Zwei Stimmen. Das ist so zufällig wie die Sache mit dem Schmetterling: Sitzt er ruhig, bleibt das Wetter, wie es ist. Schlägt er mit den Flügeln, braut sich ein Orkan zusammen. Zwei lächerliche Stimmen. Die beiden Aussteiger hätten es in der Hand gehabt. Weshalb also sind sie nicht gekommen? Eveline und Dominik, hoch über Curaglia leben sie, in einer Jurte wie die Nomaden Kirgistans, weiss leuchtend inmitten tausender gelber Löwenzahnkronen. Geißen-Trekking machen sie, für Unterländer, so weit weg vom Lärm der Welt wie möglich. Aber eben, sie sind nicht ins Tal gestiegen an diesem Abend, nach Curaglia. Wären sie erschienen, so resümieren die Verlierer zwei Wochen nach der Abstimmung, dann wäre alles anders. Weil die beiden mit ihnen gestimmt hätten, da sind sie sich sicher, fast sicher jedenfalls. 15 zu 15 hätte das Resultat dann gelautet, ein Patt, und das Traktandum wäre bis auf weiteres vom Tisch gewesen, oder der Gemeindepräsident hätte es ganz fallen lassen; denn ein drittes Mal, das hatte er gesagt, würde er die Sache nicht aufs Tapet bringen. Auch wenn er selbst noch so dafür ist; schließlich geht es um nichts Geringeres als die Zukunft des Tals. Aber Eveline und Dominik haben gefehlt. Und so endete die Abstimmung 15 zu 13.
Das ist das Ende, sagen die einen. Das ist der Anfang, sagen die anderen.
Curaglia eingangs des Val Medel am Lukmanier, was übrigens von Lucus Magnus stammt und Großer Hain bedeutet; und Medel kommt von Metallum, Metall, weil hier bereits im Mittelalter Silber und andere Erze abgebaut wurden. Der Hausberg von Curaglia, der Piz Muraun, zerschneidet als dunkle Silhouette den Nachthimmel, ein Kegel, perfekt geformt wie von Kinderhand im Sandkasten, mattweiss schimmernd der letzte Schnee. Es ist der 24. April 2014, zehn vor acht abends. Zu Füßen dieses Berges, konkret vor dem Kindergarten Curaglias, stehen etwas mehr als dreißig Menschen. Dreiunddreißig sind es genau, werden die Stimmenzähler feststellen, wobei, wird einer der Gegner nach der Abstimmung in den Raum fragen: Haben die beiden richtig gezählt? Und warum haben ausgerechnet diese gezählt, wo sie doch bekanntermaßen die Meinung des Präsidenten vertreten?
Die dreiunddreißig warten auf den Beginn der Gemeindeversammlung. Sie warten in zwei Gruppen, fast so sauber getrennt wie die Hälften eines Käselaibs. Sie schwatzen untereinander, aber nicht miteinander, ja sie stehen so, dass man sich nicht zwingend begrüßen muss. Als sei man in dieser Bergnachteinsamkeit, von der man nie weiß, ob sie sich je wieder verflüchtigen wird, nicht auf Zusammenhalt angewiesen. Weshalb die dreiunddreißig Menschen so stehen, kann man nur nachvollziehen, wenn man Folgendes weiß: Am Himmel über diesen Menschen kollidierten einst sterbende Sterne, ein paar Milliarden Jahre nach dem Urknall. Dabei entstanden neue chemische Elemente. Von der Wucht der Kollision als Staub ins All zurückgeschleudert, ballten diese Elemente sich mit anderen Elementen zusammen und bildeten schließlich Planeten, unter anderem die Erde und somit auch den Piz Muraun. Unter diesen neuen Elementen befanden sich solche mit 79 Protonen und 79 Elektronen. Das heißt, die Atome dieses Elements haben eine vergleichsweise große Masse, weshalb sie gemäß Periodensystem der Elemente zu den Metallen gezählt werden. Zudem rotieren ihre Elektronen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit um den Kern, mit der Konsequenz, dass die Atome blaues Licht verschlucken und deshalb für das menschliche Auge entsprechend in der Komplementärfarbe leuchten: gelb. Genauer goldgelb. Ohne diese in früher Urzeit entstandene Kombination von Masse und Farbe würden die dreiunddreißig Stimmbürger nun zu Hause sitzen. Sie würden vielleicht Capuns essen und dazu auf SRF1 „Missbraucht im Namen Gottes“ schauen, oder sie würden im Stall das verstoßene Lamm schöppeln. Aber da bei der Entstehung der Erde besonders viele dieser Goldatome im Innern des Piz Muraun landeten, ist alles komplizierter. Ein Kilogramm des goldgelben Elements kostet heute 40.000 Schweizer Franken.
19 Uhr 55. Noch fünf Minuten bis zur Versammlung. Sie wird im ersten Stock des Kindergartens stattfinden, ein hübscher Bau übrigens, modern mit viel Holz, aber mangels Nachwuchs ab kommendem Herbst geschlossen. Bald werden die Stimmbürger also diskutieren und anschließend darüber befinden, ob nach dem Sternenstaub im Berg gesucht werden soll. Oder besser nicht. Denn es ist nicht ganz klar, was der Staub bringt: ein besseres Leben in dieser Abgeschiedenheit? Etwas Luxus? Oder nur Gier, Missgunst und Verrat, wie beim Besuch einer gewissen alten Dame? Konkret geht es um die Frage, ob ein Unternehmen namens SwissGold Exploration AG – Tochter der kanadischen NVGold Corporation – Tochter der kanadischen NVGold Corporation und gemäß Selbstdefinition „focused on maximizing shareholder value“ – auf dem Land der Gemeinde nach den wertvollen Elementen sondieren darf, mit dem Ziel, sie eines Tages abzubauen. Es geht also um die Frage, ob man in einem Geschäft mitmischen will, das weltweit zu den schmutzigsten gehört, das in Ländern wie Burkina Faso brutalste Kinderarbeit zur Folge hat, das in Rumänien nach dem Bruch eines Rückhaltebeckens Land und Leute mit 100 Tonnen Zyanidlauge vergiftete, bei dem bezüglich Herkunft immer noch – anders als bei Diamanten – jegliche Transparenz fehlt, bei dem die Schweiz mit einem Import von 3.000 Tonnen pro Jahr eine weltweit zentrale Rolle spielt, bei dem hier ansässige Raffinerien wegen Geldwäscherei, Beihilfe zu Kriegsverbrechen und illegalen Abbaus im Zwielicht stehen.
