Die Frau mit den vier Identitäten

© Daniel Gebhart de Koekkoek

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Die Frau mit den vier Identitäten

Agnes Heller sagt, sie habe vier Identitäten. Sie sei ungarische Patriotin, ungarische Jüdin, sie sei eine Frau, sei Philosophin. Denken ist für sie Fortsetzung des Handelns mit anderen Mitteln. Porträt einer wahrheitssuchenden Revolutionärin.

Profilbild von Anna-Verena Nosthoff

****Funes hat ein vollkommenes Gedächtnis. Kein Staunen, keine Kindheit.

Die Wolkenformation des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882, vergleichbar mit einer Pergamentband-Maserung. Historisch beispielhafte Fälle von erstaunlichem Gedächtnis: Cyrus erstens, Mithridates Eupator zweitens, Simonides drittens, Metrodorus viertens. Das alles: Bloße Wiedergabe von Tatsachenwissen. Nie muss er Gedanken tatsächlich bemühen. Er ist Nummer fünf, er ist: Ireneo Funes. Übermensch gewordener Zarathustra.

Polen, Frühsommer 2014. Draußen die Mücken Wroclaws im stickigen Grün des Juliusza Słowackiego Parks, mittendrin Philosophie. Im Seminarraum ist es zu kalt, irgendwo surrt eine Klimaanlage ein beständiges Surren. Ihren Sonnenhut hat Agnes Heller immer dabei, meist legt sie ihn auf den Tisch, daneben die ruhigen Hände.

Die Geschichte von Funes beschäftigt sie. Sie liebt die wahren Fiktionen seines schreibenden Schöpfers auch, weil sie moralische Dilemmata berühren. Als der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges Funes’ unerbittliches Gedächtnis 1942 erfand, war sie ein Kind von dreizehn Jahren. Heute, als Philosophin, hat die ungarische Jüdin Grund, nach der Wünschbarkeit eines mechanischen Gedächtnisses zu fragen.

Natürlich kann Erinnerungsfähigkeit lebensnotwendig sein. Heller hegt radikale Skepsis gegenüber ihrer eigenen, vertraut lieber auf die beständigen Buchstaben ihrer Tagebücher. Nicht ohne Grund schreibt Borges, dass Funes zum Denken wenig begabt sei: „Denken heißt, Unterschiede vergessen. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten.“

Milliarden Einzelheiten eines ganzen Lebens. Das bedeutet: Alles wird immer abrufbar sein, jedes Molekül eines Moments, nie wieder verlorene Zeit und also auch keine Suche. Wahrscheinlich gewinnt man dabei weniger als man verliert, Heller ist sich dessen bewusst. Nichts läge ihr ferner, als sich Funes’ Assoziationen als Komposition wiederkehrender Madeleinemomente vorzustellen. Lindenblütentee, Combray, schöne Proustsche Fiktion.

„Ohne durch eine Hölle zu gehen, kommt man nicht ins Paradies“, hat sie einmal gesagt. Jeder von uns weiß, dass sie den Holocaust überlebt, den Großteil ihrer Familie in Konzentrationslagern der Nazis verloren hat.

Die Frage nach Funes stellt sie in den Raum, leise bleiben schwebende Antworten. Stille auch deshalb, weil sie will, dass wir selbst denken. Im dialektischen Labyrinth eines Denkens voller Windungen schweigen ihre Ideen.

Wenn Heller Gedanken aneinanderreiht, folgen sie einer eigentümlichen Schlüssigkeit, ohne je deduktiv vorzugehen. Nie geht es ihr um Formallogik. „Ein guter Philosoph“, sagt sie, „muss wie ein Kind sein“, naive Fragen sind dabei „Nährboden“. Die Hinwendung zur Kindheit teilt sie. Mit Adorno, mit Bloch. Mit Kluge. Nicht selten lässt ehrliche Unbefangenheit sie in die Hände klatschen, immer flüchtiger Glanz kindlicher Begeisterung.

"Ein guter Philosoph muss wie ein Kind sein."

