Marjolein de Visser macht raumgreifende Handbewegungen, streift dabei das Plüschsofa, den Diwan und den alten Mann, der seit einer Weile vor der kahlen weißen Wand steht.
„Dieser Teil ist für Menschen gemacht, die an ein Luxusleben gewöhnt sind“, sagt de Visser. Ein Begrüßungslächeln. De Visser ist Sozialarbeiterin, Mitte dreißig, schlank und gesund schaut sie aus.
Eine Gruppe Journalisten lungert höflich nickend im Eingangsbereich. Die Einrichtung ist gemütlich, eine nicht ganz kitschlose Nachbildung vergangener Zeiten. Der Parkettboden ist hochglanzgewachst. Rosen stehen in Porzellanvasen.
Dann zeigt de Visser auf die Trennwand, die, mit einer golden gemusterten Relief-Tapete überzogen, den Raum aufteilt.
„Wie Sie sehen, ist die Küche in diesem großbürgerlich angelegten Heim außer Sichtweite, hinter einer Wand versteckt“, sagt sie. „Die Bewohner hier sind es nicht gewohnt, von der Zubereitung ihres Essens etwas mitzubekommen. Und, wie sie sehen, sind sie alle ganz tadellos gekleidet.“
De Visser tritt auf eine ältere Dame zu, die auf einer roten Liege Platz genommen hat und streckt ihr die Hand entgegen. Die Kleidung der Frau ist tatsächlich sehr elegant: ein knackiges schwarzes Kleid, eine dünne Feinstrumpfhose, eine vornehme Halskette. Sie scheint hocherfreut über die einladende Geste, über die Hand der jungen Frau. Sie versucht, sich zu erheben. Ein Geräusch scheint direkt aus ihrem Zwerchfell zu kommen. „Mmmaa!“,sagt sie. „Mmmaa!“
Willkommen in der Zukunft der jungen Menschen von heute! Der Standort: Hogewey, Heim für Senioren, Weesp, Nordholland. Eine Gruppe internationaler Journalisten-Touristen ist hergekommen, um sich das Ganze mal anzusehen. Kann losgehen.
Eingerichtet wie früher
Hogewey ist ein neuer Typ Seniorenheim, ein Dorf mit speziellem Design, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Alzheimer-Patienten.
Eine gespiegelte Wirklichkeit.
Und wer bestimmt, was real ist? Die Beratungsfirma Motivaction.
Basierend auf einem breiten Spektrum gesammelter Daten, hat Motivaction eine Analyse des Kundensegments angeschoben und die Klientel von Hogewey in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Gewohnheiten eingeteilt. Es gibt das traditionelle Zuhause, den urbanen Haushalt, eine christliche Bleibe oder das gemütliche Heim mit Kaminfeuer; eines mit Einrichtung für die Oberschicht, ein Heim mit Hochkultur-Akzenten, und, als Rückkehr in die imperiale Vergangenheit der Niederlande, das indonesische Domizil.
Die Leute in Weesp glauben, ihre Patienten wären besser dran, wenn die Einrichtung an ihre frühere Umgebung angepasst ist. Die Einrichtungsgegenstände, die frühere Lieblingsfernsehserie oder eine geschätzte Tageszeitung. Das jeweilige überlieferte Lieblingsessen von einst wird entweder offen zubereitet (urbaner Haushalt) oder in einem separaten Raum (Oberschicht).
Das Personal trägt Alltagskleidung in fast allen Teilen der Einrichtung. Anzeichen eines Heimcharakters sind fast vollständig beseitigt. Nur einige wenige Hinweise auf institutionelles Leben sind sichtbar: Türen haben keine Schwellen. Und in beinahe jedem Raum hängt an einer Wand eine Uhr.
Marjolein de Visser führt die Journalisten über den Hof in den urbanen Teil des Komplexes, eingerichtet für die Arbeiterklasse, die sich nicht an sichtbaren Küchenzeilen stört.
Landschaft der Kindheit als lebenslange Begleitung
Ich muss an meine Großmutter denken. Eine Frau, deren Leben lichtdurchflutet war von hellen Bildern der Erinnerung an das verloren gegangene Karelien. Karelien, das östliche Gebiet, das Finnland gegen Ende des Winterkriegs 1939 an Russland verlor. Meine Großmutter, eine Geflohene, hatte immer dorthin zurückgewollt – in das Karelien ihrer Vergangenheit.
Wir nahmen immer den Zug nach Vyborg, der größten Stadt in Karelien. Dort angekommen, übermalte sie die Stadt mit ihren Bildern von einst: längst abgerissene Häuser, geschlossene Restaurants und Ladengeschäfte, den alten Arbeitsplatz ihrer Mutter, Orte, an denen sie als Kind gespielt hatte. Ihre Beobachtungen warfen eine Serie an erinnerten Bildern durch die Stadt, und durch diese schien das tatsächliche Terrain für sie fast unsichtbar.
Die Landschaft ihrer Kindheit hatte meine Großmutter durch ihr Leben begleitet. Ihre Wohnung glich einem Museum des alten Vyborgs: unzählige Fotos und Gegenstände.
Hogewey, das klingt gleich ein wenig nach Hogwarts und Harry Potter. De Visser öffnet die Tür zum Wohnzimmer des Mittelklasse-Flügels und winkt den Bewohnern zu. Viele Menschen. Alte Menschen. Der Raum ist voll besetzt: Die Bewohner und ihre Gäste sitzen zusammen und schauen Oscar Hammersteins Musical „The Sound Of Music“.
„Dürfen wir reinkommen?“, fragt de Visser. „Diese Leute hier sind Journalisten.“
Alle nicken. Wir sagen hallo. Unterhalten uns ein wenig.
