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Dies ist eine Geschichte, wie sie nur das 21. Jahrhundert schreiben kann. Eine Geschichte über Macht, alte Seilschaften und neue Allianzen. Eine Geschichte von Menschen, die sich nie persönlich begegnet und die doch alle irgendwie miteinander verbunden sind. Eine Geschichte, die vor eineinhalb Jahren einen entscheidenden Wendepunkt nahm und die mit dem Rücktritt einer ranghohen Politikerin enden sollte. Wie die meisten guten Geschichten beginnt auch diese Geschichte ganz harmlos. Sie beginnt in einem Wohnzimmer.
Die Bloggerin
Ursula Prem sitzt vor ihrem PC. „Ich liebe das Internet“, sagt die 46-Jährige und strahlt. „Ich brauche nichts anderes!“ Ihre Liebe zum Netz erwachte spät. Vor acht Jahren war sie zum allerersten Mal online. Damals beschloss die gelernte Opernsängerin, ihre Gesangskarriere an den Nagel zu hängen, um mehr Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. Sie bezieht die Parterre-Wohnung des Elternhauses in Freystadt, einer idyllisch gelegenen 8.500-Seelen-Gemeinde, eine halbe Auto-Stunde südlich von Nürnberg.
Statt weiter als Sängerin um die Welt zu reisen, erforscht sie fortan von zu Hause aus das World Wide Web. Mit einer Hand voll Mitstreitern, die sie in einem Autoren-Forum kennengelernt hat, gründet sie ein Literatur-Blog. Für gewöhnlich sind es bunte Gesellschaftsthemen, über die sie schreibt. Doch an diesem Tag im Mai 2013 verfasst sie einen Beitrag, der es in sich hat. Einen Blogpost, der eine Kettenreaktion in Gang setzen und in letzter Konsequenz das politische Schicksal von Christine Haderthauer besiegeln sollte.
Anfang 2013 sieht Ursula Prem ein Interview mit Gustl Mollath im Fernsehen. Darin beklagte sich der damals noch in der Psychiatrie eingesperrte Mollath über unhaltbare Zustände im Straubinger Bezirkskrankenhaus. Von Schlafentzug und anderen Schikanen ist die Rede. Prem schreibt an die damals zuständige Sozialministerin Christine Haderthauer. Sie tut das öffentlich, über die Online-Plattform Abgeordentenwatch.de. Die Ministerin antwortet, es ist Wahljahr. „Lauter nichts sagende Textbausteine“, so Ursula Prem. „Nicht ein Wort des Bedauerns oder gar ein Hinweis darauf, diesen Vorwürfen in irgendeiner Weise nachgehen zu wollen!“
Prem beschließt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie schreibt Gustl Mollath einen Brief. Mollath meldet sich telefonisch aus der Klinik, wiederholt Prem gegenüber die Vorwürfe aus dem TV-Interview. „Dabei erwähnte er auch eine Werkstatt, in der Patienten Modellautos basteln“. Die Bloggerin notiert sich ein paar Namen, um Mollaths Aussagen zu überprüfen. Sie lässt sich mit dem Chef der Modellbau-Abteilung verbinden, dem berühmt-berüchtigten Dreifachmörder, Roland S. “Ich habe so getan, als würde ich mich für Modellautos interessieren”, so Prem. Von S. erfährt sie den Namen des Gründers der Firma, ein gewisser Dr. Haderthauer. Der Name lässt die Bloggerin aufhorchen. Etwa der Haderthauer, Ehemann der für die Kliniken zuständigen Sozialministerin?
Eine tickende Zeitbombe
Die Geschäfte mit den Modellautos - eine tickende Zeitbombe für das Ehepaar Haderthauer. Die Anfänge der Affäre gehen zurück bis in die 90er Jahre. Mancher Politiker, sogar einige Journalisten wussten von der Produktion. Und doch verliefen erste Recherchen immer wieder im Sand. Auch im Januar 2013 kursieren bei Twitter Screenshots von Oldtimer-Modellen, die vor allem unter Mollath-Unterstützern die Runde machen. Ein gewisser @No1de twitterte am 19. Januar 2013 von einem Haderthauer-Rolls-Royce, der im Auktionshaus bei Christie’s mit 23.100 US-Dollar gelistet wird. Doch niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, was es mit den Autos auf sich hat. Und so kam es, dass die Sache auch diesmal keine Wellen schlug.