Gold ist ein heikles Thema.
Will die Gemeinde in dieser Branche künftig mitmischen, legt sie den Grundstein zu einer neuen, völlig anderen Entwicklung des Tales. Und ohne diese Entwicklung, so sagen manche im Val Medel, gebe es hier in fünfzig Jahren nichts mehr. Nichts außer etwas Vieh auf den Alpen und einer Passstraße, die ihre Bedeutung für Güter schon
lange an den Gotthard verloren hat. Das heißt, hier wird es nur noch ein paar frustrierte Sennen in der Höhe und Oldtimer mit aufgezurrten Lederkoffern im Tal geben, am Steuer ältere Herren mit Schal und Schiebermütze. Die einen krampfen ums Überleben, die anderen spielen Vergangenheit.
Aber sonst: leer. Ende. Aus.
Auf 1,2 Milliarden Franken schätzt die SwissGold Exploration das Vermögen im Berg; abgebaut werden soll es im Verlauf von 30 Jahren. Von der Ausbeute würde in dieser Zeit jedes Jahr eine Million an die Gemeinde fallen: Steuern, Anteile am Nettoerlös und so weiter. Für Curaglia wäre das viel, entsprechend einer Verdoppelung des aktuellen Investitionsbudgets, das in erster Linie von Wasserzinsen genährt wird. Nötigkeiten gibt es genug; man könnte hier, man könnte dort. Doch das ist nicht der Hauptgrund, weshalb sich der Gemeindepräsident für das Gold starkmacht. Er will nicht Geld, er will Menschen. Endlich würden neue Arbeitsplätze entstehen. 100, vielleicht auch 200, nicht im Loch an den Abbruchhämmern, das sollen andere erledigen, sondern Jobs, die den Fähigkeiten der Leute im Tal entsprechen: Maschinenmechaniker, Ingenieur, Elektriker, Baufachmann. Vorwärts würde es gehen, nicht rückwärts. Aufbau. Nicht ewiger Abbau.
Curaglia, grösster Ort im Val Medel, neun Aussenwachten.
Von Disentis windet sich die Strasse durch einen Felsspalt in die Höhe, um dann kurz vor dem Dorf das offene Tal zu erreichen. Der Rein da Medel, in der Schlucht ein stiebender Strahl, sucht sich hier entspannt seinen Weg zwischen Findlingen und Heuwiesen, darin tiefblauer Wiesensalbei, honigsüsser Rotklee, vergnügt nickende Margeriten, betörende Lichtnelken – so zart und scheu wie Strindbergs Fräulein Julie. Frühling ist die anmutigste Jahreszeit; danach resoniert das Tal bis in den Herbst das Crescendo der Auspuffe, niemand hält an. Und im Winter regiert der Schlaf. Schön möchte man das Dorf links oben am Hang nicht nennen, jedenfalls nicht mehr, seit der Bau der Lukmanier-Staumauer in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Arbeit und Geld brachte. In dieser Zeit wuchs unterhalb der Passstrasse ein Quartier mit kantig schroffen Wohnhäusern, so einfallslos wie Modellhäuser für Eisenbahnanlagen. Einzige Lichtblicke sind kürzlich entstandene Umbauten ansässiger Architekten, beweisend, was auch hier oben möglich ist. Plötzlich erwacht ein graues Sechziger-Jahre-Haus zum roten Palast, im Innern eine zitronengelbe Küche. Eine andere Welt, aber auch: eine fremde Welt. Anders das Oberdorf, wo Bauernhäuser und Ställe sich unter dem Kirchturm ducken wie Küken unter die Flügel einer Henne. Licht und Wetter haben sich im Holz der Gebäude festgeschrieben und erzählen von damals, als noch das Heu mit Chräzen in die Schober getragen wurde und Postkutschen vorbeiratterten, Ziel: Olivone. Aber noch immer unterhalten sich in den Gassen Männer, die gefalteten Hände auf Mistgabeln gestützt. Der Geruch von Schafen und Ziegen verbreitet warme Vertrautheit. Das lauteste Geräusch um diese Jahreszeit, im Frühling, sind zwei Fliegen. Alois Carigiet hat hier gemalt.
Kindergarten. 20 Uhr. Die Menschen haben sich gesetzt. Stille.
Auftritt des Gemeindepräsidenten. Peter Binz heisst er. Nicht Pally, Bundi oder Venzin, wie die Menschen hier oben. Er trägt auch keine grüne Fleecejacke. Er hat keinen rotverbrannten Nacken, von der täglichen Arbeit draußen. Also fehlen auch die Schwielen an den Händen. Peter Binz, die graugewellten Haare sauber gekämmt, trägt Hemd und Jackett, manchmal dazu eine rote Hose, ungewohnt in diesem Bergtal. Heute Abend verzichtet er jedoch auf die Auffälligkeit. Binz arbeitete dreißig Jahre lang in Zürich bei PricewaterhouseCoopers, zuletzt als Chief Operating Officer und Chief Financial Officer. Ein Hot Shot. 2004 hatte er zum ersten Mal nach Curaglia gefunden, und weil er im Herzen spürte, dass er auf seiner Suche nach Entspannung und Ruhe endlich angekommen war, nach manchem missglückten Anlauf, ist er schließlich geblieben. Seine Anwesenheit hat man schnell zur Kenntnis genommen. Und sich überlegt, was ein Mann mit diesem Background wohl zu erreichen vermöge. Wenn jemand das Tal wiederbeleben könnte, dann wohl er. Weshalb man ihm das Ansinnen entgegentrug, ob er nicht die Geschäfte der Gemeinde übernehmen wolle. Binz überlegte, hatte sowieso Lust auf etwas Neues im Leben, ließ sich zur Wahl aufstellen und erhielt 98 Prozent der Stimmen. Wie in einer Diktatur!, kann man dazu sagen. Was Binz laut lachen lässt und ihm die Möglichkeit gibt, seinen Stolz etwas zu kaschieren.
