Sie haben mich gebeten, drei Lieblingsreportagen zu nennen. So etwas wie eine „Lieblingsreportage“ habe ich gar nicht. Ich lese in jeder Woche ein oder zwei Reportagen, die ich für besser halte als den Durchschnitt. Und natürlich verpasse ich einige andere, die auch gut sind. Ich mag Geschichten, die sich um kleine, scheinbar nicht weltbewegende Themen drehen und die trotzdem etwas erzählen über die Welt. Eine bewegende Geschichte zum Beispiel über eine Hungerkatastrophe zu schreiben, ist notwendig und ehrenwert. Man bekommt oft Preise dafür. Aber ich werde nie den Verdacht los, dass Filme und Bilder über Katastrophen und Kriege die stärkere Wirkung haben, egal, wie gut man schreibt. Bilder können lügen? Ach, wissen Sie, das können Autoren auch.
Ich erinnere mich an eine Geschichte über einen alten Hund: „Ein Hund fürs Leben“ von Jens Mühling („Tagesspiegel“ 2014). Im Grunde ist das eine Geschichte über Liebe, die Liebe einer Frau zu einem sterbenden Hund, den sie nicht einschläfern lassen möchte. Sie trägt ihn täglich die Treppe ihres Mietshauses hinunter, damit er im Garten ein paar wacklige Runden dreht, und ein Nachbar zeigt sie wegen Tierquälerei an. Das Tier gehört eingeschläfert! Nun setzt sich der Staatsapparat in Bewegung, und mit beachtlichem behördlichem Aufwand, auch an Kosten, soll der Tod eines Hundes durchgesetzt werden. Es ist auch eine politische Geschichte, darüber, dass der Staat sich um bestimmte Dinge nicht kümmern sollte, nicht um die Liebe, nicht um Nachbarn, die sich zu Richtern berufen fühlen.
Ich erinnere mich an einen Klassiker, den jeder kennt. Aber wenn ihr mich nach meinen Lieblingsfilmen fragt, statt nach Reportagen, dann ist halt auch „Casablanca“ dabei, ich kann’s nicht ändern. Hans Zippert schreibt in „Der Tag, an dem mich der Schlag traf“ („Die Welt“ 2010) über seinen Schlaganfall. Er hat einen Preis dafür bekommen, das gibt es also auch. Inmitten dieses unerfreulichen Ereignisses verliert er nicht den Witz, es ist ein sehr lustiger Schlaganfall, sofern man ihn nicht selber abkriegt. Das bewundere ich - wenn jemand mit Distanz und Selbstironie über ein eigenes Unglück schreiben kann, ohne jedes Selbstmitleid. Distanz ist oft wichtiger als Nähe, beim Schreiben, egal, worum es geht.
Mit Sophie Dannenbergs „Mannomann, diesmal sind die Alten dran“ („Tagesspiegel“ 2004) verbindet mich eine Geschichte, die ich in einer Kolumne aufgeschrieben habe. Ist dieser Text überhaupt eine Reportage? Es geht um das Grips-Theater, Deutschlands berühmteste Bühne für Kinder und Jugendliche, x-fach ausgezeichnet, schwerst emanzipatorisch und ultrakritisch. Als Kind ist die Autorin oft dort gewesen. Als junge Erwachsene beschreibt sie ihre Grips-Erfahrungen als eine Art geistigen Kindesmissbrauch, als Manipulation. Ihre These: Grips will die alten Autoritäten nicht stürzen, um die Kinder frei zu machen, sondern um sich selbst und seine Weltsicht an deren Stelle zu setzen. Sie hat das 2004 geschrieben, aber nach dem Skandal um die Odenwaldschule liest es sich noch mal anders. Zur Klarstellung: Bei Grips ging es, so weit mir bekannt ist, nicht um Sex, nur um geistige Herrschaft.
Der Oberguru von Grips hat fast alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel eingesetzt, um den Abdruck zu verhindern. Der Text erschien gekürzt und entschärft. Der Guru wollte keine Kritik an seinem doch so kritischen und zur Kritik ermunternden Theater ertragen. Für mich, bis dahin ein Fan von Grips, bedeutete diese Geschichte und das ganze Drumherum aus Drohungen und Anrufen bei meinen Vorgesetzten eine biographische Wende, ich glaube diesen Volkspädagogen seitdem nichts mehr. Links und Rechts ist mir nicht mehr wichtig, beim Umgang mit Leuten. Es gibt faire und offene Leute und es gibt unfaire und verlogene Leute, nur darauf kommt es an.
Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist Redakteur beim „Tagesspiegel“ und Kolumnist beim „Zeit“-Magazin. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Buch „Die neuen Leiden des alten M.“
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer