Der Krieg und ich
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Der Krieg und ich

Der Krieg, das ist der Krieg, der zwischen 1991 und 1995 in Kroatien und Bosnien geführt wurde. Und ich, Danijel Višević, geboren und aufgewachsen in Deutschland. Dieser Krieg und ich, wir haben nichts miteinander zu tun. Eigentlich.

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Lange habe ich nicht verstanden und nicht einsehen wollen, dass sich dieser Krieg stark auf mein Leben ausgewirkt hat. Und dass er das noch immer tut, obwohl ich nicht von ihm betroffen war, schon gar nicht an ihm beteiligt. Die Opfer, das waren die hunderttausend Toten, die Millionen Flüchtlinge, die vergewaltigten Frauen, die vor Schüssen fliehenden Passanten auf der Sniper Alley in Sarajevo, der abgemagerte Mann am Zaun eines Gefangenenlagers.

Und doch wird mir zunehmend bewusst, heute, in einer Zeit, in der so viele Kriege wie lange nicht mehr geführt werden, dass dieser Krieg das einschneidende Erlebnis meiner Jugend war.

Partisanen schießen nur vor die Füße

Als er ausbrach, ging ich in Frankfurt am Main zur Schule, ich war vierzehn Jahre alt, hörte Guns N’Roses, Die Ärzte und Nirvana, trug eine feste Zahnspange und war verliebt in Nina aus meiner Klasse. Jeden Mittwoch hatte ich nachmittags anderthalb Stunden muttersprachlichen Unterricht. Jugoslawisch. Ich saß neben meinem Freund Branko, und wir lernten, dass die Partisanen ihren Feinden im Kampf immer nur vor die Füße geschossen hatten, dass die jugoslawische Armee die drittstärkste Europas war und die Olympischen Spiele in Sarajevo die erfolgreichsten aller Zeiten. Wir lernten zusammen Serbo-Kroatisch, lernten die Sprache mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben schreiben und malten häufig die jugoslawische Fahne und die der sechs Teilrepubliken mit vielen roten Sternen. Eines Tages wurden Branko und ich von Frau Bošković auseinander gesetzt, wir waren nicht mehr Jugoslawen sondern Serben und Kroaten. Branko lernte auf der linken Seite des Klassenraums alles nur noch in kyrillischer Schrift, ich auf der rechten nur noch in lateinischer.

Meine Eltern fingen an, jeden Abend durchgehend Nachrichten zu schauen, kroatisches Radio zu hören und mit meinen Verwandten zu telefonieren. Manchmal begann meine Mutter zu weinen, wenn das Telefon klingelte. Sie hat zehn Geschwister, mein Vater fünf, die meisten unserer Verwandten leben in Kroatien und Bosnien. Vier meiner Onkel und sechs meiner Cousins waren Soldaten. Einige meiner Verwandten mussten aus ihren Häusern fliehen, zeitweise lebten sie auch bei uns in Frankfurt. Alles in allem hatten wir aber großes Glück, weil niemand aus unserer Familie getötet wurde. Nur Onkel Zoran wurde schwer verletzt durch eine Mine.

In Bosnien liegen noch immer mehr als 100.000 Minen.

In Bosnien liegen noch immer mehr als 100.000 Minen. Foto: Danijel Višević

Applaus für die Nationalität

Mein neuer Sitznachbar im Jugoslawisch-, später Kroatisch-Unterricht, war Domagoj. Mit ihm ging ich samstags auch zu einem Religionsunterricht, der von der kroatisch-katholischen Kirche veranstaltet wurde. Bei unserer Firmung standen wir im Frankfurter Dom vor der kroatisch-katholischen Gemeinde am Altar nebeneinander und wurden vom Bischof gefragt, welche Nationalität wir haben. Weil ich mir nicht ganz sicher war, zögerte ich und Domagoj sprach ins Mikrofon: “Kroatisch”. Es gab Applaus, langanhaltenden, und der Bischof tätschelte seinen Kopf.