„Oberklasse-Patienten sind generell etwas introvertierter. In der Nacht schließen sie ihre Gardinen“, sagt de Visser. „Hier sind die Bewohner offener und gehen locker miteinander um. Hier kann man sich auch unter Fremden einen kleinen Spaß erlauben. Im Oberklasse-Heim wäre das undenkbar.“
Mich streift der Blick eines schwedischen Journalisten.
„Würde ich meine eigenen Eltern hier wohnen lassen?“
Diese Kategorisierung, diese selbstverständlichen Signaturen des sogenannten Mittelklasse-Wohnbaus finde ich deprimierend. Weshalb habe ich das Gefühl, dass es mein ganzes Weltbild erschüttern würde, wenn jemand bestimmen könnte, welche Werte ich repräsentiere? Würde das nicht all meine Überzeugungen trivialisieren? Was bleibt am Ende übrig von unserem lebenslangen Drang nach Individualisierung und Selbstfindung? Wenn ich mir meine eigene Großmutter an diesem Ort vorstelle, finde ich das schwierig: Wie könnte eine solche Einrichtung annehmen, sie zu kennen? Selbst ich weiß nicht genau, wer sie war. Oder erwarte ich zu viel?
Die Niederländer sind äußerst innovativ, wenn es um alternative Behandlungsformen geht. Die Idee mit Hogewey entstand in den frühen Neunzigern, als Mitarbeiterinnen in einem Heim für Demenzkranke an gleicher Stelle über die herrschenden Verhältnisse diskutierten. Es gab viele Probleme, die im Pflegebereich üblich sind: zu viel Medizin wurde verabreicht, das Essen war schlecht, die persönlichen Verhältnisse der einzelnen Bewohner wurden kaum respektiert. Die Pflegekräfte stellten sich die simple Frage: „Würde ich meine eigenen Eltern hier wohnen lassen?“ Die Antwort, ganz klar: „Niemals.“
So entstand die Idee, ein Heim zu entwickeln, in dem alle das Gefühl haben sollten, ihre Liebsten wären gut aufgehoben. Zunächst wurden das alte Gelände entkernt, ein neues Gebäude gebaut, Wände eingerissen, aus Korridoren Wohnstuben gemacht. Später wurde das riesenhafte alte Hauptgebäude abgerissen. An dessen Stelle wuchs Hogewey: ein zur Außenwelt hin abgetrennter Bereich dorfähnlicher Größenordnung, mit ausdifferenzierten Wohnressorts, Restaurants, Arbeitszimmern und einem großen Außenareal.
Das neue Konzept: Was wäre, wenn die Patienten nicht nach dem Ausmaß ihrer Krankheit einquartiert würden, sondern vielmehr danach, welcher Typ Mensch sie sind?
Dem Hogewey-Modell wurde schnell viel Aufmerksamkeit zuteil. Ähnliche Einrichtungen werden aktuell in Deutschland und der Schweiz gebaut. Hogewey bekam Anfragen von Journalisten aus der ganzen Welt. Das Heim hat auch einen PR-Manager eingestellt, der die Interview-Anfragen bearbeitet: Die Autorin erhielt den Hinweis, dass die Teilnahme am Tag der offenen Tür davon abhänge, wie viel Aufmerksamkeit der zu veröffentlichende Artikel in den Medien bekommen und ob Hogewey auch ausreichend positiv dargestellt werden würde. Dies irritierte mich naturgemäß kolossal.
Die wichtigsten Sachen vergessen
Als meine Großmutter krank wurde, war ich Anfang dreißig. Ich wartete schon eine halbe Stunde am Fenster meines Ein-Zimmer-Apartments. Draußen war es kalt und grau und nebelig. Die Mannerheims Straße, der Prachtboulevard Helsinkis – an einer der weniger prachtvollen Ecken hatte ich mein Zimmer – war mit braunem Matsch bedeckt. Der Winter kam. Aber langsam. Noch war tagsüber der Schnee am Schmelzen.
Dann sah ich sie. Großmutter stand vor der Universitätsapotheke: Ein kleiner, nachdenklicher Mensch, der den fahrenden Bussen nachblickte. Ich probierte ihr Handy, aber der Mensch vor der Apotheke reagierte nicht auf meine Anrufe – entweder, sie hörte das Telefon nicht oder sie war außerstande zu reagieren. Es war unheimlich.
Schließlich zog ich meine Pantoffeln an und verließ die Wohnung. Auf meinem Weg nach unten wich meine Angst der Verärgerung. Was zur Hölle? Was treibst du da eigentlich? Hast du den Verstand verloren?
Als ich auf die Straße kam, drehte Großmutter sich um und schaute mich an: eine strenge Frau in einer schicken Herbstjacke, ihre kostbare braune Handtasche fest in den Händen.
„Hallo“, sagte sie, als ob wir uns gerade durch Zufall getroffen hätten.
„Warum bist du nicht gleich raufgekommen?“
„Ich habe die Adresse zu Hause vergessen.“
„Du hättest doch anrufen können …“
„Ich habe mein Telefon zu Hause vergessen.“
Sie ist also losgezogen, um ihre Enkelin in ihrer neuen Wohnung zu besuchen, ohne die Adresse oder ihr Telefon mitzunehmen. Und jetzt wartete sie an der Straßenecke? Es fiel mir schwer, ihre Verletzlichkeit, ihr kindisches Verhalten zu akzeptieren. Solche Dinge zu vermasseln, war mein Spezialgebiet.
Plaques im Gehirn
Diese Erinnerung tut weh, weil ich jetzt weiß, was damals vor sich ging. Das Problem waren die Amyloid-Plaques und die Knäuel an den Neurofibrillen, die sich in ihrem Gehirn abgelagert hatten. All dies lernte ich, als ihr Gehirn im Zusammenhang mit einem Gedächtnistest gescannt wurde.
