Zum ersten Teil der Reportage über Selbstverbrennungen von Tibetern
Aktivist Tenzin Tsundue
Tenzin Tsundue nennt sein Zuhause liebevoll „Ashram“. Damit ist in der Regel ein meditativer, ein spiritueller Ort gemeint. Er teilt sich die Wohnung in Lower Dharamsala mit vier anderen Mitbewohnern. Im großzügigsten Raum, einem Oktagon, geht er seiner Arbeit als Schriftsteller und „Freiheitskämpfer“ nach. Der 41-Jährige ist Sohn tibetischer Flüchtlinge. Deshalb bezeichnet er, obwohl er in Südindien geboren ist, Tibet als seine Heimat. Tenzin Tsundue ist viel auf Reisen und zeigt uns seinen Reisepass.
Für junge Tibeter ist es ein Problem zu reisen, weil sie in der Regel keinen Reisepass besitzen. Bis 1995 hat die nepalesische Regierung sogenannte ID-Cards ausgegeben, die dem deutschen Personalausweis entsprechen. Doch irgendwann setzte man dieses Gentlemen’s Agreement aus – und damit fingen für die Tibeter die Schwierigkeiten an. Denn ohne Ausweis kann man nicht mal ein Bankkonto eröffnen, geschweige denn eine Arbeit finden, studieren oder reisen.
Tenzin Tsundue ist davon überzeugt, dass er den Kampf für ein freies Tibet mit Hilfe von Bildung gewinnen kann. Da er fließend Englisch spricht, geht er regelmäßig auf Lesereise und macht die internationale Gemeinschaft so auf seine Mission aufmerksam. Als Kind und Jugendlicher hat er – wie die meisten Exil-Tibeter – ein Tibetan Children’s Village (TCV) besucht, vergleichbar mit einem SOS-Kinderdorf. In Indien gibt es davon genau acht. Hinzu kommen Internatsschulen, Tagesschulen, Kinderkrippen, Berufsbildungszentren, Studentenheime und Altersheime.
Link für eine Fotostrecke mit Bilder aus dem Kinderdorf rechts in den Autoren-Anmerkungen.
Politischer Häftling Ven Bagdro
Ven Bagdro ist 1991 aus Tibet geflohen. Davor ist er jahrelang in chinesischen Gefängnissen gefoltert worden. Als wir ihn treffen, erzählt er davon, dass ihm Elektroschocks verpasst wurden, unter anderem in den Mund. Sein Körper bebt unter dem roten Sari, als er die Bewegungen nachahmt. Er sagt, dass man ihn geschlagen habe, bis er blutete. Dass man Zigaretten in seinem Gesicht ausgedrückt habe. Dass er mit Glasscherben gequält worden sei. Dass ihm Rippen gebrochen worden seien.
Er spricht davon, dass Polizisten eine tibetische Frau vergewaltigt und dann ins Krankenhaus gebracht hätten. Sie sei überall aufgeschlitzt worden und schließlich verblutet. Wenn man Ven Bagdro zuhört, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Man fragt sich: Was davon ist wahr? Übertreibt er womöglich? Immer wieder sagt er, dass sein Karma ihn davor bewahrt habe, im Gefängnis zu sterben. Als er es nicht mehr ausgehalten habe, habe er versucht, sich mit einem Strick umzubringen. Doch die Gefängniswärter haben das nicht zugelassen. Sie sagten zu ihm: „Wir töten dich langsam – zuerst brauchen wir deine Informationen.“
Die Informationen bezogen sich auf einen Protest in Tibets Hauptstadt Lhasa Ende der 1980er Jahre, an dem Ven Bagdro teilgenommen hat. Er sollte die Namen anderer Demonstranten nennen. Doch Ven Bagdro gab sie – trotz der Schmerzen – nicht preis. Die chinesische Verfassung, die auch für Tibet gilt, nennt er eine Farce. In Wirklichkeit sei alles verboten – man dürfe sich nicht versammeln, die Gerichte seien nicht unabhängig und von Religionsfreiheit könne keine Rede sein.