“Ein guter Philosoph muss wie ein Kind sein.” Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek

Diskussionen mit Agnes Heller sind freundschaftlich. Im Seminar gibt es keine Gefechte, in denen die Kraft des besseren Arguments notwendig Unterlegene produziert. Assoziationsnetze weben kann nur derjenige, der Räume öffnet und gesponnene Gedankenfäden wieder aufnimmt. Wir lesen Hermeneutiker, verzichten auf Nazi-Kronjuristen. Gadamer statt Schmitt. Rigorose Kategorisierung ist unmoralisch, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind unlängst verschwunden. Dies hier ist Philosophie, die das Politische auf einer anderen Basis berührt.

Hellers kritischer Geist ist dabei aber immer auch realpolitisch; er weiß, gefährliche Tendenzen aufzuspüren. Sie scheut sich nicht, Wahrheiten auszusprechen, hat deshalb Auftrittsverbot im ungarischen Fernsehen. Das kümmert sie wenig, bestätigt vielmehr ihre Kritik am ungarischen Regierungssystem, die sich insbesondere gegen den rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán richtet. Orbáns formalbürgerliche Partei Fidesz verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, konnte so Ende 2010 durch Verfassungsänderung ein neues Mediengesetz verabschieden. Seither werden nicht nur staatliche, sondern auch private Medien und das Internet konsequent auf „Ausgewogenheit der Inhalte“ und Beitrag zur „Stärkung der Nationalität“ kontrolliert. Wenn der Medienaufsichtsbehörde Nemzeti Média- és Hírközlési Hatóság etwas nicht gefällt, sanktionieren sie, bis zu 90.000 Euro für regierungsfeindliche Printartikel, bis zu 70.000 Euro im Hörfunk. 2010 mussten mehr als 1.000 Beschäftigte gehen, vor allem jene, die protestiert hatten, wie etwa Attila Mong, der bei Kossuth Rádió mit einer Protest-Schweigeminute das Programm unterbrach.

Heller findet es vollkommen absurd, unter diesen Umständen noch von Demokratie zu reden. Sie sagt das mit offenkundiger Geringschätzung und zehrt dabei von einem politisch-satirischen Repertoire. Wenn sie über die nationalkonservative Regierung spricht, erwähnt sie Unmenschliches wie Nichtmenschliches gleichermaßen: „Die sind wie Papageien, wiederholen sich nur selbst. Wir können es nicht tolerieren, wenn es keine öffentliche Meinungsäußerung, keine freie Meinungsbildung gibt.“

Orbán verbringt schon mehr als die Hälfte seines Lebens in den Sphären öffentlicher Politik. Anzüge trägt er mit Bravour und maskulinem Stolz, dazu eine autokratische Aura tüchtigen Pragmatismus. Machiavelli hätte Orbáns kluge Staatslenkung wahrscheinlich mit virtù umschrieben, was bei dem Autor des Fürsten mit Moral allerdings wenig zu tun hatte, die griechische Polis hatte der längst vergessen. Heller liebt es, die Griechen frei zu zitieren, ihre Klugheit verzichtet auf florentinisches Effizienzdenken. Natürlich hat sie Machiavellis Schriften trotzdem akribisch gelesen, merkt deshalb an, dass Orbáns Strategie in einem entscheidenden Punkt von ihnen abweicht: „Ein Machiavellist würde vorgeben, dass er ein friedlicher Mensch ist, der etwa mit der EU kooperieren will. Und dann tut er das Gegenteil. Orbán spricht seine Ziele ganz offen aus.“

Mittlerweile nennen ihn viele den „Puszta-Putin“, ziehen Parallelen zu den territorialen Expansionsfantasien des russischen Präsidenten. Putins inszenierte Maskulinität passt jedoch nur bedingt zu Orbán, der sein Hemd immer zugeknöpft trägt – Ungarn ist immer noch ein Land ohne Propaganda-Oberkörper auf Prachtpferden. Jenseits der sibirischen Tundra ist Orbán Putin trotzdem nicht unähnlich: „Orbán ist ein Diktator“, sagt Heller. Für eine Diktatur hält sie Ungarn deshalb nicht. Immerhin gibt es eine Opposition.