Auftritt Ursula Prem. Mit etwas „Tief-Googeln” spürt die Bloggerin die Modellautos auf und ermittelt Hinweise über deren Herkunft. “Wenn dieser Mann nicht so eitel gewesen wäre und die Modelle explizit als Dr. Haderthauer-Oldtimer ausgewiesen hätte, vermutlich hätte man die nie gefunden!“. Die Spur führt in den Wahlkreis von Christine Haderthauer nach Ingolstadt, wo die Sapor Modelltechnik ihren Sitz hat. Prem stattet der äußerlich unscheinbaren Firma einen Besuch ab, macht Fotos. Im Netz stößt sie auf eine weitere Postanschrift der Modellauto-Schmiede. Die selbe Anschrift, die in einem Wahlkreisvorschlag der CSU als Adresse für Kandidatin 104 angegeben wurde: Christine Haderthauer.
Ein Arzt, der Patienten für einen Hungerlohn Modellautos bauen lässt, die später zu schwindelerregenden Preisen gehandelt werden? Seine Ehefrau, die für die Aufsicht des Krankenhauses verantwortliche Ministerin? Über Abgeordentenwatch wendet sich Prem einmal mehr an Christine Haderthauer. Fast eine Woche vergeht, doch Haderthauer antwortet nicht. Prem hadert mit sich selbst. Ob sie mit ihren Recherchen wirklich an die Öffentlichkeit soll? Unter voller Namensnennung? „Irgendwann hab ich mir gedacht: Jetzt hol’s der Kuckuck und klick!“
Zwei Stunden darauf steht das Telefon der Bloggerin nicht mehr still. Mollath? Mörder? Modellautos? Journalisten von Hamburg bis München wittern eine große Story, lassen sich von Prem die Hintergründe erklären. Wenige Tage später berichten Stern, Spiegel, Süddeutsche und viele mehr. Der „Modellbau-Skandal“ ist geboren. Ob sie nicht sauer gewesen sei, dass man ihr die Geschichte entrissen hat? „Nein, wieso sollte ich?“, so die frühere Sängerin. „Ich war froh, dass die sich der Sache annehmen. Professionelle Journalisten haben doch ganz andere Möglichkeiten als ich!“
Der Journalist
Ortswechsel. Helmut Reister sitzt im Biergarten am Nockherberg und steckt sich eine Zigarette an. Der freiberufliche Journalist verkörpert das Klischee eines klassischen Zeitungsreporters: gut vernetzt, immer ein Ohr am Telefon, kettenrauchend. Wann immer ein politischer Skandal in der Luft liegt, nimmt der 60-Jährige die Fährte auf, lässt nicht locker, bis er etwas ausgegraben hat. Ein investigativer Journalist durch und durch. Er selbst kann mit dem Begriff „Investigativer Journalismus“ nichts anfangen. „Journalismus ist immer investigativ“, so Reister. “Wenn er es nicht ist, ist das kein Journalismus.“
Wer Helmut Reister gegenüber sitzt und ihm zuhört, fühlt sich an die Figur des Baby Schimmerlos aus der TV-Gesellschaftssatire Kir Royal erinnert. Diese Abgeklärtheit und die vielen skurrilen Geschichten, die er zu berichten weiß. Wie Dr. Haderthauer angeblich einmal dem besagten Dreifachmörder zu einem Freigang verholfen habe, damit dieser im Wochenendhaus eines Geschäftspartners entspannen kann. „In einer Jagdhütte, inklusive Schusswaffen und Munition!“
Journalismus ist immer investigativ. Wenn er es nicht ist, ist das kein Journalismus.
Helmut Reister
Mit dem Blogpost habe alles angefangen, so Reister. „Durch den Text sind die Medien überhaupt erst auf die Modellautos aufmerksam geworden.“ Reister beginnt damit, eigene Nachforschungen anzustellen, veröffentlicht den ersten Medienbericht zur Modellbauaffäre bei stern online. Er besucht den Dreifachmörder in der Klinik, macht einen weiteren langjährigen Geschäftspartner des Ehepaars Haderthauer ausfindig.
