Serbische Paraden - Ein Land sucht seinen Kurs
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Serbische Paraden - Ein Land sucht seinen Kurs

Seit dem Ende der Kriege in den 1990er Jahren strebt die Balkan-Macht Serbien nach Europa - und nach Russland. In diesem Herbst wird der Widerspruch so deutlich wie nie zuvor.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Liederlich ist die Straße vor dem Haus, schwergängig das Schloss zur Stube, abschüssig der Boden und wattewarm die Luft darin: Kochdampf, Zigarettenqualm und Weihrauch beherrschen das Belgrader Wohnzimmerchen und Lazar Nikolič sitzt wie jeden Tag unter den Schwaden, als wären sie ein Dach, das ihn vor dem Regen schützt. Draußen schaben vier russische MiG-29-Kampfjets am Belgrader Himmel. Ihr Kreischen drängt die Straße entlang, durchfährt das Schloss, teilt die Schwaden, fingert hinter den Wohnzimmerschränken und unter den Sesseln nach Gottweißwerwas. Alles wird tonlos im Raum: der laufende Fernseher, der Gedanke und die Welt. Die Jets ziehen sich zurück, nehmen den Lärm mit, alles taucht wieder auf, und Lazar Nikolič sagt in die geschäftigen Geräusche des Fernsehers, der Gedanken und der Welt hinein: „Was soll das?”

Schon kommen die Jets wieder. Sie kommen wie der Monsun, immer zu einer bestimmten Uhrzeit, immer kurz nach Mittag, drehen ihre Runden für eine halbe Stunde - seit Tagen schon. Morgen, zur größten Militärparade seit Jahrzehnten sollen sie die russischen Streitkräfte unter den Augen ihres Oberbefehlshabers Wladimir Putin vertreten. Nicht da sein wird der US-Botschafter, der hatte seine Einladung ausgeschlagen.

Und erst, wenn über die nicht mehr ständig geredet wird, über Paraden, Panzer und Putins, dann wird der 59-jährige, arbeitslose Archäologe und Ökonom Lazar Nikolič sich wieder unter seinen Schwaden verkriechen und in Frieden fernsehen können.

Rico Grimm

Aber sehr wahrscheinlich wird dieser Moment in diesem Herbst und diesem Winter nicht mehr kommen. Denn Serbien erlebt die politisch aufregendsten Zeiten seit Jahren. Die Mitte-Rechts-Regierung um Ministerpräsident Aleksandar Vučić will das Land in die Europäische Union (EU) führen. Gleichzeitig schauen viele Serben sehnsüchtig nach Russland, den slawischen „Bruder” im Osten. Durch die Ukraine-Krise wurde die Spaltung der serbischen Gesellschaft in EU-Sympathisanten und Russland-Freunde verschärft.

Die Frage für viele Serben ist daher: Kann sich das Land zwischen EU und Russland dauerhaft einrichten, oder muss es sich irgendwann entscheiden?

Einiges spricht für den EU-Beitritt: In den Jahren nach dem Ende der NATO-Bombardements und der Wirtschaftssanktionen boomte zwar das Land. Die Wirtschaft wuchs mit bis zu 5,3 Prozent. Aber Serbien richtete sich nach dem Krieg nur wieder auf seine normale Größe auf, das Wachstum brach bald ein. Heute finden 22 Prozent der Serben keine Arbeit, der Haushalt weist ein Defizit von mehr als sieben Prozent auf. Größer ist es nirgendwo in Europa, und im Mai traten nach tagelangen Unwettern Flüsse und Bäche auf dem ganzen Balkan über die Ufer, töteten 47 Menschen und überschwemmten nicht nur Städte und Betriebe, sondern auch die größte Kohlemine des Landes. Wenn der Winter durchschnittlich warm wird, muss Serbien zusätzliche 144 Millionen Euro für Energie ausgeben. Die EU mit ihren Direkthilfen, ihrer Expertise und ihren Handelschancen könnte langfristig ein guter Ausweg aus dieser Wirtschaftsmisere sein.