Wenn sich neuritische Plaques im Gehirn ansammeln, fangen wir an, Dinge zu vergessen. Nervenzellen sterben ab. Hirngewebe schrumpft. Nach und nach verschwinden ganze Zeitabschnitte; zuallererst unser Kurzzeitgedächtnis, dann Dinge, die vor langer Zeit passiert sind. Schließlich verlieren Patienten die Fähigkeit, sich zu bewegen und zu sprechen. Sie verschwinden.
Großmutter hatte Alzheimer, und zu diesem Zeitpunkt war die Krankheit schon weit fortgeschritten. Wie sie ruhig und tatenlos vor der Apotheke wartete, schien auf der Schwelle zu normalem, gar gesundem Verhalten; so etwas hätte sie aus purer Zerstreutheit tun können. „Jetzt konzentriere dich halt ein bisschen“, hatte ich ihr sagen wollen.
Nach diesem Vorfall konnten meine Mutter und ich uns nicht länger damit trösten, dass alles in Ordnung kommen würde, solange Großmutter sich nur ein wenig konzentrierte. Konzentration war nicht das Problem. Wenn wir uns an einem Kaufhaus verabredeten, wartete sie an einem anderen Kaufhaus. Oder sie stieg in die Straßenbahn und fuhr endlos herum, um dann an der falschen Stelle auszusteigen. Ihre innere Stadtkarte wurde immer kleiner, bis sie schließlich nur noch einige wenige Straßen umfasste, die die Krankheit noch nicht aus ihrem Bewusstsein getilgt hatte.
Wenn sie von vertrauten Strecken abkam, verirrte sie sich, und meine Mutter rief wieder einmal die Polizei: Achtzigjährige verirrt in Töölö, nimmt regelmäßig Medikamente, trägt eine braune Handtasche bei sich. Wir hielten Taxis an, fragten Leute, die ihre Hunde ausführten. Ich fuhr mit dem Fahrrad kreuz und quer durch die Stadt, den Geschmack von Blut in meinem Mund, den Kopf gefüllt mit Bildern einer verirrten, einsamen Frau, die allein und hilflos umherstreunt.
Der Zorn und die Scham
Die Angst, die ich verspürte, war oft vermischt mit einem Schuldgefühl, das mich überkam, wenn ich sie erschöpft und ungeduldig anfuhr: „Das habe ich dir doch schon viermal gesagt!“ Oder: „Das habe ich dir gerade eben auch schon erzählt!“
Es war eine schlechte Idee, sich für diese Ausbrüche zu entschuldigen. Wenn Großmutter sich nicht daran erinnerte, was sie beleidigt hatte, wurde sie durch eine Entschuldigung daran erinnert. Ich fing an, Dinge zur Wiedergutmachung bei mir zu tragen, zumeist Süßigkeiten, süße Entschädigungen.
Zwei Regungen, die in Verbindung mit Alzheimer selten erwähnt werden, sind der Zorn und die Scham.
Zorn entwickelt sich aus der Machtlosigkeit und der Angst, die entsteht, wenn jemand, der sich um dich gekümmert hat, als du klein und verletzlich warst, plötzlich selbst klein und verletzlich ist. Dieser Rollentausch kommt einem unnatürlich vor. Dennoch können wir nichts dagegen tun. Eine solche Ohnmacht kann rasend machen. Wenige reden öffentlich über diese Art des Zorns. Aber jeder weiß, dass ein Demenz-Patient sie sofort erkennt. Fast jeder würde die Geduld verlieren, nachdem er die gleiche Frage schon 27 Mal gehört hat.
Es ist auffallend merkwürdig, wie selten dieses Thema in Fernsehinterviews, Zeitschriftenartikeln, Memoiren von Angehörigen oder anderswo erwähnt wird. Es weckt den Verdacht in mir, dass etwas viel Größeres und Fürchterlicheres in dieser Sache verborgen liegt.
Hinter diesem Zorn liegt die Scham. Das Schamgefühl entsteht, wenn jemand deine Windeln wechselt; wenn man im Wartezimmer die einfachsten Zahlen plötzlich nicht mehr zusammenrechen kann: Es wird gewartet, verkrampft gelächelt, und alles, was gesagt wird, ist: „Ach du meine Güte!“ Scham entsteht aus der Ungerechtigkeit einer solchen Situation. Sie entsteht, wenn dir auffällt, dass andere Leute denken: „Das kann mir niemals passieren, deshalb löse ich Kreuzworträtsel.“ Sie entsteht, wenn dir klar wird, dass du das gleiche denkst.
Natürlich entwickelt sich Scham auch aus Lügen. Jeder, der einen Demenz-Patienten kennt, lügt, regelmäßig, vielleicht nur gelegentlich. Der Pfleger weiß und sieht mehr als der Patient, kann bestimmte Wahrheitsfragmente auswählen und kontrollieren, manipulieren. Bei meiner Großmutter war das Schlimmste nicht die Diskussion über Schimmel im Essen oder dass ich ihr drei Mal in der Stunde erzählen musste, wo ich arbeite. Am schlimmsten war, so viel mehr zu wissen als sie. Es war eine absolute Macht, um die ich nie gebeten hatte.
Weltweit haben 35 Millionen Menschen Alzheimer oder eine andere Form von Demenz. Bis 2050 werden es schätzungsweise 115 Millionen. Auf die eine oder andere Art wird die Krankheit früher oder später zum Problem für alle.
2050 bin ich 76 Jahre alt. Wenn ich die Krankheitsbilder meiner Familiengeschichte anschaue, habe ich ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken. In meinem Kopf wimmelt es von unzähligen Fakten und Statistiken, manche davon sind nützlich, manche nicht.