Irgendwann hat sich Ven Bagdro selbst Englisch beigebracht und angefangen, Bücher zu schreiben. „Hell on Earth“ war sein bislang größter Erfolg, mit einer Auflage von 30.000 und Übersetzungen in 30 Sprachen. Insgesamt hat er es inzwischen auf elf Bücher gebracht. Ob es weitere geben wird, ist unklar.
In Dharamsala lebt der Mönch auf bescheidenen zehn Quadratmetern. Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer – alles in einem. Ein altes, verkratztes Nokia-Handy gehört ihm. Ein Smartphone besitzt er nicht, auch keinen Laptop. Am letzten Buch hat er eineinhalb Jahre gearbeitet, hat Passagen immer wieder handschriftlich festgehalten und sie im Anschluss bei Freunden abgetippt.
Für den Druck braucht er 100.000 indische Rupien, umgerechnet 1.300 Euro. Mit Hilfe von Spenden will er das Geld zusammenbekommen. Das sei machbar, aber mühsam, stöhnt er. Das Buch wolle er im Anschluss an die wichtigsten Botschaften in Neu-Delhi verteilen, damit die tibetische Sache nicht in Vergessenheit gerät. Ven Bagdro sagt: „Viele meiner Freunde sind gestorben, aber ich werde diese Menschen nicht vergessen – deshalb muss ich etwas machen. Deshalb muss ich reden und schreiben.“
Tibetische Exilregierung
Die tibetische Exilregierung wurde gegründet, nachdem der Dalai Lama 1959 nach Indien geflohen war. Sie kümmert sich um die Belange der Exil-Tibeter, das heißt, sie unterhält vor allem Schulen und Altenheime und organisiert kulturelle Veranstaltungen. International ist die tibetische Exilregierung nicht als rechtmäßige Regierung anerkannt. Trotzdem wird sie von den Tibetern unterstützt, weil sie Ministern und Abgeordneten eine Legitimation gibt, Reden zu halten und öffentlich aufzutreten.
Seit August 2011 ist das 14. Kabinett im Amt. Es besteht aus dem Premierminister Lobsang Sangay und sechs Ministern, die sich um Bildung, Religion / Kultur, Heimat, Information / internationale Beziehungen, Finanzen, Sicherheit und Gesundheit kümmern. Nachdem der Dalai Lama 2011 seine politische Funktion aufgegeben hat, ist der Premierminister nicht nur Regierungschef sondern auch politisches Oberhaupt. Dem Parlament gehören insgesamt 44 Abgeordnete an. Zweimal im Jahr wird getagt. Der Aktivist Tenzin Tsundue sagt, es sei ein wichtiges demokratisches Experiment – „denn wenn Tibet eines Tages unabhängig wird, sind wir bereit“.
Staatssekretär Tashi Phuntsok erklärt: „China hat 1,3 Milliarden Menschen, es hat militärische und auch politische Macht – sogar die USA sind im Moment sehr zurückhaltend, wenn es um China geht. Aber trotz alledem haben sie es nicht geschafft, die Tibeter in die Knie zu zwingen. Und das haben wir einzig und allein dem pragmatischen Mittelweg des Dalai Lama zu verdanken. Nur deshalb haben wir überlebt. Erfolg und Misserfolg hängen nur davon ab, ob wir uns irgendwann zu einer Einigung mit China durchringen können.“ Gleichzeitig, sagt Tashi Phuntsok, sei klar, warum China ein so großes Interesse an Tibet hat – es gehe einzig und allein um natürliche Ressourcen.
Der 14. Dalai Lama
Der Dalai-Lama-Palast in Dharamsala liegt auf 1.800 Meter Höhe, mit Blick auf den Himalaya. Unzählige Mönche leben darin und meditieren. Tagein, tagaus. Jeder kann den Palast besuchen, wenn man sich vorher aller elektronischen Geräte entledigt hat. Etwa alle zwei Monate gibt der Dalai Lama in seinem Palast mehrtägige Unterweisungen, die öffentlich sind. Man muss sich dafür nur im Vorfeld anmelden – die Anmeldegebühr beträgt umgerechnet zwei Euro. Professionelle Übersetzer sorgen via Kopfhörer dafür, dass man den Ausführungen des Dalai Lama in allen gängigen Sprachen folgen kann.