Wir werden gewinnen, ganz gleich, ob sich auch heute wie früher schon die Feinde Serbiens außerhalb des Landes mit denen innerhalb des Landes verbünden. Ihnen richten wir aus, dass wir kein bisschen ängstlich sind, und dass wir in jeden Kampf gehen.
Slobodan Milošević am 19. November 1988 in Belgrad vor mehr als 100.000 Menschen

Es war der Moment, in dem ich begann, über meine Nationalität nachzudenken. Nicht, dass mich das vorher nie beschäftigt hätte: Als ich in Kaiserslautern in die Schule kam, hatte die Lehrerin uns gebeten, freundlich zu den beiden Ausländern in der Klasse zu sein, Ali und Danijel, sagte sie und zeigte auf einen schüchternen Jungen und mich. Und als meine Eltern nach Frankfurt zogen und ich die Schule wechselte, tadelte die neue Lehrerin einmal die gesamte Klasse, weil es beim Diktat nur eine Eins gab und die hatte ausgerechnet einer bekommen, der nicht mal Deutscher ist.

Es gab also einige Momente in meiner Kindheit, die mich veranlassten, über meine Nationalität nachzudenken, doch das Ereignis im Frankfurter Dom hatte alles in einen neuen Kontext gestellt. Es war vor allem dieser Applaus, der mich irritierte. Was war an Domagojs Antwort so toll gewesen?

Wenige Wochen später hörte ich mit meinen Eltern im kroatischen Radio, die Serben hätten sich bewaffnet, um den Kroaten ihre Freiheit zu nehmen. “Nur weil wir den tausendjährigen Traum von unserer Unabhängigkeit verwirklichen wollen”, sagte die Stimme, “wollen sie uns töten”.

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Noch ein paar Wochen später brach der Krieg aus, meine Onkel und Cousins wurden Soldaten und die ersten Verwandten flohen.

Die jugo-serbische Kriegsmaschinerie, die in ihrer Rüstung aus Angst zittert vor der Entschlossenheit des kroatischen Menschen und vor dem Zorn des leidenden kroatischen Volkes, erwartet nichts anderes als die beschämende Niederlage.
Franjo Tuđman am 5. Oktober 1991 in einem Aufruf im kroatischen Fernsehen

Schießen mit einer Kalaschnikow

Trotz des Krieges fuhren wir in den Sommerferien nach Kroatien und Bosnien, und während einer längeren Waffenruhe besuchten wir auch unsere Verwandten an der Front. Ein Kamerad von Onkel Zoran ließ mich mit seiner Kalaschnikow auf Flaschen schießen, die etwa zwanzig Meter entfernt standen. Noch immer spüre ich den Rückstoß des Gewehrs, und ich habe seinen Geruch in der Nase. Auch ich wollte damals kämpfen, die Heimat meiner Familie verteidigen, doch ich war als Vierzehnjähriger zum Glück zu jung.

Wäre ich drei Jahre älter gewesen, wäre ich in den Krieg gezogen? Das war die Ausgangsfrage, als ich 2011 anfing, meinen Roman zu schreiben. Zwei Bekannte von mir aus Frankfurt, die damals schon siebzehn und achtzehn Jahre alt waren, taten das. Beide kamen Monate später zurück, verstört, verängstigt, völlig verändert.

In meinem Roman geht es um einen Deutschen, dessen Eltern, wie meine, aus Livno stammen. Als die Region im April 1992 von serbischen Truppen angegriffen wurde, erschoss Michael im Graben einen Serben. Im Portemonnaie des Soldaten fand er Bilder von dessen Frau und ihren beiden Kindern. Zwanzig Jahre später hat Michael selbst zwei Kinder, und seine Frau Inga bringt eine Babysitterin mit nach Hause, von der er glaubt, dass sie die Tochter des Menschen ist, den er getötet hat.

Am 23. April 1992 in Rujani/Livno von Kroaten zerstörter T-84-Panzer

Am 23. April 1992 in Rujani/Livno von Kroaten zerstörter T-84-Panzer Foto: Danijel Višević

Eine heroisierte Abwehrschlacht

Seit ich den Roman schreibe, besuche ich für die Recherche meine Verwandten in Kroatien und Bosnien regelmäßig, besonders meinen Onkel Zoran. Er war bei der Schlacht am 23. April 1992 dabei, als serbische Verbände die Dörfer meiner Verwandten angriffen. Die Verteidigung Livnos wird heute von Kroaten als historischer Sieg gefeiert, der mit zur Wende im Jugoslawien-Krieg geführt haben soll.