Aber gleichzeitig sehen einige Serben die EU, den „Westen”, kritisch. Sie fühlen sich als christlich-orthodoxe Slawen Russland näher und haben nicht vergessen, dass es NATO-Flugzeuge waren, die 1999 ihre Armeeeinheiten, Militärgebäude, Brücken und Kraftwerke mit Streubomben und Uran-Munition angriffen. Sie wollen nicht ihre Unabhängigkeit vom Westen gegen vermeintliche, wirtschaftliche Vorzüge tauschen. Mehr noch: Extreme Nationalisten wie der gerade vom Haager Kriegstribunal entlassene Vojislav Šešelj sehen die Zukunft des Landes an der Seite Russlands. Er sagte laut FAZ bei einer Kundgebung: „Wollen wir in den Westen oder in den Osten? Im Westen sind jene, die uns mehrfach bombardiert, getötet und einen Genozid an unserem Volk verübt haben. Aber im Osten sind jene, die uns durch die Geschichte hindurch nur geholfen, uns unterstützt und ihr Blut für unsere Freiheit vergossen haben.“

Fliegende Händler verkaufen Putin-Pins.

Fliegende Händler verkaufen Putin-Pins. Rico Grimm

Am Eingang

Am Eingang Rico Grimm

Glückliche serbische Patrioten

Glückliche serbische Patrioten Rico Grimm

Diese nicht deckungsgleichen Gegensätze zwischen Ost und West, Nation und Europa, Fortschritt und Konservatismus tragen die Serben in diesem Herbst auf die Straßen. So ließ die Regierung am 28. September Tausende Sicherheitskräfte anrücken, um eine im Verhältnis winzige, von vielen EU-Staaten unterstützte und geforderte Gay Pride Parade schützen zu lassen. Bei einer Gegendemonstration liefen Demonstranten an diesem Tag unter Kreuzen und Jesus-Bildern auf - und dann war da eben noch die Militärparade, die Diplomaten der serbischen Botschaft in Berlin als eine Parade fürs „serbische Selbstbewusstsein” einordnen. Das Hausblatt der Regierung titelte gar: „Das ist eine echte Pride Parade!”

Am Tag der Parade, am 16. Oktober, sind die Busse und Straßenbahnen voll, die zur Aufmarschstraße vor dem Regierungssitz fahren. Alte Männer tragen Orden, die noch älter als sie selbst wirken. Gruppen von Jugendlichen sammeln sich, machen Fotos, Familien sind unterwegs. Der Himmel über Belgrad ist heute „breit und hoch”, genauso, wie der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić einmal schrieb. Die Sonne scheint, und vor einem Einkaufszentrum putzen die serbischen Soldaten ihre Jeeps, Truppentransporter, Raketenwerfer und Panzer mit großen Lappen und Fett. Begeisterte Mütter fotografieren ihre Söhne vor dem Militärgerät, während hinter ihnen mobile Verkäufer Anstecker verkaufen, die Putin zeigen.

Lazar Nikolič ist zu Hause geblieben, natürlich. Er versteht nicht, warum die Regierung so viel Geld für eine Parade ausgibt und gleichzeitig die Renten kürzt. Und er versteht nicht, warum die Menschen sich die Rente kürzen lassen und dann Panzern zujubeln und Raketen und Jets. „Alle in dieser Stadt können sich doch noch erinnern, wie der richtige Krieg war. Reicht denen das nicht?”

Die etwas liederliche Straße von Lazar

Die etwas liederliche Straße von Lazar Rico Grimm

Nach den Taschenkontrollen am Rande des Paradegeländes verteilen Uniformierte serbische Flaggen, die die Besucher gerne mitnehmen. Eine schmächtige Frau hockt auf dem Boden und hält ein Plakat vor sich, auf dem Putin mit mehreren Katzen kuschelt. Sie hat darüber geschrieben: „Putin, save us!”.

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Wladimir Putin kommt heute nach Belgrad, um den 70. Jahrestag der Befreiung von Belgrad während des Zweiten Weltkrieges zu feiern. Die Rote Armee hatte damals, unterstützt von serbischen Partisanenverbänden, die Wehrmachtverbände vertrieben.