Ich weiß zum Beispiel, dass permanent hoher Blutdruck auf ein Alzheimer-Risiko hindeutet. Dass der Zusammenhang zwischen Lebensstil und Alzheimer größer ist als bisher angenommen. Ich weiß, dass exzessiver Alkoholgenuss schlecht ist, aber eine kleine Menge Rotwein gut sein kann. Ich weiß, dass Meditation und andere mentale Konzentrationsübungen den Krankheitsverlauf verlangsamen können. Ich weiß, dass eine frühe Diagnose essenziell ist, Patienten nach einer Diagnose durchschnittlich acht Jahre leben. Ich weiß, dass Forschungsergebnisse gezeigt haben, dass Alzheimer-Patienten, wenn sie an einem gedeckten Tisch Platz nehmen, länger sitzenbleiben und mehr essen. Ich weiß, dass bis in die späten Neunziger keine Medikamente gegen Demenz auf dem Markt waren. Und ich weiß, dass Alzheimer letztlich zum Tode führt, dass es keine Heilung gibt, obwohl die Krankheit vor über einhundert Jahren entdeckt wurde.
Das Irrenschloss – Auftritt Alzheimer
Der erste Alzheimer-Patient kam 1901 in eine Psychiatrie in Frankfurt am Main. Wie die meisten Demenzpatienten, in Begleitung eines Familienmitgliedes.
„Wie heißen Sie?“
„Auguste.“
„Familienname?“
„Auguste.“
„Wie heißt ihr Mann?“
„Ich glaube … Auguste.“
Die Patientin hieß tatsächlich Auguste, ihr Nachname aber war Deter und ihr Mann hieß Karl. Auguste Deter war gerade mal in ihren Fünfzigern, litt aber an Wahnvorstellungen und Desorientierung. Karl Deter hatte seine Frau in die Psychiatrie eingewiesen. Das Krankenhaus war in der Gegend bekannt unter dem Namen Irrenschloss. Der Bau wurde aus privaten Spenden finanziert, und es war zu seiner Zeit eine äußerst moderne Institution – ähnlich wie Hogewey heute. Nur war das Irrenschloss als psychiatrische Anstalt apostrophiert.
Auguste wurde von dem jungen Arzt Alois Alzheimer untersucht, ein Mann mit Kurzhaarschnitt, modischer, kleiner Brille und einem dichten Schnauzbart. Der Arzt stellte Fragen, und Auguste antwortete so gut sie konnte.
„Wo wohnen Sie?“
„Ach, Sie waren doch schon bei uns.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ach, ich bin doch so verwirrt.“
„Wo sind Sie hier?“
„Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übelnehmen.“
„Wo sind Sie hier?“
„Da werden wir noch wohnen.“
„Wo ist Ihr Bett?“
„Wo soll es sein?“
Die Obsession, in den Kopf hineinzuschauen
Patienten, die Schwierigkeiten hatten, sich an Dinge zu erinnern, waren nichts Neues für die Ärzte im Irrenschloss, aber in Augustes Fall waren sie verblüfft über ihr relativ junges Alter. Damals waren Symptome der Senilität bei älteren Menschen normal, waren nie Gegenstand gezielter Forschung. Aus einer wissenschaftlichen und humanitären Perspektive war Augustes Fall ein Glück. Alois Alzheimer entwickelte eine Obsession und unterzog sie genauester Untersuchungen. Der Arzt wollte unbedingt herausfinden, was mit Auguste nicht stimmte. Er wollte hineinschauen in den Kopf dieser merkwürdigen, vergesslichen Frau.
Dies gelang ihm im April 1906, als Auguste Deter an einem Darmbrand starb. Ihr Gehirn wurde nach München überführt, wo Alois Alzheimer und zwei italienische Kollegen es sezierten und begutachteten.
Ihre Untersuchung brachte merkwürdige Klumpen und Knoten zum Vorschein. Heutzutage würden diese Klumpen und Knoten von jedem Medizinstudenten im ersten Semester erkannt werden: Amyloid-Plaques und Neurofibrillenbündelungen.
„Ich habe mich sozusagen verloren“, sagte Deter wiederholt zu Dr. Alzheimer, und schließlich hat es ihr Ich auch nicht in die Geschichte, die von ihrem Fall erzählt, geschafft.
Ihr Dasein im Irrenschloss am Anfang des 20. Jahrhunderts war hoffnungslos. Meistenteils war sie in Isolation, was die Krankheit mutmaßlich verschlimmert hat. Heute sind die Pflegeeinrichtungen davon überzeugt, dass es von größter Bedeutung ist, den Patienten ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Lange wurden Demenzkranke in Irrenanstalten gesteckt. Ärzte waren ratlos und Isolation die einzige Behandlungsmethode. In den siebziger Jahren wurde in den USA die erste Spezialeinrichtung für Demenzkranke etabliert.
Ursache oder Symptom der Krankheit?
Die Resultate waren vielversprechend. Verhaltensstörungen konnten minimiert werden, und die Patienten verhielten sich insgesamt sozialer. Demenzkranke wurden nicht länger wie Geisteskranke behandelt. Zwei Faktoren waren entscheidend: Die Entwicklung der Neurowissenschaften, ein besseres Verständnis für hirninterne Prozesse, und das Berücksichtigen der demografischen Entwicklung, die Sorge vor einer Alzheimer-Epidemie.
Experten sind sich ja immer in vielen Dingen uneins: ob die Ansammlung an Amyloid-Plaques Ursache oder Symptom der Krankheit sind, ob die Isolation von Demenz-Patienten nützlich oder schädlich ist, ob es Patienten im eigenen Heim oder in einer Pflegeinstitution bessergeht.