Die 420 Menschen im Val Medel – einst waren es doppelt so viele – sind eigentlich dankbar für sein Engagement. Da ist jemand gekommen und engagiert sich freiwillig für das Tal. Ein Tal, in dem das letzte Postauto um 18 Uhr 22 ankommt, auch samstags. In dem es noch zwei Lehrstellen gibt: 1 Forstwart, 1 Metzger. Wo das schönste Hotel, einst Destination für Kurgäste der gehobenen Art, schon lange abgerissen wurde. Wo das Hotel Post, die zweite Adresse, inzwischen auch geschlossen ist, ebenso wie das Postbüro in Curaglia, an das nur die Fassadeninschrift „1914–1987“ erinnert. Wo sogar das Altersheim aufgelöst wurde. Auf Befehl des Kantons: die Kosten. Ebenfalls geschlossen die Sekundarschule. Und in zwei bis drei Jahren soll ebenso die Primarschule dunkel bleiben, kaum abwendbar, da die letzte Geburt 2013 erfolgte, eine einzige, und für 2014 ist noch keine angekündigt. Wer nach dem Exodus der letzten Schulkinder in der Kirche die Orgel spielen wird, wer den Männerchor leiten wird, ist offen; denn das alles tut jetzt die Lehrerin.
Binz kam nicht, um diesem Niedergang zuzusehen. Auch nicht, um zu verwalten. Peter Binz, der Mann mit den roten Hosen, kam, um die magnetische Kraft der Städte umzupolen. Eine seiner frühen Taten bestand darin, die Gemeinde zu einer Zukunftswerkstatt zusammenzurufen. Angeleitet von einem Coach aus dem Unterland, einst ebenfalls für PricewaterhouseCoopers tätig, entwickelten die Einwohner für ihre Gemeinde Visionen. Sie phantasierten von der Installation eines Paintball-Parks, der größten Rodelbahn Europas, dem Bau von Hochhäusern à la New York oder der Zurückversetzung des Dorfes ins 18. Jahrhundert, einer Art Ballenberg am Lukmanier. Alles Ideen, wie sie die Not gebärt.
Seit der Zukunftswerkstatt sind bald drei Jahre ins Land gegangen, verändert hat sich wenig. Bei einem Fest briet das Dorf einen Ochsen am Spieß, zur Förderung der Gemeinschaft, und für die Einweihung der Hängebrücke im Weiler Mutschnengia wurde eine spezielle Weinetikette gestaltet. Das ist alles. Passiert ist nur dort etwas, wo Binz selbst Initiative zeigt oder bereits begonnene Projekte weiterzieht, sei es als Gemeindepräsident oder als Privatmann. Unter seiner Ägide, in Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden der Surselva, ist die Academia Vivian entstanden, eine Art Klassenzimmer im Grünen, in dem Schulkinder, Vereine und Touristen über die Bedeutung von Wald und Holz aufgeklärt werden. Die Idee dahinter: Im Februar 1990 hatte der Orkan „Vivian“ den Schutzwald über Curaglia bis auf den letzten Baum
abrasiert. In der Akademie sollen Besucher die Bedeutung eines nachhaltig bewirtschafteten Waldes verstehen lernen. Weil Binz einen Wirtschaftsförderer nach Curaglia gebracht hat, liegen nun auch Ideen für eine Wiederbelebung des geschlossenen Altersheims vor. Es soll in ein Rehabilitationszentrum für Menschen verwandelt werden, die vom Burnout bedroht sind. Und auch die Ziegenzucht im Tal wird wieder gefördert, eine kleine Käserei ist geplant. Alles Ideen, die Arbeit bringen und gleichzeitig die Wertschöpfung im Tal halten.
Ich bin fürs Gold, für alles, was dem Tal einen Nutzen bringt.
Nicht weniger aktiv ist Binz als Privatmann. So hat er eines der beiden verbliebenen Hotels im Tal gekauft und es mithilfe seiner Frau und lokaler Architekten renoviert. Geschichte und Moderne bilden hier ein überzeugendes Amalgam. Waschschüsseln aus dem 19. Jahrhundert treffen auf Fritz-Hansen-Stühle, das heißt deren zahlbare Kopien. Der Honig auf dem Frühstückstisch stammt aus der Region, es steht nicht „Hamburg“ als Provenienz darauf wie in der zweiten Herberge im Tal. Folglich spiegelt Binz’ Haus auch, was draußen ins Auge sticht: Es ist schön am Lukmanier. Sehr schön. Von diesem Engagement profitiert auch die lokale Jugend. Binz stellt den Teenagern seinen Hotelbus zur Verfügung, damit sie an den Wochenenden doch noch in den Ausgang können, nach Disentis, wo in der Disco La Treglia die B52-Shots mit brennendem Rum warten. Gleichzeitig hat Binz in Kooperation mit örtlichen Partnern eine GmbH namens ACASA-medel gegründet. Die Gesellschaft baut leerstehende Ställe um. Damit neuer Wohnraum geschaffen wird. Und auch Binz’ Frau engagiert sich. Sie bietet im Tal Retreats mit verschiedenen „Modulen“ an, in die „Bewohnerinnen und Bewohner des Val Medel integriert“ werden. Das heißt etwa: eine Begehung des Schutzwaldes in Begleitung des Försters, Sonnenaufgang auf der Alp Soliva mit anschließendem Frühstück, ein Käsereikurs bei einer einheimischen Familie. Oder man kann auch unter Anleitung einer Therapeutin den „Weg der Sinne“ begehen und dabei lernen, welche Übungen bei der Entspannung im Alltag helfen, wie man in Stille marschiert oder wie man im Team ein Steinmännchen baut.