Wochenlang sorgen die Haderthauers für Schlagzeilen. Doch irgendwann ist die Geschichte durch. Die Klickzahlen im Netz lassen nach. Man wendet sich wieder anderen Themen zu. Die Redaktionen verlieren das Interesse an weiteren Recherchen. Haderthauer? Kalter Kaffee. „Die Abendzeitung war damals meine einzige Anlaufstelle“, so Reister „und das, obwohl es der finanziell am dreckigsten ging.“ Tatsächlich geht das Münchner Traditionsblatt nur wenig später in die Insolvenz.
Als Christine Haderthauer bei den Landtagswahlen im Herbst in ihrem Ingolstädter Wahlbezirk ein Rekordergebnis einfährt, sind die Geschäfte mit dem Mörder und den Modellautos endgültig vergessen. Horst Seehofer befördert die Sozialministerin zur Chefin seiner Staatskanzlei, manche sehen in ihr sogar eine Anwärterin für das Ministerpräsidentenamt. Haderthauer am Höhepunkt ihrer politischen Karriere.
Die Netzaktivisten
Doch die Politikerin hat ihre Rechnung ohne Nixe Muschelschloss gemacht. Schon einmal hätte die Netzaktivistin einer Ministerin beinahe den Job gekostet. Im Fall Mollath trug Muschelschloss mit ihren unzähligen Tweets dazu bei, dass Justizministerin Merk immer weiter in die Defensive geriet. Chefredakteure, Korrespondenten und Reporter aus der ganzen Welt folgen der geborenen Münchnerin auf Twitter. „Es ist schön, dass man Journalisten mit der Nase auch mal auf was drücken kann, wenn’s nötig ist“, sagt sie.
Helmut Reister ist einer davon. Der Reporter und die Bloggerin halten sich stets gegenseitig auf dem Laufenden. Die Kommunikation erfolgt online, oft bis tief in die Nacht. Dokumente, Fotos, Screenshots wandern hin und her. „Die Nixe ist gut, weil sie nix vergisst“, so der gelernte Zeitungsmann. Sie sei extrem gut vernetzt und unglaublich hartnäckig. „Manchmal zu hartnäckig.“ Der Reporter grinst, drückt seine Zigarette aus. „Aber das passt schon.“
Es ist schön, dass man Journalisten mit der Nase auch mal auf was drücken kann, wenn’s nötig ist.
Nixe Muschelschloss
Seit geraumer Zeit folgen der Netzaktivistin auch immer mehr hochrangige CSU-Politiker. Muschelschloss ist das personalisierte schlechte Gewissen der Partei. Im Wahlkampf vor einem Jahr ließ das Social-Media-Team von Ministerpräsident Seehofer regelmäßig ihre kritischen Fragen auf Facebook löschen, was der Parteisprecher auf Nachfrage auch gar nicht abstreitet. Er bezeichnet Nixe Muschelschloss als „Spam-Tante”, was in Bayern vermutlich soviel bedeutet wie Troll. „Ich bin in Bayern geboren“, so Muschelschloss, „da gehen die Uhren immer ein bisschen anders.“
Auch im Fall Haderthauer ist sie mit ihren Tweets vom ersten Tag an dabei. Kein Bericht, den die ehemalige Bankangestellte nicht kennt. Kein Zusammenhang, der ihr verborgen bleibt. Anfangs begnügt sich die Netzwerkerin damit, Texte zu sammeln und bei Twitter und Facebook zu verbreiten. Später fängt sie selbst an zu bloggen, veröffentlicht Originaldokumente, die ihr von befreundeten Journalisten und aus Parteikreisen zugespielt werden. „Angefangen hat es mit Mollath“, sagt Nixe Muschelschloss. „Da ist mir überhaupt erst aufgefallen, was sich oft für ein Dreck hinter den Kulissen der Politik abspielt!“.
Einen Mitstreiter findet Muschelschloss in Ernst von All, der schon früh ein beachtliches Text-Archiv zum Fall Haderthauer angelegt hat und bis zum heutigen Tag pflegt. „Mit meiner Sammlung wollte ich etwas Struktur in das doch sehr komplexe Thema reinbringen“, so der Betriebswirt. Ernst von All, der natürlich nicht wirklich so heißt, leistet mit seiner Sammlung weit mehr, als nur für mehr Durchblick zu sorgen. Als die Haderthauers dafür sorgen, dass einzelne Artikel im Netz gelöscht werden, wird die Seite des 48-Jährigen zur einzigen Anlaufstelle im Netz, die noch sämtliche Texte, auch die verschwundenen, im Original-Wortlaut vorhält.