Großmutter wollte immer in ihrer eigenen Wohnung bleiben. Nachdem Alzheimer überhandnahm, schien sie ihr Zuhause nicht mehr als ihr Zuhause anzusehen. Sie rief uns abends an, in der Überzeugung sie sei „zu Besuch“, „am Haus hüten“, „am Pflanzen gießen“.
Damals wurde ich wütend, wenn jemand behauptete, es sei besser für Kranke in ihrem eigenen Zuhause zu bleiben. Offenbar war nicht jedes Zuhause gleich. Für Großmutter stand es eher für einen Zeitabschnitt, denn für einen genauen Ort.
Sie fing an, uns öfter anzurufen, erzählte uns, sie gehe jetzt nach Hause.
„Du bist zu Hause“, sagte ich.
Sie glaubte mir nicht.
„Schau dich um“, fuhr ich fort. „Siehst du das Wappen von Vyborg und das Foto mit dem runden Turm?
Nicht zu alten, kranken Menschen
Das beruhigte sie in der Regel. Das Wappen erinnerte sie an einen bestimmten Ort. Für eine Weile versuchte ich, sie dazu zu bringen, sich in Situationen zu begeben, wo sie gleichaltrige Menschen treffen würde. Ich hoffte, sie könnte ein neues Sozialleben aufbauen, bevor es zu spät dafür sein würde. Manchmal gelang es mir, sie auszutricksen, so dass sie zu Mittagessen oder Veranstaltungen im Pflegeheim ging. Ich log, erzählte ihr, dass ich oft selbst dort zu Mittag aß.
Sie sagte, sie wolle nicht mit „diesen alten, kranken Menschen“ Zeit verbringen. Ich wollte auch nicht dorthin gehen. Weil ich weder alt noch krank war.
Sie sagte, sie wolle viel lieber Zeit mit mir verbringen.
Ich sagte ihr, dass ich nicht mehr Zeit hatte.
„Du hast mich seit Wochen nicht besucht“, sagte sie.
„Ich hab dich gestern besucht.“
„Nein, hast du nicht.“
„Habe ich doch.“
„Du glaubst, ich spinne, oder?“
„Ja, das glaube ich tatsächlich.“
„Jetzt hör mir mal gut zu, mein Mädchen…!“
Großmutter einfangen als Teilzeitjob
Und so verhandelten wir über die Wirklichkeit. Und schließlich wurde ihr Zustand so schlecht, dass es keinen Sinn ergab, sie weiter in diese Welt hinaus zu zwingen. Sie würde keine neuen Freundschaften mehr schließen. Nicht dem Vyborg-Verein beitreten und auch nicht im Seniorenklub mit Wasserfarbenmalerei anfangen.
Ein wenig hatte ich sie aufgegeben. Ich versuchte nicht mehr, sie zu verändern. Eine seltsame Ruhe entwickelte sich zwischen uns. Wir warteten gemeinsam, genau wie sie vor der Apotheke auf der Mannerheims Straße gewartet hatte, und beobachteten, wie die Zeit verging.
Im August 2009 bekamen wir einen Anruf eines Pflegeheims im Osten Helsinkis: Sie hatten ein Zimmer für Großmutter. Eine gute Nachricht. Der Alltag zu Hause war für uns kaum mehr zu bewältigen gewesen, und zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon eine ganze Weile auf ein Zimmer gewartet. Die ganze Familie hatte einen Teilzeitjob, der da lautete: die ausgerissene Großmutter einfangen.
„Wunderbar“, sagte ich am Telefon. „Meine Mutter hat die Vollmacht. Sie wird in zwei Wochen zurück sein und dann kommen wir alle gemeinsam vorbei.“
„Das wird zu spät sein“, sagte die Dame am Telefon. Das Zimmer müsse innerhalb von zwei Tagen bezogen werden. Andere Leute auf der Warteliste würden ebenfalls auf eine Gelegenheit warten. Ich hatte zwei Tage zu entscheiden, ob ich die Frau, die mich noch immer „Großmutters Schätzchen“ nannte, für den Rest ihres Lebens in diese Einrichtung im Osten der Stadt einweisen sollte.
Ich nahm die Metro, um mir das Heim anzusehen, das sich im Internet selbst als „gemütlich“ beschrieb. Ich fand es nicht gemütlich. Es sah nach Krankenhaus aus. Und es roch auch so. Lange Korridore erstreckten sich in beide Richtungen der Empfangshalle. Der Gemeinschaftsraum hatte keinen angenehmen Charakter. Die Einrichtung kam mir geschmacklos vor, das Personal trug Uniform.
Aber es gab keine Alternativen. In einem Pflegeheim wäre Großmutter wenigstens in Sicherheit vor sich selbst und der Welt, die für sie immer mehr zur Gefahr zu werden drohte. Wir hatten Glück, überhaupt einen Platz zu bekommen.
Im Aufzug begann ich zu weinen. „Hast du das Gefühl, deine Großmutter an einen schlimmen Ort zu bringen?“, fragte der Direktor des Heims bedachtsam.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Es war immerhin sein Haus, dachte ich.
„Fürchterlich. Fürchterlich. Fürchterlich.“
Am Morgen vor dem Umzug saß ich auf dem Fußboden des Hausflurs und machte mir Gedanken: Dies ist das Schlimmste, was ich je getan habe! Ich wiederholte diesen Satz, wieder und wieder, was nicht besonders half. „Das ist fürchterlich. Fürchterlich. Fürchterlich!“
„Es ist gar nicht so schlimm“, sagte mein Mann mit verhaltenem Optimismus.
Bald verließen wir die Wohnung und fuhren in dem gemieteten Transporter nach Töölö. Großmutter hatte auf der Bettkante gesessen, mit einem sinnverwirrten Gesichtsausdruck – ähnlich dem Gesicht von Auguste Deter, der ersten Alzheimer-Patientin, vom der in Wikipedia eine Abbildung zu finden ist.