Diese Engagements kann man kritisieren. Man kann Entspannungswanderungen,
Käsekurs und so weiter als Schnickschnack für asphaltkranke Stadtmenschen bezeichnen, in einer Gegend, wo überspannte Geister ihr inneres Vakuum besser bei einer Heuet im Chrachen auffüllen würden. Man kann Peter Binz ankreiden, er gebärde sich als Dorfkönig und habe das Hotel eigentlich nur gekauft, damit er dessen hässlichen Anbau abreißen konnte. Weil der Saal seine eigene Aussicht störte. Man kann ihm vorwerfen, dass er mit den umgebauten Ställen an den Bedürfnissen wie auch an den finanziellen Möglichkeiten des einheimischen Publikums vorbeiplane und in Tat und Wahrheit nur auf ein auswärtiges, kapitalstarkes Publikum schiele. Man kann auch das Rehabilitationszentrum als verfehlte Idee abkanzeln, wollen wir so etwas da oben?, und man kann in der Academia Vivian nichts als herausgeworfenes Geld sehen, das wird auch alles getan im Dorf, und teilweise nicht zu Unrecht. Aber wie auch immer: Binz kam, sah und handelte. Seit er im Tal ist, gibt es endlich wieder etwas Durchzug am Lukmanier.
Nun steht Binz auf, links und rechts sitzen die anderen Mitglieder des Gemeindevorstands. Dass er angespannt ist, dass ihm das anstehende Traktandum zu schaffen macht, merkt man. Die Stimme. Die Haltung: Eine Hand ist zur Faust geballt, was sich unter dem Stoff der Hosentasche abzeichnet. Er konnte ja kaum reden, wird nach der Versammlung eine seiner Gegnerinnen sagen. Und: Es habe sie nicht gefreut, ihn so zu sehen. Einstein, so beginnt Binz – auf Deutsch; denn Romanisch spricht er zu wenig gut, was man ihm natürlich ankreidet – Einstein sei einmal nach dem Sinn des Lebens gefragt worden und habe geantwortet: In erster Linie gehe es darum, Zufriedenheit für uns selbst und andere zu schaffen. Das sei es, was auch er anstrebe. Ich bin nicht der Promoter des Goldabbaus, aber ich bin für alles, was dem Tal einen Nutzen bringt, dazu könnte auch das Gold gehören. Einen Nutzen für die Gemeinde, für alle hier. Weshalb es ihn verletze, wenn im Dorf schlecht geredet werde. Wenn ungerechtfertigte Vorwürfe erhoben würden, gegen „uns“sagt er, ohne diesen Plural genauer zu definieren.
Meint er sich und den Gemeindevorstand? Meint er sich und seine Frau? Meint er sich und die Initianten des Goldabbaus? Jedenfalls sind es die glänzenden Atome, auf die Binz anspielt. Sie sind bereits seit Mitte der neunziger Jahre ein Thema im Tal. Damals ergaben erste Probebohrungen am Piz Muraun einen Goldgehalt von bis zu 15 Gramm pro Tonne Gestein. Das ist ziemlich viel, auch im internationalen Vergleich, und es ist so viel, dass auch der Laie schnell einmal Erfolg hat. So kann man etwas unterhalb der Alp Gliarauns die Hand in einen Bergbach tauchen, Kies und Sand zwischen den Fingern abfließen lassen, und schon leuchten zwei, drei Goldflitter.
Um dem Thema ein juristisches Fundament zu geben, hatte die Gemeinde 2008 ein erstes Bergbaugesetz erlassen. Es sollte helfen, den Umgang mit Explorationsbewilligungen und Abbaugesuchen zu regeln. Als sich 2010 die SwissGold Exploration mit dem Ansinnen meldete, eine bestehende, aber auslaufende Bewilligung einer Vorgängerfirma zu verlängern, musste Binz – soeben zum Gemeindepräsidenten
gewählt – aktiv werden. Um das Gesuch gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu behandeln, brachte er es 2012 vors Volk. Doch damit provozierte er heftigsten Widerstand.
Die Stimmbürger des Tals hatten 2008 einem Gesetz zugestimmt, das dem Gemeindevorstand weitgehende Entscheidungsfreiheit zusicherte. Hatte das Volk ein Explorationsgesuch einmal bewilligt, sollte es danach nicht mehr konsultiert werden. Die eigentliche Abbaukonzession, also den Bau der Mine, würde der Vorstand in eigener Kompetenz erteilen können. Als wäre in einem Kuss gleichzeitig die Einwilligung zum Beischlaf enthalten! Von dieser Regelung wollten die Stimmbürger 2012 nichts mehr wissen. Plötzlich war das Beschneiden der eigenen Rechte das Werk des Teufels. Ebenso kritisiert wurde nun, dass der Gemeindevorstand bei der Ausarbeitung des Gesetzes die Hilfe der Gesuchsteller in Anspruch genommen hatte, zwecks fachlichen Supports. Das wurde nun als eine Art Kollaboration mit dem Feind interpretiert. Konsequenz dieses Sinneswandels: Das Bewilligungsgesuch wurde mit 181 zu 90 Stimmen abgelehnt.
Was genau dazu geführt hatte, bleibt im Dunkeln. Möglicherweise erkannten die Menschen im Val Medel erst anhand des konkreten Gesuchs, was sie vier Jahre zuvor durchgewinkt hatten. Möglicherweise wachten sie auch erst auf, als Binz exekutieren wollte, wozu ihm das Gesetz nicht nur das Recht gab, sondern wozu es ihn verpflichtete. Im Züritüütsch des Unterländers wurde plötzlich klar, welcher Unsinn 2008 verabschiedet worden war. Die Medien griffen das Debakel jedenfalls genüsslich auf. „The Guardian“ flog aus England ein, eine TV-Station aus dem Norden berichtete, und die nationalen Zeitungen hieben fast ausnahmslos in die gleiche Bresche: der Reinfall sei Binz zuzuschreiben. Die Idee, dem Stimmvolk seine Kompetenzen zu nehmen, sei auf seinem Mist gewachsen. Doch das ist nachweislich falsch. Als man im Val Medel 2008 das Gesetz mit dem umstrittenen Passus in Kraft setzte, war Binz noch nicht im Amt; er begann sich erst gerade in Curaglia heimisch zu fühlen. Aber diese Fehlinformation hielt sich und hält sich hartnäckig.