No1de, Nixe Muschelschloss, Ernst von All - drei Netzaktivisten und Multiplikatoren im Netz rund um den Modellauto-Skandal. Eine Zweckgemeinschaft aus Individuen, die sich persönlich nie begegnet sind und die größten Wert darauf legen, anonym zu bleiben. Anonymität, die natürlich Fragen aufwirft. Was treibt sie an? Und: Ist es nicht feige, ohne Klarnamen aus dem Verborgenen zu agieren? „Jein“, sagt Dietrich Mittler, der im Fall Haderthauer für die Süddeutsche Zeitung recherchiert hat. „Diese Leute müssen sich ja auch irgendwo schützen.“
Dass Schutz durch Anonymität bei so einflussreichen Persönlichkeiten wie den Haderthauers durchaus angebracht ist, zeigen die diversen Einschüchterungsversuche, mit denen die Eheleute ihre Kritiker bekämpfen. Obwohl Christine Haderthauer nach außen immer wieder betont, bei der Aufklärung der Vorwürfe behilflich sein zu wollen, fährt die Staatskanzleichefin hinter den Kulissen schwere Geschütze auf, um das genaue Gegenteil zu bewirken.
Der Anwalt
Artikel verschwinden aus dem Netz, Medien werden aufgefordert, bestimmte Behauptungen nicht mehr aufzustellen. Für den Fall der Zuwiderhandlung wird ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro oder Ordnungshaft beantragt. Mit dieser Aufgabe betraut Hubert Haderthauer nicht irgendeinen Wald- und Wiesenanwalt. Dr. Klaus Rehbock, zu dessen Klienten einst die frühere CSU-Landrätin Gabriele Pauli zählte, ist Co-Autor des Fachbuchs: „Widerruf, Unterlassung und Schadensersatz in den Medien”. Auf der Webseite seiner Kanzlei rühmt sich der Jurist mit den Erfolgen, die er gegen unterschiedliche Medienhäuser erzielt hat.
Anfangs geht das Konzept auf. Weil einige Journalisten Informationen aus anderen Texten ungeprüft übernommen haben, hat der Anwalt leichtes Spiel. Nur wenige Medienvertreter können ihre Behauptungen belegen und lassen es auf einen Prozess ankommen. Unter ihnen der freie Journalist Helmut Reister. Reister wird für Haderthauer immer mehr zum Problem. Niemand fördert so viele brisante Dokumente zutage wie er. Niemand ist so gut vernetzt, on- wie offline. Andere schreiben, er liefert die Beweise.
Die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht München erreicht Helmut Reister im Juni. Als Prozesstermin wird der 1. Oktober angesetzt. Auch rhetorisch wird der Druck auf den Freiberufler erhöht. „Haderthauers Anwalt hat mich telefonisch darauf hingewiesen, er könne eine neunzigprozentige Erfolgsquote vorweisen“. Sorgen habe er sich keine gemacht, sagt Reister. „Ist halt saumäßig viel Arbeit, die ganzen Unterlagen für die Anwälte zusammenzustellen.“
Da wurden Menschen eingeschüchtert, bevor ein Artikel oder Blogbeitrag überhaupt erschienen ist.
Dietrich Mittler
Dann aber macht das Team Haderthauer einen strategischen Fehler. In einem „Informationsschreiben“, das Klaus Rehbock nach einer parlamentarischen Ausschusssitzung an die Landtagskorrespondenten von dpa, SZ, BR sowie ZDF verschickt, warnt der Haderthauer-Anwalt die Medienvertreter präventiv, „dass eine Berichterstattung über Dr. Hubert Haderthauer nicht zulässig ist“. Auch der Blogger Heinrich Bruns, der an dem Tag eher zufällig die parlamentarische Sitzung besucht hatte, erhält das Schreiben.