Natürlich haben wir im Rahmen unserer Recherche-Reise auch eine Interview-Anfrage an den Dalai Lama (übersetzt: „Ozean der Weisheit“) gestellt, um mit ihm persönlich über die Situation in Tibet, vor allem über die Selbstverbrennungen zu sprechen. Sein Sekretär Tenzin Taklha antwortete (auf Englisch):
„I am sorry to inform you that an interview will not be possible. In all honesty, there are just too many requests for His Holiness’ time and we unfortunately have to decline the majority of them. His Holiness has many public engagements throughout the year resulting in a very busy and demanding schedule and leaving us with little time to schedule private engagements, including audiences and interviews. More importantly, in view of His Holiness’ age and our concern for ensuring His Holiness’ continued good health, we are also making it a priority to reduce his overall engagement schedule whether here in Dharamsala or on visits. We hope you will understand our situation.“
In einigen wenigen Interviews hat sich der Dalai Lama zu den Selbstverbrennungen geäußert. So sagte er zum Beispiel der Wochenzeitung DIE ZEIT im Sommer 2013: „Was diese jungen Leute tun, hilft nicht. (…) Das Tibet-Problem muss durch freundschaftlichen Dialog gelöst werden, nicht durch Konfrontation. Nur der Weg der Verständigung ist realistisch.“
Kapitel 4: Der Hintergrund
Als Mao Zedong 1949 die Volksrepublik China gründete, wollte er Tibet – das sich zuvor für unabhängig erklärt hatte – an das chinesische „Mutterland“ anschließen. Im Oktober 1950 marschierte die chinesische Volksbefreiungsarmee in Tibet ein. Daraufhin übernahm der heutige Dalai Lama – im Alter von 15 Jahren – die Regierung Tibets. Da die tibetische Armee schlecht ausgerüstet war, war eine Kapitulation unausweichlich. So wurde in einem 17-Punkte-Abkommen die Integration Tibets an China beschlossen, gleichzeitig aber auch regionale Autonomie und Religionsfreiheit zugesichert. 1955 kam es zu ersten Protesten, die blutig niedergeschlagen wurden. Am 10. März 1959 brach in Lhasa schließlich der sogenannte „Tibet-Aufstand“ los. Daraufhin floh der Dalai Lama nach Indien und fand in Dharamsala (übersetzt: Pilgerherberge) Zuflucht. In den Kämpfen starben mehr als 86.000 Tibeter. Während der chinesischen Kulturrevolution 1966 bis 1976 wurden darüber hinaus tausende Klöster und Kulturdenkmäler geplündert und zerstört.
Seitdem ist die Lage angespannt. Unzählige chinesische Polizisten und Milizionäre bewachen die sechs Millionen Tibeter, unterdrücken und drangsalieren sie. Die Tibeter empfinden die dauerhafte Besetzung Tibets durch die Chinesen als Verstoß gegen internationales Recht und gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Die Regierung in Peking argumentiert, dass Tibet seit 700 Jahren fester Bestandteil Chinas ist. Sie sieht den Dalai Lama als Separatisten, der die Spaltung Chinas vorantreibt. 2002 bis 2010 hat der europäische Gesandte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, Verhandlungen mit der chinesischen Regierung geführt. Sein Credo: „Eine Lösung ist nur durch Dialog möglich!“ Doch die Gespräche wurden im Januar 2010 von chinesischer Seite, ohne Angabe von Gründen, auf Eis gelegt.