Noch 2010 meinte Orbán zu wissen, dass „die Demokratie in Ungarn nicht in Gefahr“ sei. Aber schon damals rankten sich nationalistische Symbole an Hauswänden und auf „Nationaltaxis“. Auf denen ist Großungarn omnipräsent, ziert Fahrertür, Seitenspiegel, Taxileuchte. Einige glauben, dass sie es ihren Vorfahren schuldig sind, für das Ungarentum zu kämpfen, ethnische Grenzen wieder mit Staatsgrenzen in „Übereinstimmung“ zu bringen. Natürlich ging das an Orbán nicht spurlos vorbei, nur erschöpfte sich seine Reaktion in einem belanglosen Verweis auf vermeintliche Normalität: „In allen Demokratien gibt es zehn bis fünfzehn Prozent extremistische Kräfte.“

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Dass es sich um eine maßlose Untertreibung handelte, bewies spätestens die Heraufkunft eines Motorradclubs, der sich „Goi“ nennt – das ist hebräisch und heißt „Nichtjude“. Am Holocaustgedenktag im April 2013 plante Goi eine Motorrad-„Gegenrallye“, die an einer Synagoge vorbeiführen sollte, ihr Motto: adj gázt – „Gib Gas“. Als Agnes Heller vor einigen Monaten nach Ungarn zurückkehrt, registriert sie zunächst: „Liberal here is a dirtier word than Nazi or communist.“ Und: „Orbán sagt, er verteidige alle Minderheiten, so auch die Juden. Das heißt für die Juden: Wir sind keine Ungarn.“

"Demokratie kann nur im Schneckentempo schleichen."

“Demokratie kann nur im Schneckentempo schleichen.” Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek

Viele seiner Gegner werfen Orbán aktive Mithilfe an der Radikalisierung vor. Jobbik, seit 2010 drittgrößte Kraft im Parlament, setzt sich für die Einführung von Judenlisten ein, die „wahren“ Ungarn hält sie für eine „überlegene Rasse“, 20,5 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen in diesem Jahr. Orbán toleriert das zumeist, nutzt die Popularität Jobbiks dann, wenn es vorteilig ist. Heller meint: „Das Verhältnis des Fidesz zu Jobbik ist wechselnd. Wenn Orbán die extrem rechten Wählerschichten erreichen wollte, dann hat er sich auch Jobbik angenähert. Wenn es darum ging, vor der EU gut dazustehen, hat man sich von Jobbik distanziert.“ Sie weist darauf hin, dass die Partei sich radikalisiert hat, Jobbik will die Einführung der Todesstrafe und den EU-Austritt. Fidesz geht das zu weit.

Heller nennt viele Gründe für die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre, vor allem aber hält sie die ungarischen Wähler für „unreif“. Ungarn habe kaum demokratische Traditionen, dazu vor allem eine „unglückliche Geschichte“. Die Philosophin ist davon überzeugt, ein demokratischer Gemeinwille müsse die eigene Artikulation erst lernen. Und sich überdies unabhängig von großen Nachbarn begreifen – abseits der Deutschen, abseits der Sowjets. Die Gefahr ist natürlich, dass dies in ohnmächtigen Nationalismus umschlägt.

Es geht um langwierige Prozesse, um vorsichtiges Schreiten, und manchmal eben auch um langsames Scheitern. Heller gefällt das, Demokratie kann nur im „Schneckentempo“ schleichen, wenn sie Gegenpol zu einem lauten Faschismus sein will, der ausschließlich Rufe nach Homogenität kennt. Heller sträubt sich gegen Ismen, die versuchen, politisch heterogene Wirklichkeiten unter einen Einzelbegriff, unter einer Parteidoktrin zu subsumieren, kritisiert Vorstellungen von bipolaren Gesellschaften, die sich aufteilen in „Kommunisten“ vs. „Faschisten“, in links gegen rechts. All das hat für ihre Begriffe nichts mit Demokratie zu tun, wahre Demokratie sollte kein Ressentiment kennen, auch nicht gegenüber einer Geschichte, die immer ausgeschlossen hat.