Der innere Bereich des Paradegeländes ist durch zusätzliche Zäune abgesperrt, bald aber öffnen die Sicherheitskräfte dort die Tore, weil sie sich nicht mehr gegen den Druck der anrückenden Massen stemmen können. Manche Besucher halten kleine Einladungskarten in der Hand, die den Zugang zum wiederum eigens abgesperrten Gelände gegenüber der Ehrentribüne sichern, bald aber auch wertlos sind, weil die Soldaten auch dort nicht mehr kontrollieren. Das Gelände bietet sich dar wie eine Matroschka-Puppe, in deren Inneren aber gerade nichts zu sehen ist, denn die Parade hat Verspätung. Um den Menschen die Zeit zu vertreiben, vollführt eine der russischen MiG Kunststücke über der nahen Donau. In einem kleinen Wäldchen klettert ein besonders begeisterter serbischer Patriot auf eine Kiefer, nur um dort Minuten später wieder heruntergebeten zu werden von den Aufpassern, die danach zwei Jungs stellen, weil sie die schwarz-gelb-weiße Flagge der ehemaligen russischen Kaiserfamilie Romanow mit sich führen.

Glaubt man westeuropäischen Politikern wie dem Außenpolitikexperten des Europaparlaments Elmar Brok (CDU), dann ist der Putin-Besuch Teil einer größeren Strategie, um den Balkan zu destabilisieren. „Das Ziel Putins ist, Balkanstaaten so unter Druck setzen zu können, dass sie entweder von einer EU-Mitgliedschaft Abstand nehmen oder als Mitglied EU-Beschlüsse pro-russisch beeinflussen”, sagte Brok dem Spiegel. Russland wolle den Balkan „unterwandern”. Leider hatte Brok auf Nachfrage keine Zeit, um seine knappen Statements zu belegen.

Russland hätte tatsächlich Druckmittel in der Hand. Davon zeugt die Liste weiter unten. Ob es diese allerdings gezielt und planvoll einsetzt, um die Länder auf dem Balkan gegen die EU in Stellung zu bringen, ist unklar. Noch unklarer ist, ob sich die Länder auf dem Balkan überhaupt so unter Druck setzen lassen wollen, wie es Brok suggeriert und Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Rede in Sydney nahelegte. Denn ja, Serbien hat sich mit Verweis auf die Verbundenheit beider Nationen nicht den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Aber andererseits ändert das nichts an Serbiens Ziel, der EU beizutreten, wie der Ministerpräsident des Landes und selbst ernannte Merkel-Fan ständig betont.

So sind Russland und Serbien verbunden

Die Gazprom-Zentrale in Belgrad. 2008 hatte der russische Konzern die serbische Energiefirma NIS übernommen.

Die Gazprom-Zentrale in Belgrad. 2008 hatte der russische Konzern die serbische Energiefirma NIS übernommen. Rico Grimm

  • Im UN-Sicherheitsrat stellt sich die Veto-Macht Russland (ebenso wie China) gegen die völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo.
  • Serbien bezieht 60 bis 80 Prozent seines Öls und Gas aus Russland, bezahlt aber für das Gas viermal so viel wie Deutschland, sagen seine Diplomaten in Berlin; South Stream, die russische Gaspipeline, soll durch Serbien führen, und die russischen Konzerne Lukoil und Gazprom dominieren seit Zukäufen den serbischen Energie- und Tankstellenmarkt.
  • Es besteht ein Freihandelsabkommen zwischen beiden Ländern.
  • Russland hat Serbien einen Kredit über 800 Millionen Dollar gegeben, um sein Eisenbahnnetz mit Hilfe der russischen Staatsbahn zu modernisieren und neue russische Lokomotiven anzuschaffen.
  • Während der Jugoslawienkriege war Russland lange Zeit Schutzmacht Serbiens, 1999 besetzten russische Fallschirmjäger sogar den Flughafen Priština.
  • Die slawische Sprache und das orthodoxe Christentum binden Russland und Serbien aneinander; 30 Millionen Euro gibt Russland aus, um eine Ikone in der Belgrader Heiligen-Sava-Kirche malen zu lassen.
  • In Niš, im Süden Serbiens, betreibt Russland ein Katastrophenschutzzentrum; Kritiker behaupten, es sei eine geheime Militärbasis Russlands.
  • Heute führen beide Armeen gemeinsame Übungen durch.
    Belegt ist, dass Russland ein kurzfristiges, taktisches Ziel in Serbien hat: Es würde gerne das Freihandelsabkommen mit dem Land nutzen, um die Folgen der Sanktionen abzumildern. Wladimir Putin rief bei seinem Besuch europäische Firmen offen dazu auf, Serbien als Sprungbrett zu benutzen, um die Sanktionen zu unterlaufen. Die EU hatte Serbien im August davor gewarnt, seine Exporte nach Russland auszuweiten.