Binz und der Gemeindevorstand nahmen sich zwei Jahre Zeit, um das Gesetz zu überarbeiten. Sollte das Explorationsgesuch doch noch bewilligt werden, gab es keinen anderen Weg, als die beiden Verfahren – Exploration und Abbau – zu entkoppeln. Das tat man. Die kritisierte Kompetenzdelegation wurde in der Folge gestrichen, künftig sollte das Volk wieder bestimmen können, wer wann wo Gold abbauen durfte. Die meisten Änderungen sind zu Ungunsten der Gesuchsteller ausgefallen, betont Binz denn auch, wie um klarzustellen, dass er und der Gemeindevorstand sich nicht noch einmal Begünstigung vorwerfen lassen wollen.
Eigentlich möchte Binz nun das neu entworfene Gesetz seinen Mitbürgern im Detail vorstellen, doch so weit kommt es nicht. Schon geht es wieder los mit dem Widerstand. Daniel Bundi meldet sich, sein Arm sticht so bestimmt wie die Fackel der Liberty-Statue in die Höhe. Was soll Binz tun? Er weiß, wer Daniel Bundi ist. Wie und was er denkt. Binz zögert. Er könnte die Hand ja übersehen. Das kann passieren. Oder sagen: Bitte melde dich später, zuerst meine Einleitung. Was nachvollziehbar wäre. Aber dann senkt er den Blick. Bitte, sagt er zu Daniel, und fügt eine einladende Handbewegung hinzu. Wie ein Diener, der seiner Herrschaft die Türe öffnet.
Daniel Bundi ist der Wildhüter hier oben. Anstatt zu schlafen, fährt er nachts mit seinem 4×4 über die Alpen und zählt Hirsche. Er liebt Natur und Berge. Bundi trägt meistens Militärleibchen, weil sie praktisch sind, weil sie grün und günstig sind. Den Luchs, den er einst oberhalb von Mutschnengia gesehen hat, stört seine immer gleiche Kleidung jedenfalls nicht. Bundi hat auch gesehen, dass an der Passstraße Mauerschwalben brüten. Das Nest kaum zu erkennen, an die Wand einer Lawinenschutzgalerie geklebt und genauso grau wie das Betongrau. Doch Bundi hat es gesehen. Und er weiß, wie man einen Rehbock rettet, der sich im Zaun verfangen hat: zuerst die Augen abdecken, dann den Körper, damit das dehydrierte Tier sich beruhigt und nicht mehr so wild mit den Läufen schlägt. Wenn es dann frei ist und er es Tage später wieder sieht, ruhig äsend, dann freut er sich von Herzen.
Hier im Tal soll ja ein Naturpark entstehen, der Parc Adula, sagt Bundi jetzt und hält ein Papier vor sich, eng beschrieben. Für diesen Park setzt sich auch unser Gemeindepräsident ein. Gleichzeitig steht er hinter dem Projekt Goldmine. Das geht doch nicht zusammen. Das widerspricht sich! Und wird das Gold abgebaut, so ist danach die Natur zerstört. Stimmen wir doch deshalb zuerst über den Park ab, Mitte 2015, und dann sehen wir weiter. Zudem: Was passiert mit unserem Wasser, wenn der Berg ausgehöhlt wird? Ich erinnere an den Bau des Strassentunnels in Flims. Danach ging der Wasserspiegel des Caumasees plötzlich zurück. Und auch der Bau der Druckstollen hier in Curaglia hat zu einem Rückgang des Quellwassers geführt. Ausgerechnet wir, die vom Wasser leben, schaufeln uns mit dem Gold vielleicht das eigene Grab!
Danke, sagt Binz, nachdem Bundi sich wieder gesetzt hat. Der Parc Adula ist gut, genügt aber nicht. Wir sind keine Ausstellungsobjekte für Unterländer. Wir brauchen Entwicklung. Fortschritt und Naturschutz müssen nebeneinander möglich sein. Es muss etwas passieren hier hinten. Vorerst wollen wir ja nur die Bewilligung zum Explorieren erteilen. Damit klar ist, was im Berg wirklich steckt. Eine Baubewilligung
ist das noch lange nicht. Man kann nicht einfach kommen und ein Loch machen. Und überhaupt: Die Chance, dass hier hinten je abgebaut wird, schätze ich auf zehn Prozent. Die meisten Explorationen verlaufen im Nichts – weil der Goldpreis zu tief ist, weil zwar Gold da ist, aber der Abbau zu teuer kommt.
Wir schaufeln uns mit dem Gold vielleicht das eigene Grab
Darauf beginnt der Gemeindepräsident das revidierte Gesetz Änderung für Änderung durchzugehen. Wie gesagt, betont Binz nochmals, die Kompetenzen sind jetzt wieder bei euch. Und wir werden uns künftig von externen, unabhängigen Fachleuten beraten lassen. Dann die nächste Unterbrechung. Marianna Lutz meldet sich, wohnhaft im Oberdorf. Im Stall stehen 12 Mutterkühe, 2 Rindli, 10 Kälbli und noch ein paar Schafe, die auf dem eigentlich ausgestorbenen Tavetscherschaf basieren, seltene Tiere mit Hörnern. Sie und ihr Mann wohnen in einem der ältesten Häuser von Curaglia; die Fresken auf der Außenmauer stammen aus dem 16. Jahrhundert. In diesen Tagen sind die beiden am Zäunen, auf dem Maiensäß oberhalb von Soliva: Der Sommer kommt. Zäunen, das heißt alle paar Meter ein Pflock, bis hinauf zum Wald, und entlang der Runse wieder hinunter, damit das Vieh nicht abstürzt. Im Herbst kommt dann alles wieder weg, weil die Schneelast sonst Pfähle und Drähte kaputtmacht. Soll einer sagen, das Bergbauern sei ein Schleck. Deshalb haben Marianna Lutz und ihr Mann auch keine Zeit, einen Besucher mitzunehmen.