Für mich ist das Schlimmste an Alzheimer seine Irreversibilität. Es wird kein Zurück geben aus der Heilanstalt. Das geschrumpfte Hirn wird nicht wieder wachsen, die verloren gegangenen Erinnerungen werden nicht zurückkommen.
Es ist leicht zu verstehen, weshalb Demenzkranke selten in eine Einrichtung wollen: Es ist eine Einbahnstraße, an dessen Ende keine Besserung in Sicht ist. Keine Kur, nur der Tod. Wer will schon auf eine solche Reise gehen?
Ich hatte keinerlei Erfahrung damit, wie man jemanden gegen dessen Willen in ein neues Zuhause befördert. Ein Zuhause, dessen Tür zur Welt verschlossen ist. Hätte ich lügen sollen? Sagen, dass es nur etwas Vorübergehendes sein würde? Natürlich könnte sie sich an eine solche Lüge späterhin nicht erinnern, aber auf eine Weise hätte dies etwas Bedeutendes, ein Band zwischen uns erschüttert. Sollte ich ihr stattdessen die Wahrheit sagen? „Du wirst diesen Ort lebend nicht mehr verlassen.“ Das konnte ich nicht.
Ich war voller Selbstmitleid. Trotzdem war mir klar, dass mir nichts Besonderes widerfuhr. Ein solcher Fall passiert jeden Tag. Im Appartement meiner Großmutter war ich übereuphorisch gewesen und hatte mit der Krankenschwester über Unklarheiten bei der Pflege gesprochen. Großmutter hatte kein Wort gesprochen. Die Schwester half ihr nach draußen und sie stiegen in ein Taxi.
Ein paar schwarze High Heels
Mein Mann und ich blieben und packten die Sachen, die wir ihr hinterher bringen wollten, in Kartons. Es musste genug sein, damit die neuen Räume sie an ihre gewohnte Umgebung erinnerten, damit sie sich zu Hause fühlen konnte. Andererseits war ich besorgt, dass sie, wenn wir zu viel auf einmal mitnehmen würden, realisieren könnte, dass ihr früheres Leben hinter ihr lag.
Ich weiß noch immer nicht, wie viel sie damals mitbekommen hat.
Wir hatten eine halbe Stunde. Dreißig Minuten, um zu entscheiden, was für sie am wichtigsten wäre. Ich dachte daran, wie viel Zeit sie wohl gehabt hatte, als die Russen kamen und sie als Kind Vyborg verlassen musste. Wie viel hatten sie mitnehmen können? Den Kronleuchter jedenfalls, die gemalten Bilder, die Fotoalben, die Gardinen und die verrückte Lampe, die sich ihr Onkel ausgedacht hatte.
Kurz bevor wir aufbrachen, fand ich auf dem Bücherregal eine Box mit einem Paar schwarzer High Heels. Nie habe ich meine Großmutter solche Schuhe tragen sehen. Waren sie je benutzt worden? War sie stolz auf dieses Paar Schuhe? Stolz genug, sie ein paar Jahrzehnte zu verstecken? Ich legte sie in meinen Rucksack. Nicht, um sie meiner Großmutter zu bringen. Ich wollte sie für mich. Die Schuhe wussten Dinge, die ich nie erfahren würde. Aus diesem Grund wollte ich sie aufbewahren.
Wir fuhren den Transporter auf die andere Seite der Stadt. Dort angekommen, sah ich die Silhouette meiner Großmutter hinter den Fenstern des Foyers. Es gab Kaffee. Großmutter trank eine Tasse.
„Wir können nicht mit all ihren Dingen da reingehen“, sagte ich, „das wird sie bemerken“.
Mein Mann hatte eine Idee. Ich ging ins Foyer, um Großmutter ein wenig abzulenken. Wir plauderten, während er ihre Sachen hineintrug. Den großen Stuhl, das Bücherregal, die Fotoalben, die Gardinen, die verrückte Lampe. Es war, als würden wir Großmutters Vergangenheit neu arrangieren, eine alte Wirklichkeit auslöschend und eine neue für sie nachahmend.
Wenn Großmutter könnte, wäre sie zu Hause geblieben. Sie sagte nichts. Aber als die Krankenschwester sich erhob, um zu gehen, kullerten Tränen aus ihren Augen.
Der Lebensgeschichte-Fragebogen
Nachdem meine Großmutter in ihr neues Heim gezogen war, wurde meine Mutter gebeten, den sogenannten Lebensgeschichte-Fragebogen auszufüllen. Ein vierseitiges Dokument, das feststellen will, was der oder die Betreffende für eine Person ist. Der Fragebogen behandelt die großen Momente, die Wendepunkte, fragt nach Beziehungen, Glauben, Ängsten. Die Antworten sollen den Pflegern helfen, verborgene Wünsche oder emotionale Reaktionen der Patienten besser zu verstehen; sollen dabei helfen, das Leben der Bewohner etwas leichter zu machen.
Meine Mutter und ich saßen vor der Tür der Pflegeheim-Sauna, tranken Kaffee und füllten den Fragebogen aus. Selten habe ich mich derart inkompetent gefühlt.
Vorrangige Charaktereigenschaften, fragte der Fragebogen. „Humorvoll, schüchtern, skeptisch, redsam“, schrieb meine Mutter.
Dann: Schule und Ausbildung.
Wenn ich an meine eigenen Schuljahre denke, denke ich gleich an mein ganzes Leben. Da war schon alles drin: Die Schule hat mich geprägt, mit ihren Kaskaden an Freundschaften, Missgeschicken, Ersterfahrungen, den alles verändernden Dingen, die da manchmal passierten.
Auf den Fragebogen, der meine Großmutter betraf, schrieben wir lediglich: „Staatliches Gymnasium“.