Agnes Heller gilt schon lange als populärste Regimekritikerin, in und um Budapest bemerkt man eine verstörende Häufigkeit an Graffitis und antisemitischen Slogans, die sich ausdrücklich auf sie beziehen. Es wäre nachvollziehbar, fühlte sich die 85-Jährige bedroht.

Doch das anzunehmen, hieße auch, Hellers eigene Geschichte zu verkennen, die sie fortwährend in die Opposition trieb, ihr eine Außenseiterrolle zuwies. Sie ist zu klug, um jetzt Angst einzugestehen. Was nur der Feigheit ihrer Gegner Recht gäbe. Zu gut kennt sie das politische Spiel mit Wahrheiten und Unwahrheiten, mit Propaganda und Ideologie. Sie weiß, wann öffentliche Diffamierungen wirklich gefährlich werden, geht davon aus, „dass Leute mich auch hassen werden“. Stärke zeigt sie, indem sie nachdrücklich auf die geeinte Kraft ihrer Unterstützer verweist: „Viele Leute sprechen mich in der Straßenbahn an und sagen: „Ich liebe dich, mach weiter, was du machst.“ Sie sagt das auf Deutsch. Sie übertreibt nicht.

Ihr Schutzschild ist ihr Humor. Sie versucht, das Ausmaß der „Ungarisierung“ insbesondere in seiner alltäglichen Absurdität zu illustrieren: „Jedes Wort ist von diesem Ungarentum beseelt. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, in einem ‚ungarischen’ Saal zu sitzen, dabei ‚ungarisches’ Wasser zu trinken, ‚ungarische’ Bücher zu lesen, mit ‚ungarischen’ Menschen zu sprechen, ‚ungarische’ Brillen zu tragen.“

Orbán beschwört tatsächlich gern eine „geistige Energie nationaler Kultur“, er spricht von den Wurzeln, der Familie, malt rhetorische Bilder von Heimat und Nation. Was Heller hier persifliert, klingt auf Orbán-Neusprech erschreckend exklusiv: „Mit ungarischen Augen, mit ungarischer Denkweise, dem ungarischen Herzschlag folgend, wir allein schreiben unsere Verfassung.“ Orbán erklärt sich zum Retter der Nation, nutzt die klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind, sieht Feinde sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Für Orbán ist Heller eindeutig Feind. Beziehungsweise: Feind_in_. Nicht auszuschließen, dass sie darauf stolz ist.

Für Heller ist vor allem eines wahrhaft demokratisch: Die Philosophie selbst, die für sie im Staunen beginnt, in dem, was die Griechen taumadzein nannten. Was für Platon noch eine „Einstellung des Mannes“ war, führt bei Heller im Gegenzug nur auf Wegen jenseits des Vorurteils zur Wahrheit. Allzu gut weiß sie, dass Philosophiegeschichte in weiten Teilen eine Geschichte war, die Männer für Männer geschrieben haben, damit Männer sie von Männern lesen konnten. Dass das tautologischer Terror ist. Tintengetränkte Federn haben Denkwege gepflastert, schwere Steine unverrückbare Gedankengebäude errichtet. In denen halten sie sich heute noch auf, dort wohnen sie, dort sind sie, in Gedanken bei den Alten, ohne wirklich zu denken.

Heller schert sich allerdings nicht allzu sehr um kleinkariert feministische Diskussionen. Für sie heißt Feminismus zuallererst die Annahme geschlechtlicher Gleichberechtigung. Die Doktrin, dass Frauen in gleicher Weise wie Männer befähigt sind – vor allem zum Gebrauch der eigenen Vernunft. Wichtig ist dabei aber vor allem die Einsicht, dass die Vernunft der Emotion nicht zwangsläufig diametral gegenüberstehen muss. Damit modifiziert Heller Immanuel Kant. Dessen Vernunftbegriff schloss Neigungen radikal aus, Mitleid hielt der ewige Königsberger für unmoralisch. Die Philosophin begreift das Erbe der Aufklärung lieber neu. Urteilskraft heißt für sie auch Empathie.