Ich will wissen, sagt Marianna Lutz jetzt vor den versammelten Bürgern, warum überhaupt sondiert werden soll, wenn die Wahrscheinlichkeit bei zehn Prozent liegt, dass hier je Gold abgebaut wird. Weshalb also alles? Vor allem, das wissen wir ja alle, wird im Ausland den Menschen so viel Leid angetan mit dem Goldabbau. Diese Umweltvergiftung! Und all der Abraum. Wir wollen einen sanften Tourismus bei uns. Wir brauchen die Natur zum Leben, für die Landwirtschaft und für unsere Gäste. Gold brauchen wir nicht zum Leben. Zudem, und das stört mich sehr, nimmt uns der Gemeindevorstand nicht ernst. Obwohl wir 2012 so deutlich dagegen gestimmt haben, erhalten wir die Explorationsbewilligung nun erneut vorgelegt. Weshalb? – Ich bin gegen dieses Projekt.
Danke, sagt Binz Peter. Die Faust ist immer noch da. Aber nun strahlt sie nicht mehr Spannung aus, sondern Kampfbereitschaft. Ja, das Herauslösen des Goldes aus dem Gestein wird ein kritischer Punkt sein. Aber für mich ist klar: Gift kommt nicht ins Tal. Und die anderen Fragen, das Thema Abraum, auch die Lage der Mine, das ist jetzt noch viel zu früh. Wir diskutieren hier über eine Explorationsbewilligung. Die SwissGold will nochmals überprüfen, ob es wirklich genug Gold hat. Das hat noch gar nichts mit Abbau zu tun. Diese Fragen werden wir später diskutieren. Aber wenn wir bereits die Exploration verhindern, dann schlagen wir die Türe zu, bevor wir sie geöffnet haben. Dann bleibt uns hier oben nicht viel mehr, als zu gärtnern.
Stille. Marianna Lutz und mit ihr alle, die im Val Medel von der Landwirtschaft leben, sind erstarrt. Das kann nicht sein. Und doch haben sie sich nicht verhört. Gärtnern! Vielleicht kann man das in Zermatt sagen, wo die Geißenzüchter ihr bimmelndes Kleinvieh gegen Geld durch die Gassen treiben, weil es den Japaner freut, vielleicht darf man das auch im Unterland sagen, wo die Bauern jetzt sogar für die Pflege von Helgenstöckli entschädigt werden sollen, aber im Val Medel: Nein! Und so geht dann, nach einigen Sekunden knisternder Tonlosigkeit, ein Zischen durch die Reihen. Also nei …! Gopf …! Gaats no!
Aber mehr als das kommt nicht. Dafür sind die Menschen im Val Medel viel zu anständig. Oder sie haben zu viel Respekt vor dem Mann, der jetzt vor ihnen steht, der zur Spitze eines Unternehmens mit zweieinhalbtausend Angestellten und einer Dreiviertelmilliarde Umsatz gehörte. Erst später werden Binz’ Gegner das Wort nochmals aufgreifen: gärtnern! Das hat er gesagt. Unglaublich. Der spricht nicht einmal
Romanisch und erlaubt sich so was. So gebildet und doch so ignorant. Die Beleidigung öffnet Schleusen, um Vorwürfe, auch Unterstellungen, aufzuwärmen. Wie er das Problem mit dem hässlichen Saalanbau löste! Typisch, der reiche Unterländer. Und die Idee, im ehemaligen Altersheim eine Art Sanatorium einzurichten: total daneben. Der Stammtisch in seinem Hotel, der zwar so heißt, Canorta, aber hast du dort jemals Einheimische sitzen sehen? Ich nicht. Und natürlich taucht auch das Thema der Briefkästen auf, jene, die hinter dem alten Postbüro hängen, nigelnagelneu sind sie. Der oberste ist angeschrieben mit ACASA-medel, auf dem mittleren steht Peter Binz, Unternehmer, und auf dem untersten: SwissGold Exploration. Was genau hat Peter Binz, eigentlich zur Rettung des Tals gekommen, gleichzeitig aber auch Unternehmer in eigener Sache, mit dem dritten Briefkasten zu tun? Dass er zu den Gründern der ACASA-medel gehört, wissen wir. Da genügt ein Blick ins Internet. Aber was ist mit der SwissGold? Warum befindet sich deren Geschäftssitz im selben Haus, wie Binz sein Büro hat? Hat Binz bei der SwissGold Aktien?
Verhindern wir die Exploration, bleibt uns nur noch gärtnern
Binz referiert weiter. Er hat die empörte Reaktion auf sein „gärtnern“überhört oder tut jedenfalls so. Doch dann unterbricht er sich und sagt, als sei ihm das soeben in den Sinn gekommen: Wir warten auf der Gemeinde seit Jahren auf weitere Ideen aus der Bevölkerung, wie es hier im Tal weitergehen soll, was wir gegen die Abwanderung
tun können. Wir haben gehofft, dass ihr mit uns denkt. Motionen, Petitionen und Initiativen sind die politischen Mittel, um euren Wünschen Gewicht zu geben. Aber es ist nichts gekommen. Nichts. Schließlich ist der Gesetzesentwurf zu Ende besprochen.