Die Warnung trifft Serbien an seinem wunden Punkt, denn es braucht dringend Geld. Im Haushalt klafft ein Loch von 800 Millionen Dollar, das die Regierung - als würde es die EU-Sparpolitik umsetzen - schließt, in dem es die Sozialleistungen kürzt. Seit Anfang November haben viele Rentner in Serbien zehn Prozent weniger Geld in der Tasche, und im Sommer lockerte Vučić gegen den Widerstand der Gewerkschaften den Kündigungsschutz im Land. Sein oberstes Ziel ist jenes oberstes Ziel, das international agierende Ökonomen fast jedem Land an der Peripherie der Weltwirtschaft anraten: Ausländische Direktinvestitionen anlocken. Serbische Nationalisten lehnen das ab. Sie sehen darin eine Form des „Neo-Kolonialismus” und in der EU jene Kraft, die ihn im Namen des gesamten Westens durchsetzen soll.


„Das ist Neo-Kolonialismus“ - Viele Serben sehen die EU kritisch wie dieses Interview mit Stefan Mandic, einem Punkmusiker und Studenten zeigt. Mitglieder können es exklusiv lesen.


Lazar Nikolič wurde schon vor mehr als zehn Jahren entlassen. Er war ein frühes Opfer der Reformen. Er arbeitete für die Beobanka, eine serbische Bank, die 2001 auf Druck des Internationalen Währungsfonds „restrukturiert” wurde. Heute lebt er von den Einnahmen, die er mit der Vermietung eines Zimmers an Ausländer erzielt. 400 Euro für seine dreiköpfige Familie. Das ist nicht schlecht. Aber auch die Frau im Haus ist arbeitslos; die beiden hatten sich schon vor Jahren scheiden lassen.

Lazar und seine Ex-Frau wohnen noch zusammen, weil sie sich keinen Umzug leisten können. Die beiden sitzen selten zusammen am Küchentisch. Wenn er dort Fernsehen schaut, verkriecht sie sich - und andersherum. Aber Essen macht Frau Nikolič trotzdem immer für die ganze Familie, am Sonntag natürlich, wenn sie aus der nahen Kirche im Herzen Belgrads wiederkommt, die immer voll ist mit Menschen, die alle die ganze komplizierte, weihrauchgeschwängerte Liturgie der Orthodoxie beherrschen, die beim Heraustreten direkt auf das Haus schauen, in dem der Scharfschütze lauerte, der 2003 Zoran Đinđić, den serbischen Ministerpräsidenten, erschoss. Die dann die Fassaden des Hauses betrachten müssen, aber die Graffiti wahrscheinlich nicht mehr bemerken, die das Attentat gleichzeitig feiern und verurteilen. Lazar geht nicht in die Kirche. Er ist Atheist und hat auch den anderen Glauben verloren. „Ich lehne in Richtung EU, aber viel Hoffnung habe ich auch da nicht mehr.”

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Am Paradegelände verdüstert sich der Himmel. Um 15.30 Uhr hätte die Parade beginnen sollen, es ist jetzt 20 Minuten später. Auf der Ehrentribüne packen die ersten Gäste ihre Regenschirme aus, obwohl es noch nicht einmal nieselt. Ab und zu kommt sogar die Sonne durch. Als der serbische Präsident ans Mikrofon tritt, buhen die Menschen. Als Wladimir Putin spricht, jubeln sie vor allem im innersten Bereich und feiern ihn kurz mit Sprechchören.

Nach Putins Rede beginnt die Parade und genau in jenem Moment, in dem sich die ganzen hohen Gäste, der serbische Präsident, der Ministerpräsident, Putin und die Veteranen der Befreiungskämpfe aufgerichtet haben, um die Parade mit starrer Miene abzunehmen, als serbische Fallschirmspringer auf einer Wiese landen und so das Spektakel eröffnen, drischt der Regen auf die Erde, wie ein Flegel, vertreibt mit heftigen Windstößen die Menschenmenge. Kinder rennen da, Veteranen und Priester, die die Soutane lüpfen müssen.

Nur vorne, direkt vor der Paradestrecke, im Inneren der Gelände-Matroschka, bleiben die Menschen stehen und beklatschen jeden neuen Infanteristen, jeden Panzer und jede Rakete. Sie sind der harte Kern.


Aufmacherfoto: Rico Grimm