Die großen Medienhäuser reagieren verschnupft. „Da wurden Menschen eingeschüchtert, bevor ein Artikel oder Blogbeitrag überhaupt erschienen ist“, erinnert sich Dietrich Mittler von der Süddeutschen Zeitung. „Für mich ein ernsthafter Angriff auf die Pressefreiheit.“
Das Gift wirkt. Heinrich Bruns bloggt, aber er schreibt nicht über die Haderthauers, sondern über Kartoffeln. Die Kartoffel als Platzhalter für den, über den man nicht spricht. So wie man das in Diktaturen gemacht hat, wenn man nicht riskieren wollte, den eigentlichen Adressaten beim Namen zu nennen. „Sicher ist sicher“, so Bruns. „Als einfacher Blogger kann ich mir keinen Rechtsstreit leisten, selbst die Androhung einer Abmahnung würde mich finanziell hart treffen.“
Ein juristischer Maulkorb, der es Bloggern und Journalisten verbieten soll, über Vorgänge zu informieren, die in einer öffentlichen Sitzung im Landtag behandelt werden? Eine Steilvorlage für die parlamentarische Opposition, die diesen Vorgang politisch ausschlachtet. Dazu gibt die Grünen-Fraktion ein Gutachten (PDF) in Auftrag, das kein gutes Haar an den Ausführungen des Haderthauer-Anwalts lässt.
Die Schlacht
Sender und Verlage haben jetzt endgültig genug von den Faxen aus Haderthauers Anwalts-, respektive Staatskanzlei. Die Recherchen werden intensiviert. Ob Blogger oder Berufsjournalist spielt ab diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. „Wenn das Schule macht, dann ist der Journalismus ernsthaft in Gefahr“, so SZ-Redakteur Dietrich Mittler. „Dann könnte jeder Politiker, dem was nicht passt, Unterlassungsklagen verschicken und dann ist Ruhe.“ Der Fehdehandschuh ist geworfen.
Die Haderthauers schießen jetzt aus allen Rohren. So erhält die Süddeutsche Zeitung die an andere Medienhäuser gerichtete Klageschrift des Dr. Hubert Haderthauer unaufgefordert als E-Mail-Anhang zugeschickt. Absender: die Bayerische Staatskanzlei. Umgekehrt bedient sich der Haderthauer-Anwalt bei seinen Unterlassungsklagen aus dem Pressespiegel des Hauses. Unterlagen, die ausdrücklich nur für den internen Gebrauch deklariert sind. Verkehrte Welt: Ausgerechnet für die Aufforderung, die Privatgeschäfte seines Klienten sauber von den Amtsgeschäften der Ehefrau zu trennen, nutzt der Jurist Ressourcen aus dem Büro der Staatsministerin.
Schlampigkeit oder bewusste Einschüchterungstaktik? Anruf aus der Staatskanzlei beim Bayerischen Rundfunk. Ein Pressesprecher hat Probleme mit einem Radiobeitrag von Rudolf Erhard, einem langjährigen Landtags-Korrespondenten des Hauses. Der Reporter möge eine Passage über die angeblich „horrenden Gewinne“ durch den Verkauf der Modellautos doch bitte aus seinem Beitrag streichen. Erhard denkt gar nicht daran, seinen Bericht zu ändern. Der erfahrene Radiomann dreht den Spieß um, will wissen, warum ausgerechnet ein Sprecher der Staatskanzlei in einer Privatangelegenheit der Eheleute Haderthauer tätig wird.
Es gibt nicht viele Medienhäuser, die es auf einen Krieg mit der Staatskanzlei ankommen lassen
Helmut Reister
Ein keineswegs selbstverständlicher Schritt und auch nicht völlig ohne Risiko. Die Staatskanzlei-Chefin sitzt zu diesem Zeitpunkt nämlich noch im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks und hätte der Karriere eines BR-Journalisten empfindlichen Schaden zufügen können. Schriftliche oder telefonische Beschwerden an höchster Stelle, nicht unüblich in öffentlich-rechtlichen Anstalten. „Es gibt nicht viele Medienhäuser, die es auf einen Krieg mit der Staatskanzlei ankommen lassen“, so der Freiberufler Helmut Reister. Die Vernetzung von Politik und Medien sei schon extrem.
Beim Bayerischen Rundfunk wie auch bei den großen Tageszeitungen beißen die Haderthauers auf Granit. War der Medien-Anwalt mit seinen Unterlassungsaufforderungen anfangs noch zumindest teilweise erfolgreich, lassen Sender und Verlage von nun an nichts mehr anbrennen. Die Redaktionen fördern immer neue Dokumente zur Modellauto-Affäre zutage, widerlegen frühere Aussagen von Christine Haderthauer. Auch für Horst Seehofer wird die Sache zunehmend brenzlig. Der CSU-Chef beginnt damit, sich von seiner Staatskanzleichefin öffentlich zu distanzieren. Der Rest ist Geschichte.