Weitere Fragen oder Kommentare? Arnold Flepp meldet sich, Wasserwärter in zweiter Generation, Schulrat und Feuerwehrmann im Zug 1. Die Staumauer oben am Pass kennt keiner so gut wie er. Die Staumauer, die der Gemeinde jedes Jahr eine Million in die Kasse schwemmt. Flepp fährt regelmässig in seinem schwarzen SUV von Curaglia hoch zum Pass, relaxed im Fahrersitz hängend, jung und gut gelaunt, dazu klassische Musik. Kurz vor der Passhöhe stellt er den Blinker, verlässt die Strasse und holpert über Stock und Stein zum Fuß der Mauer. Dort öffnet Flepp ein Tor und damit den Eingang zu einem Labyrinth aus Gängen und Treppen, als wäre die Staumauer ein Lebewesen, als würde er nun durch dessen Adern gehen, durch den Bauch, 560 Meter breit, dann hinunter in die Füße und hinauf in den Kopf, 117 Meter Höhenunterschied, Adern aus eisig kaltem Beton, jeden Ton hundertfach zurückwerfend. Würde das Licht ausgehen, es wäre das Ende: keine Chance, aus der Wirrnis dieser Tunnels herauszufinden. Weshalb Flepp stets eine Taschenlampe dabei hat. Dann plötzlich das Alarmhorn, oh Gott, kollabiert die Mauer ausgerechnet jetzt? Doch was so infernalisch tutet, ist nichts als das Telefon im Überwachungsraum. Es klingelt. Flepp nimmt ab, lacht, hängt auf und geht weiter durch die Adern, kontrolliert hier und kontrolliert dort, schaut nach den Loten, aufgehängt an feinen Drähten, von zuoberst bis zuunterst in der Mauer reichend. Sie registrieren jede Bewegung, inklusive Erdbeben in Südafrika. 14 Zentimeter gibt die Mauer nach, wenn der Stausee voll ist.
Unsere Gesetze, hebt Flepp jetzt vor den Mitbürgern an, sind so streng, und unsere Umweltschutzorganisationen schauen so genau hin, dass eine Goldmine nie bewilligt wird, die Menschen und Natur gefährden könnte. Da bin ich mir sicher. Wir in der Gemeinde Medel haben aber nicht allzu viele Möglichkeiten. Wenn sich nun ein neuer Weg zeigt, wie wir Arbeit und Einkommen generieren können, so müssen wir diese Chance wenigstens prüfen. Vor allem für die kommenden Generationen; es geht um ihre Zukunft. Ich bin deshalb dafür, dass sondiert wird. Stellt sich heraus, dass ein Abbau tatsächlich lohnenswert ist, müssen die weiteren Schritte wieder vors Volk.
Noch eine Hand. Sie gehört Werner Bundi, Dachdecker, ebenfalls in der Feuerwehr, Zug 2, gleichzeitig engagiert bei der ACASAmedel. In diesen Tagen setzt er einem Maiensäss ein neues Zinkdach auf, hoch am Berg mit Blick über die Surselva, schöner kann es nicht sein. Aber für die Aussicht hat er keine Zeit, auch für den Hund der Freundin nicht, den er heute hüten muss und der unentwegt zu ihm hinaufbellt, und so hat er auch für den Gast nur ein paar Minuten. Das Geschäft läuft super, die Zweitwohnungsinitiative hat der Auftragslage bis jetzt keinen Abbruch getan, also nutzt Bundi die Gunst der Stunde. Der Gehilfe schiebt die Blechbahnen hinauf aufs Dach. Bundi richtet sie aus, perfekt gerade, dann die Falzmaschine angesetzt. Ratternd bewegt sie sich Richtung Giebel, und schon sind wieder zwei Bahnen verbunden, wasserdicht, so an die zwanzig Jahre hält das schon. Ich habe Vertrauen in den Gemeindevorstand, dass er das richtig macht, sagt Bundi, als ihm Binz das Wort erteilt. Wenn wir nichts gegen die Abwanderung unternehmen, ist es bald aus hier. Es geht rasant. Aber ich sage nicht einfach Ja. Wir müssen schauen, dass das gut kommt. Wenn wir die Exploration bewilligen, ist noch nichts entschieden. Dann erfahren wir, was es wirklich im Berg hat. Auf Basis dieser Erkenntnisse wird dann möglicherweise ein Abbaugesuch eingereicht. Falls ja, müssen wir das das Pro und Contra erneut abwägen und darüber entscheiden.
Danke, sagt Binz, und nochmals: Gift kommt mir nicht ins Tal. Mein Wunsch ist es, dass wir im Val Medel die weltweit erste zu hundert Prozent umweltverträgliche Goldmine bauen. Das wäre super. Und das optimale Label für das Tal: grünes Gold vom Lukmanier! – Nun kommen wir zur Abstimmung.
Die Gegner verlieren, mit 13 zu 15 Stimmen. Als Binz das Resultat bekanntgibt, bleibt es still im Saal. Nicht die geringste Reaktion. Kein Seufzen, weder aus Erleichterung noch aus Frust. Als hätte man über eine Bagatelle abgestimmt. Seltsam. Auch Binz lässt sich nichts anmerken. Er geht sofort zum nächsten Traktandum über; der Jahresabschluss der lokalen Elektrizitätswerke steht an. Einzig die Faust ist weg. Dabei manifestierten sich hier soeben Differenzen zwischen Weltanschauungen, wie sie größer kaum sein könnten. Das Blut des Bergs, wie Goldschürfer die glänzenden Atome nennen, kann nun untersucht werden. Das ist für die einen der Anfang, für die anderen aber das Ende.
Das Ende der Heimat.
Tage später resümieren die Gegner, weshalb sie verloren haben. Wo sie doch im Jahr 2012 das damalige Votum so deutlich gewonnen hatten. Allerdings fand die Abstimmung damals an der Urne statt. Jetzt, 2014, mussten die Menschen der Gemeinde Medel mit Handaufheben deklarieren, auf welcher Seite sie stehen. Vielleicht trauten sich manche nicht, ihre Meinung so öffentlich bekannt zu geben, von Angesicht zu Angesicht mit Peter Binz, dem großen Zampano. Oder haben wir zu wenig mobilisiert? Und eben: Weshalb haben Dominik Waldmeier und Eveline Hauser gefehlt, die beiden Aussteiger oben am Berg? Die hätten doch gegen die Mine gestimmt, so wie sie leben. Das ist doch klar. – Wirklich?, kommt die Nachfrage. Bist du sicher? Die hängen doch an Binz’ Tropf; er bringt ihnen Kundschaft für ihr Geißen-Trekking. Die
können es sich doch gar nicht leisten, ihm in den Rücken zu fallen. So diskutieren die Gegner bei Mineralwasser und Cola Zero in die Nacht, sind unsicher, was mit ihrem Tal geschieht, und gehen schließlich auseinander, etwas bedrückt und etwas geschlagen.