Bei den Jubiläumsfeiern habe ich über meinen Onkel weitere Veteranen kennen gelernt und viel über den Krieg erfahren, über Posttraumatische Belastungsstörungen, über zerrüttete Familien und Kinder ohne Hoffnung. Ich war auch in Belgrad und habe die Serben getroffen, die auf der anderen Seite der Front standen, Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen, zerrüttete Familien, auch deren Kinder desillusioniert.

Kriege zerstören über Generationen hinweg

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass 400.000 Menschen in Bosnien- Herzegowina unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden - das ist ungefähr jeder zehnte Einwohner des Landes. Lokale Verbände, die sich um die Traumatisierten kümmern, gehen von bis zu 1,7 Millionen aus.

https://www.youtube.com/watch?v=-polZT8fjTg

Dieser Krieg ist nicht zu Ende, auch wenn die Waffen schweigen.

Kriege verstrahlen Menschen und ihre Kinder über Jahrzehnte hinweg. Und sie strahlen auch in die Breite, bis zu Verwandten und Freunden, die weit entfernt leben und vom Krieg völlig unbetroffen zu sein scheinen.

Dieser Krieg ist das größte Unglück, das mir in meinem Leben bisher geschehen ist. Ohne Zweifel. Das merke ich manchmal konkret, manchmal unvermittelt.

Konkret zum Beispiel, wenn ich Taxi fahre, der Fahrer bemerkt, dass ich kroatische Wurzeln habe und er sich als Serbe zu erkennen gibt, wir uns über unsere Verbindung zu Ex-Jugoslawien unterhalten, über den Krieg, über unsere Betroffenheit, unsere Verwandten, wenn der Fahrer dann erzählt, dass er Soldat war und sein Bruder auch, der gefallen ist, dass er trotzdem eine kroatische Frau geheiratet hat und die Ehe aber schwierig ist, weil ihm sein Bruder nicht aus dem Kopf geht, und dann bekommt der Taxifahrer feuchte Augen, winkt ab und umarmt mich.

Oder wenn ich meinen Cousin besuche, der einen Gehirntumor hat und ich ihn frage, wie es ihm geht, er aber statt über seine Krankheit zu sprechen, in die Leere starrt und von Alpträumen erzählt, die ihn jede Nacht wecken. Er steckt mit seinen Stiefeln im Schlamm fest, kann sich aus ihnen nicht befreien, die serbischen Truppen rücken immer näher, Salven aus Maschinengewehren, ratatatata. Und dann schüttelt er sich, sieht mich an und sagt, es gehe ihm eigentlich ganz gut.

Die Trauer über diesen Krieg trifft mich häufig auch unvermittelt, es reicht der Fetzen eines Liedes von damals, es müssen nicht mal Bands aus Ex-Jugoslawien sein, Bijelo Dugme, Crvena Jabuka oder Merlin, auch meine Assoziation bei zum Beispiel And Justice for All von Metallica ist dieser Krieg.

Diese Trauer wird mich mein gesamtes Leben lang begleiten. Und doch wäre es anmaßend, sie auch nur ansatzweise mit dem Leid der Menschen zu vergleichen, die Krieg erlebt haben. Nur einen Hauch dessen habe ich gespürt, was andere erlitten haben.

Nie werde ich aufhören, mir die Frage zu stellen, was Entscheidendes hätte passieren müssen, damit dieser Krieg nicht ausbricht. Und was passieren muss, damit Menschen wissen und spüren, dass Krieg das Schrecklichste ist, was ihnen widerfahren kann.

Reden hilft. Sensibilisieren. Deswegen will ich hier bei Krautreporter in unregelmäßigen Abständen Kriegsbetroffene zu Wort kommen lassen. Ich hoffe, sie erzählen uns, wie der Krieg auch heute noch ihr Leben beeinflusst. Ich will sie porträtieren, Soldaten, Flüchtlinge, Täter, Opfer. Aus Ex-Jugoslawien, Ruanda, der Ukraine, Syrien. Und aus Deutschland. Rund 3.300 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr beteiligen sich derzeit bei 17 Einsätzen im Ausland, immer mehr Rückkehrer werden wegen Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) behandelt.

Nur wenn wir wenigstens eine Ahnung davon haben, was Krieg bedeutet und welche Folgen er hat, wissen wir unseren Frieden zu schätzen. Und zu schützen.


Aufmacherfoto: Danijel Višević

Audiofile: Danijel Višević