Der Rücktritt
Die Eilnachricht vom Rücktritt verkündet Nixe Muschelschloss am Abend des 1. Septembers stilgerecht in den Sozialen Netzwerken. Ein Moment des Triumphes? „ Ja freilich!“, sagt sie. „Ich hab’ auf Twitter geschrieben, ich trink a Mass!“. Es hätte ja auch anders ausgehen können. Bloggerin Ursula Prem erfährt von dem Rücktritt telefonisch über eine Bekannte. Genugtuung habe sie aber nicht empfunden, sagt sie. “Ich war froh, dass die Frau gehen musste, leider aus dem falschen Grund. Sie hätte gar nicht erst Ministerin werden dürfen.“
Wie sich das anfühle, wenn man mit einem Blogpost vom Wohnzimmer aus eine Ministerin abgeschossen - wohlmöglich sogar verhindert hat, dass Christine Haderthauer am Ende noch Horst Seehofer als Ministerpräsidentin beerbt? „Das war ich ja nicht allein“, so Prem. „Ohne den Tipp von Mollath, ohne die Journalisten von der Presse, die weiter recherchiert haben, wäre die Sache im Sande verlaufen. Da waren viele daran beteiligt.“
Es scheint, als hat sich etwas verändert im Machtgefüge der Republik. Etablierte Netzwerke aus Politikern auf der einen Seite und Journalisten auf der anderen Seite treffen auf eine Phalanx digitaler, gut vernetzter Bürger. Blogger, Netzaktivisten und Bürgerjournalisten als Kontrolleure der Kontrolleure - eine neue, Fünfte Gewalt im Lande?
Jeder Blogger ist für sich eine eigene kleine Zeitung.
Dietrich Mittler
SZ-Journalist Dietrich Mittler sieht in den Amateuren weit mehr, als nur reine Tippgeber: „Jeder Blogger ist für sich eine eigene kleine Zeitung“, sagt er. „Jeder, der mit einer Information als Erster auf den Markt kommt, steht mit seiner Marke für sich. Andere Medien greifen das auf, recherchieren und kommen zu neuen Ergebnissen, von denen wiederum der Blogger profitieren kann.“
Der freie Journalist Helmut Reister ergänzt: „Früher hingen wir alle überwiegend am Tropf der Nachrichtenagenturen“. Durch das Web gebe es heute unendlich viel Material. Dadurch gehe aber auch Vieles unter. Die Leute im Netz beobachten die Medien, helfen den Journalisten aber auch, diese neue Informationsflut zu bewältigen. Wenn er an die Print-vs.-Online-Diskussionen denke, die gerade beim Stern oder beim Spiegel geführt würden, das seien Prozesse, die hätten schon vor zehn Jahren stattfinden müssen. „Print oder Digital, Profis oder Amateure, wen kümmert das?“, so der 60-Jährige. Das gehöre alles zusammen, das sei eine Einheit. „Anders geht’s doch heute gar nicht mehr!“
Die Modellbau-Affäre im Zeitstrahl
Tiefere Einblicke in den Verlauf der Modellbau-Affäre gibt es in einer interaktiven Grafik, die das Team von Open Data City für diese Geschichte erstellt hat. Ein Screenshot ist bereits über dieser Geschichte zu sehen. Hier ist die interaktive Datengrafik aufrufbar. Es beginnt mit einer Hand voll Tweets und einem Blogpost. Schließlich die ersten Medienberichte. Im weiteren Verlauf stimulieren sich Twitter und professionelle Berichterstatter gegenseitig. Dieser „Tanz“ aus Lesern, die jetzt auch Sender sind, mit den klassischen Journalisten, ausgerollt auf einem Zeitstrahl. Klickt von Event zu Event, zoomt heran und seht, wie intensiv Publikum und Medien über den Verlauf der Affäre hinweg kommunizieren. (Danke an das Team von OpenDataCity.de !)
Offenlegung: Der Autor arbeitet als freier Mitarbeiter u.a. beim Bayerischen Fernsehen
Das Audiofile wurde erstellt von detektor.fm