Verhalten und Routinen. „Isst gerne Kuchen“, schlug ich vor.
Wenig fiel uns ein zum Bereich Signifikante Ereignisse im Erwachsenenalter. Von der Flucht, der Evakuierung Kareliens, hatten wir schon anderswo geschrieben.
Großmutter hatte 22 Jahre gelebt, bevor meine Mutter geboren wurde. Und 49 Jahre vor mir. Vielleicht ist es nur möglich, die massiven Proportionen des Lebensgeschichte-Fragebogens gutzuheißen, wenn man sich vorstellt, dass sich das eigene Kind oder jemand anderes Nahestehendes später auch einmal die Mühe macht. Früher oder später erfindet jemand eine Geschichte, die er für dein Leben hält.
Für Kinder beginnt das Leben ihrer Mütter und Väter bei der eigenen Geburt. Aber die Eltern hatten ein Leben davor, eines, in dem die meisten prägenden Ereignisse stattfanden.
Es gibt viele Dinge, die ich meiner Tochter niemals erzählen werde. Auch wenn sie meine Tochter ist. Oder: gerade, weil sie meine Tochter ist.
„Treat your children well – they choose your nursing home“, steht auf einem Bild an der Wand, das die Direktorin von Hogewey, Jannette Spiering, gemalt hat. Ein gutes Pflegeheim auszuwählen, ist vielleicht das letztgültig Beste, was Kinder für ihre zunehmend gebrechlichen Eltern tun können. Nicht jeder ist dafür geschaffen, ein Altenpfleger zu sein. Ich zweifle daran, dass viele von uns dazu in der Lage sind. Und eine Menge Leute sind, was ihre Eltern betrifft, nicht sehr besorgt.
Es ist eine gute Sache, dass es auf dem Feld der Demenzpflege Menschen gibt, die nicht irritiert sind, wenn sie mit Schwächen konfrontiert werden. Menschen, die Patienten auf einem professionellen Level behandeln und nicht ihren Verstand verlieren, wenn jemand zum sechzehnten Mal die gleiche Anekdote erzählt.
Direktorin Spiering nimmt das Bild von der Wand und platziert es auf dem Tisch, damit die Journalisten Fotos davon machen können.
„Dies ist Hogewey in einer Nussschale“, sagt sie. Das Bild behandelt unsere Auffassung von Freiheit.
„Es mag banal klingen, aber die Freiheit von Demenzkranken zu bewahren, ist eine der größten Herausforderungen. Wir wissen ja beispielsweise geheimdienstgenau, wo die Patienten sich aufhalten, müssen es wissen. Trotzdem gilt es, die Privatsphäre der Bewohner zu achten.“
Auch müssen Pfleger die Bedürfnisse der Patienten kennen, selbst wenn die Patienten davon selbst nichts wissen – sicherlich der größtmögliche Widerspruch zur Autonomie.
Kleine Informationsfragmente können überraschend wertvoll sein. Spiering gibt ein Beispiel: Demenzpatienten finden es oft bedauerlich und unangenehm, wenn jemand anfängt, in einem Moment über Alzheimer zu sprechen, in dem sie sich verletzbar fühlen. Aber in Hogewey sind die Patienten erleichtert, wenn die Krankheit zur Sprache gebracht wird. Heute Morgen sei ein Mann sehr bekümmert gewesen. Da habe ihn die Schwester erinnert: „Du bist durcheinander, weil du Alzheimer hast“. „Das dürfte es erklären“, habe der Mann geantwortet und sich beruhigt.
Diese Methode funktioniert für ihn, aber nicht für jeden.
Die Bewohner dürfen auch nachts umherlaufen
Laut Spiering bedeutet individuelle Pflege nicht, dass die Belegschaft größer ist, als anderswo. Sie erklärt das System. In Hogewey ist das Verhältnis in etwa ein auf Demenz spezialisierter Arzt für 125 Bewohnern. Dies ist die Norm in den Niederlanden. Hinzu kommen vier Sozialarbeiter, die zusätzlich als Mediatoren zwischen den Betreuern, Ärzten und Psychologen arbeiten. Von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr am Abend beschäftigen alle acht Bereiche Hogeweys einen Aufseher. Für einige Stunden täglich hat jeder Pfleger damit zu tun, Wäsche zu waschen und Essen vorzubereiten. Nachts schlafen in jedem Komplex etwa 130 Bewohner, vier Pfleger haben Dienst. Einer an der Rezeption, mit Verantwortung für die Alarmanlage. Die anderen sind in Bereitschaft, schauen, ob alles in Ordnung ist, sprechen mit schlaflosen Patienten. „Die Bewohner sollen auch nachts herumlaufen dürfen, wenn sie daran gewohnt sind“, sagt Spiering.
Sie erklärt, dass Hogewey eine wichtige Lektion gelernt habe: Anstatt unzählige Pflegekräfte zu beschäftigen, geht es darum, die Kompetenzen der Mitarbeiter zu verbessern. Im alten Pflegesystem musste immer ein Arzt herbeigeholt werden, um Medikamente zu verabreichen. Heute können alle Pfleger selbst injizieren. Andererseits müssen die hochqualifizierten Mitarbeiter auch die Wäsche waschen, kochen und Reinigungsarbeit übernehmen. Es ist nicht gut für die Bewohner, wenn zu viele Leute durch die Einrichtung huschen.
„Das wird dann schnell hektisch. Unser System funktioniert. Wir haben das gleiche Budget wie alle übrigen Einrichtungen in den Niederlanden. Aber die Zufriedenheit der Bewohner ist bei uns um ein Vielfaches höher als in den meisten anderen. 8,9 von zehn Punkten“, sagt Spiering. Bewohner zahlen – je nach Höhe ihrer Rente – etwa 2.200 Euro im Monat. Ein Platz in Hogewey kostet also nicht mehr als in anderen Etablissements. Die Kosten für einen Platz im Oberklasse-Komplex sind identisch mit einem im Arbeiterklasse-Heim.
