laufe des Jahres Hunderte von Blogs und Websites. Viele davon sind nur für ein Nischenthema, zum Beispiel digitale Nothilfe, relevant und ich besuche sie dementsprechend nur einmal. Auf andere, wie Beth Kanters Blog zur Social Media Nutzung von NGOs oder Sasha Dichters Kurzanmerkungen aus der Welt des Social Impact Fundraisings, klicke ich dagegen mehrmals im Monat.
Seit einiger Zeit verfolge ich Autoren, die sich mit dem Thema Contemplative Computing beschäftigen, also der Schnittstelle zwischen Technologie und Mindfulness oder Spiritualität. Dazu zählen Leute wie Alex Soojung Kim Pang oder Googles Meng Tan, die Meditation in den gesellschaftlichen Mainstream bringen möchten und digitale Medien für ein achtsameres Leben entwickeln. Nächstes Jahr plane ich, auf die Wisdom 2.0. nach San Francisco zu fahren, um einen besseren Einblick in diese Szene zu bekommen.
Zufallsfunde auf Twitter und Serienrituale
Die besten Zufallsfunde verdanke ich meinem Twitter-Feed und Nutzern wie Jan Chipchase, Clay Shirky (jetzt auf Ello, dem neuen „guten“ Social Network, welches ich auch gerade ausprobiere), David Rowan, Jörg Rheinbodt oder Björn Lampe (die letzten beiden aus dem betterplace-Netzwerk). Twitter ist für mich eine viel relevantere Informationsquelle als Facebook, auch wenn die meisten meiner persönlichen Freunde auf letzterem aktiv sind. Manchmal klicke ich völlig willkürlich auf interessant klingende Tweets, schon alleine um meine Filter Bubble bewusst zu durchbrechen. Ich gehöre auch zu den Menschen, die den sonntäglichen Tatort (ein Familienritual, zu dem wir uns zum TV-Dinner auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers einfinden) mit Twitter-Kommentaren ergänzen. Zwar fragen wir uns bei jeder zweiten Folge, wieso wir uns freiwillig Deutschlands ganze Tristesse regelmäßig ins Wohnzimmer holen, aber das Ritual ist so stark, dass es auch die unsäglichsten Drehbücher überlebt.
Unseren Fernseher nutzen wir ansonsten für DVDs oder gestreamte Serien. Den Auftakt meiner Serienleidenschaft machten die „Gilmore Girls“ in den frühen 2000ern, die wir mit unseren kleinen Kindern schauten. Die gute Beziehung zwischen Rory und ihrer Mutter Lorelai ist bestimmt einer der Gründe, weshalb meine Kinder sich mit mir so super verstehen – sie sind einfach ein gutes Vorbild. „West Wing“ war meine Folgedroge, und seitdem haben wir immer eine Serie am Start. „Homeland“ und „House of Cards“ gehörten dazu wie „Game of Thrones“ und „Sherlock“. Aber auch die Skandinavier sind gute Absender. Als ich im Frühjahr einen Monat in China geforscht habe, schaute ich vor dem Einschlafen immer noch eine Episode „Kommissarin Lund“. Die gleichen Leute produzierten später dann „Borgen“, auch sehenswert.
Medium und Meditation
Seit letztem Jahr bin ich regelmäßige Medium-Nutzerin. Deren Service anzuzeigen, wie lange die Lektüre eines Artikels in etwa dauern wird, finde ich extrem hilfreich. Medium-Empfehlungen erreichen mich via E-Mail, und meist klicke ich auf einen der Teaser. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Posts gut auf dem iPhone funktionieren und ich viele Artikel kurz mal zwischendurch – beim Warten auf einen Termin oder in der S-Bahn – lesen kann.
Newsletter haben bei mir eine kurze Halbwertzeit. Mindestens einmal pro Jahr, oft im Anschluss an mein E-Mail Sabbatical, bestelle ich 90 Prozent von ihnen wieder ab. Momentan schaffen es nur noch The Heretic, Tablet Hotels und die Do Lectures in meine Inbox.
Wenn ich auf meinen Medienkonsum der letzten Jahre zurückblicke, dann hat er sich stark verändert. In einem Satz würde ich sagen, dass ich von einer Informationsbulimie zu einem wesentlich selektiveren Umgang gefunden habe. Früher war Netvibes (als RSS-Reader) meine Startseite, und ich checkte viele Blogs täglich. Heute mache ich das nur einmal pro Woche und verfolge wesentlich weniger Quellen. Die Angst, wichtige Sachen zu verpassen, ist vergangen. Zum einen, weil es nur wenige wirklich wichtige Nachrichten gibt und mich zum anderen die spannendsten Debatten durch die Lektüre einiger weniger guter Knotenpunkte erreichen. Wenn ich beispielsweise Philanthropy 2173 lese, eröffnet sich mir eine ausreichend umfassende Perspektive auf den Diskussionsstand zu digitalen Medien und Zivilgesellschaft in den USA, und ich muss nicht noch alle möglichen andere Quellen checken.
Früher habe ich auch viel mehr Texte oberflächlich gescannt, während ich heute weniger, aber dafür aufmerksamer lese. Das gilt für Bücher ebenso wie für Blogs oder Zeitungen. Und statt in fast jeder freien Minute zum Handy, Laptop oder Buch zu greifen, verbringe ich heute mehr Zeit mit In-die-Luft-schauen. Diese Entwicklung ging irgendwie automatisch mit meiner intensiveren Meditationspraxis einher - mittlerweile ist es oft spannender, meine Innenwelt zu „lesen“ und verschiedene Bewusstseinszustände zu erforschen, als mein feedly zu checken.
Dr. Joana Breidenbach ist Kulturanthropologin und Autorin verschiedener Bücher („Tanz der Kulturen“ (2000), „Maxikulti“ (2008) und „Seeing Culture Everywhere“ (2009). Sie ist ist Mitgründerin von betterplace.org und leitet das betterplace lab.
In der von Christoph Koch betreuten Rubrik Medienmenü stellen regelmäßig interessante Persönlichkeiten die Medien vor, die ihr Leben prägen. Ihr könnt per Mail an christoph@krautreporter.de vorschlagen, wen er porträtieren soll.
Illustration: Veronika Neubauer