Interessantes Detail: Kelsang Gyaltsen unterhält sein Büro in Zürich. Das kommt nicht von ungefähr, denn in der Schweiz gibt es so viele tibetische Flüchtlinge wie nirgends sonst in Europa. Die Schweizer – ursprünglich ein Bergvolk – haben sich 1964 mit den Tibetern – ein anderes Bergvolk – solidarisiert und 1.000 tibetische Flüchtlingskinder aufgenommen. Heute leben etwa 4.500 Tibeter in der Schweiz. In Rikon gibt es seit 1968 sogar ein eigenes tibetisches Kloster mit acht Mönchen, die entsprechende Riten und Zeremonien vornehmen. Vor allem die Morgen-Zeremonie hat eine besondere Bedeutung, nicht nur in Rikon, sondern auch im Hause Utse in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu:
Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle auch die chinesische Position erwähnt werden. Im Oktober 2013 hat die chinesische Regierung ein Weißbuch zum Thema „Entwicklung und Fortschritt in Tibet“ herausgegeben (auf Englisch). Unter anderem steht darin:
„Die Entwicklung und die Veränderungen in Tibet sind für jeden ersichtlich. Jeder aufrichtige Mensch wäre darüber erstaunt und diejenigen, die sich für Tibet interessieren, wären erfreut, das alles zu sehen. Trotzdem gibt es eine Handvoll Menschen, die diese Fakten einfach ausblendet und den Entwicklungsweg, den Tibet zurückgelegt hat und die Modernisierung, nach der Menschen aller Ethnien streben, leugnet. (…)“
„Der 14. Dalai Lama und seine Clique führen seit langem separatistische Aktivitäten durch, um die Entwicklung und Stabilität Tibets zu sabotieren. Nachdem die bewaffnete Rebellion 1959 gescheitert ist, sind sie ins Ausland geflohen und haben angefangen, Chinas Grenze zu drangsalieren. In den letzten Jahren haben sie den Begriff ‘Groß-Tibet’ aufgebracht und von ‘einem hohen Maß an Autonomie’ gesprochen, was Chinas Position entgegensteht und die Verfassung sowie bestehende Gesetze verletzt. Ihr wahres Ziel ist, das sozialistische System und das System der regionalen ethnischen Autonomie, das in Tibet praktiziert wird, zu stürzen und die Grundlagen, die Tibets Entwicklung und Fortschritt sicherstellen, ins Wanken zu bringen.“
Exklusiv für Mitglieder: Fotos von Fabian Weiss.
Die Autoren:
PAULINE TILLMANN (31) arbeitet als freie Auslandskorrespondentin in St. Petersburg, vor allem für die ARD und den Deutschlandfunk. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Reportagen und Radio-Features über soziale, kulturelle und politische Themen aus Russland und der Ukraine. Von 2007 bis 2009 hat sie beim Bayerischen Rundfunk in München volontiert (Radio / TV). Heute ist sie vor allem als Reporterin, Autorin und Dozentin im Einsatz. Im Sommer 2013 veröffentlichte sie das iPad-Buch „Frei arbeiten im Ausland“. Mehr unter: pauline-tillmann.de und paulines-podcast.de.
FABIAN WEISS (28) ist freischaffender Fotograf und Mitglied der Agentur LAIF. In seinen fotografischen Essays erforscht er kulturelle Veränderungen unserer Zeit. Intime Bilder zeigen nuancierte und durch feinfühlige Beobachtung entstandene Porträts im Kontext der jeweiligen Kultur. Seine Fotografien wurden weltweit ausgestellt und in zahlreichen Medien veröffentlicht, u.a. Geo, Der Spiegel, DIE ZEIT, The New York Times und Le Monde. Fabian Weiss wurde mit einigen der renommiertesten Preise ausgezeichnet, darunter der CNN Journalist Award, der Getty Emerging Talent Award, der BFF Förderpreis und der Deutsche Fotobuchpreis. Er lebt in Estland und Deutschland und arbeitet überwiegend im Baltikum, in Osteuropa und weiter östlich. Mehr unter: fabianweiss.com.
_Danksagung: DANKE an alle, die diese Recherchen durch Crowdfunding ermöglicht haben. Im Frühjahr 2013 ging die Kampagne „Der flammende Tibeter“_auf der damaligen Crowdfunding-Plattform Krautreporter an den Start. Am Ende kamen Spenden in Höhe von rund 3.500 Euro zusammen. Nur dadurch konnte die Recherchereise nach Nepal und Indien im September 2013 überhaupt erst stattfinden. Wir danken außerdem allen, die uns Einblick gewährt haben in die tibetische Kultur. Und nicht zuletzt: Danke an unsere Übersetzer Tenzin Sangmo und Bhuchung D. Sonam sowie für editorielle Hilfe beim Videoschnitt an Liisi Mölder.