Frage am nächsten Tag an Dominik und Eveline: Wie hätten sie sich entschieden? Sie sitzen in ihrer Jurte neben dem Weiler Soliva, tief unten die Passstraße, Holz knackt im Ofen. Draußen bimmeln und meckern die Ziegen ihr Oratorium in den Regen. Eveline rührt in ihrem Tee und sagt wenig. Dominik rührt im Kaffee und sagt: Wir alle benutzen Gold. Im Handy hat es Gold. Im Ehering. In der Stereoanlage. Alle Goldfirmen zerstören die Natur, alle verwenden Gift. Wer Gold nutzt, ist für die großen und kleinen Katastrophen mitverantwortlich – unabhängig davon, ob in Südafrika oder in der Schweiz geschürft wird. Das ist so. Und solange Aspekte wie die Landschaftsverwüstung, Umweltverschmutzung und die ungeheuren Geschäftspraktiken in dieser Branche nicht gelöst sind, bin ich vehement gegen jeden Abbau, überall auf der Welt. Aber deswegen Binz anzugreifen, ihn als rotes Tuch hinzustellen, das ist allzu einfach. Das Gold ist in dieser Gegend schon lange ein Thema, lange bevor er nach Curaglia kam. Das Tal braucht Leute wie ihn. Dann schweigt Dominik, Eveline nickt, das Prasseln des Regens auf dem Jurtendach wird zum Getrommel. Also tatsächlich: Sie sind dagegen, jedenfalls gegen den Bau einer Goldmine. Aber wären sie auch gegen eine Exploration, gegen Probebohrungen? Dazu äußern sie sich nicht, und so bleibt auch offen, ob die Abstimmung tatsächlich mit einem Patt ausgegangen wäre, 15 zu 15 anstatt 15 zu 13 zugunsten der Befürworter des Projekts. Spielt aber keine Rolle; denn die Abstimmung ist vorbei, und die beiden sind nicht gekommen. Weshalb? Sie beginnen unter sich die Gründe ihrer Abwesenheit zu diskutieren, was haben wir gemacht an diesem Abend, waren wir unterwegs, kamen wir zu spät vom Stall in Caschatscha zurück, oder waren wir irgendwo eingeladen? Was war nur der Grund? Das Gespräch verebbt ohne greifbares Ergebnis.
Der Schmetterling hat mit seinen Flügeln geschlagen, die Abstimmung öffnet das Tal den Goldsuchern, und so muss man letztlich selbst herausfinden, ob Binz – Gemeindepräsident, Hotelbesitzer, Unternehmer – mit dem Gold allein das Wohl des Tals vor Augen hat oder ob er das Projekt nicht auch mit eigenen Interessen verbindet. Doch wie? Wie kann man feststellen, ob er tatsächlich mehr Altruist als Egoist ist? Wie kann man wissen, ob ihm eine umweltverträgliche Goldgewinnung wirklich am Herzen liegt, etwa jene als Sensation deklarierte Entdeckung, die 2013 an der Northwest University in den USA gelang: Gold lässt sich gut und günstig mit Alpha-Cyclodextrin, einem Bestandteil von Maisstärke, aus dem Gestein holen. Und wie kann man sicher sein, dass er einem Abbau wirklich nur zustimmt, wenn nicht das ganze Tal mit Abraum zugemüllt wird? Hier hinten müssen irgendwo Hunderttausende von Kubikmetern herausgebrochenen Gesteins gelagert werden.
Wie kann man herausfinden, ob Binz sich mit all diesen Fragen wirklich auseinandersetzt und nicht aufgibt, bevor die bestmögliche Lösung gefunden ist? Oder sind seine Sorgen nur die Alibisorgen eines Unterländers, dessen Naturell irgendwann überwiegen wird? Binz war eine Karriere lang Finanzmann, mehr war immer besser, das kann man nicht von heute auf morgen ablegen.
Schließlich sagt eine kleine, ja winzige Beobachtung möglicherweise mehr über ihn und sein Wesen aus als alles andere, mehr als die Interviews, als die Recherchen über seinen Hintergrund und Erkundigungen über ihn bei Menschen in Berg und Tal. Vielleicht sagt diese Beobachtung mehr, vielleicht auch nicht. Eines der Gespräche mit Binz findet im Untergeschoss seines Hotels statt, zwei Stockwerke unter der Rezeption. Binz hat sich für das Interview einen Kaffee bestellt, die Kellnerin hat ihn hinuntergebracht. Das Gespräch nimmt seinen Lauf, dann Verabschiedung. Was tut Binz nun mit der leeren Tasse? Lässt er sie stehen? Zeigt er, dass er als Chef keine Zeit hat, an die Mühsal einer Kellnerin zu denken, oder erspart er ihr diesen Gang in die Tiefe? Ist er Altruist oder Egoist? Als Binz oben ankommt, lächelt die Kellnerin. Tage später schickt er, dazu passend, die schriftliche Bestätigung für sein Verhalten: „Ich bin weder an der Firma SwissGold Exploration AG noch an ihrer Muttergesellschaft finanziell beteiligt.“
Aufmacher-Bild von Christian Schmidt: Gold aus dem Rein da Medel (gewaschen von Gold Gusti). Das größte je gefundene Nugget wiegt etwa 400 Gramm.
Diese Geschichte erscheint bei Krautreporter mit der freundlichen Genehmigung des Magazins „Reportagen“. Krautreporter-Mitglieder können ein kostenloses Exemplar des Magazins bestellen. Dazu bitte diesem Link folgen.