„Alle sterben hier“
Klingt alles ganz toll. Aber laut Hogewey-Broschüre gibt es keine Plätze für bettlägerige Patienten, die doch aber ein zentrales Phänomen der Pflege sind. Es ist einfach, gut auszusehen, wenn die Patienten mobil und nach außen hin gesund sind. In Hogewey gibt es keine skelettartigen Körper.
„Wo sterben die Menschen hier? Wie viele Menschen sterben hier und wie viele im Krankenhaus“, fragte ich.
Die Direktorin lächelt. „Alle sterben hier.“
„Alle?“
„Alle, alle Patienten, die hierher kommen, sterben in Hogewey.“
„Aber sind nicht alle Demenzkranken gegen Ende ihres Lebens bettlägerig?“
Spiering schüttelt ihren Kopf. „Nein, das ist nicht der Fall. Alzheimer-Patienten sind da keine Ausnahme. Sie verlieren unter Umständen ihre Fähigkeit zu sprechen, sich zu bewegen. Aber das bedeutet nicht, dass sie im Bett bleiben müssen. Unabhängig davon, wie weit die Demenz entwickelt ist, hat es einen großen Wert, jeden Morgen aufzustehen, sich anzuziehen und teilzunehmen am Alltag, an den Routinen, wenngleich dazu ein spezieller Rollstuhl notwendig ist. So sind die Patienten noch immer Teil des Ganzen, nehmen sich und ihre Umwelt wahr und können Dinge riechen – der Geruchssinn ist der erste Sinn, den wir als Kinder entwickeln und der letzte, den wir verlieren. Sogar ganz am Ende können wir Gerüche wahrnehmen. Essen. Oder das Bügeln frischer Wäsche.“
Ich bin plötzlich ein bisschen neidisch auf die Patienten in Hogewey und denke an Großmutter. Bislang war ich mir sicher, dass diese Krankheit nichts anderes als das Allerfurchtbarste sein konnte.
Ein wenig entgegenkommend fügt Spiering hinzu: „Aber natürlich kommt es vor, dass die Sterbenden ihre letzten Tage im Bett verbringen.“
Lieber tot als Alzheimer
Weil Alzheimer über viele Stufen des Gedächtnisverlusts zwingend zum Tode führt, wird die Krankheit oft als etwas angesehen, das die Menschen zu Zombies macht, lebende Tote. Der Gedächtnisverlust gilt als eine der furchterregendsten Leiden überhaupt. Leider nimmt uns diese Annahme gefangen im Glauben, vor dieser Krankheit müsse man kapitulieren, sie lasse sich nicht gestalten.
In einer Umfrage der deutschen DKV-Versicherung (PDF) wurden Menschen bis 66 Jahren gefragt, ob sie lieber sterben würden, als mit Alzheimer zu leben. Mehr als die Hälfte entschied sich für den Tod. Mit diesem alarmierenden Ergebnis sind die Deutschen nicht alleine: Den Verlust des Gedächtnisses als das schlimmste zu bezeichnen, was einem passieren kann, ist Ausdruck globaler Normalangst.
„Lieber würde ich sterben“, sagte meine Großmutter beim Anblick von Alzheimer-Patienten im Fernsehen, die mit klaffenden Mündern im Freien in ihren Rollstühlen saßen. Zehn Jahre danach bekam sie ihre Diagnose.
„Lieber würde sie sterben“, hatte sie gesagt, vielleicht, weil es das ist, was die Leute immer sagen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich den Fernseher ausschalten wollte, damit sie nicht die Frau sehen musste, deren Gesicht so schaurig an Munchs Schrei erinnerte. Ich muss wohl gedacht haben, dass sie eines Tages ebenso dasitzen würde.
Menschen in den späteren Phasen der Demenz sagen selten Sätze wie „Ich würde lieber sterben“ – sie wissen dann schon nicht mehr, dass sie Alzheimer haben. Es gehört zum Krankheitsverlauf, das Bewusstsein für die Krankheit zu verlieren. Die Patienten leben für den Moment, egal in welchem Jahrzehnt sie glauben, sich zu befinden. Und obwohl es Zeitgeist ist, die totale Wahrnehmung des Augenblicks als letztgültiges Ziel auszurufen, alle Gedanken moderner Yoga-Menschen und deren Achtsamkeitsseminare sich um nichts anderes drehen, wird dieser Zustand komischerweise als grotesk empfunden, sobald er für bestimmte Menschen zwangsläufig zur fortwährenden und unterbewussten Form des Daseins wird.
Das Haar an meinem Kinn
Meine Gedanken zu Alzheimer drehen sich häufig um ein Haar an meinem Kinn. Es tauchte erst kürzlich auf und ich mag es nicht. Es erinnert mich an die Haare der alten Frauen im Pflegeheim meiner Großmutter. Ich zupfe es mir regelmäßig weg. Und immer, wenn ich das tue, muss ich daran denken, wie ich vielleicht eines Tages mit klaffendem Mund dasitze und mich nicht mehr daran erinnern kann, dass ich mir dieses Haar zupfen muss.
Ich habe deshalb bereits meinen Mann gefragt, ob er mir das Haar ausreißt, wenn ich krank werde. Er fragte mich dann: „Was, wenn du mir verbietest es zu zupfen?“
Eine komplizierte Frage.
Am wahrscheinlichsten ist, dass ich mich als Demenz-Patientin gar nicht mehr um mein Aussehen scheren werde. Die Sorge um meine äußere Erscheinung ist ein Drang meiner Jetzt-Persönlichkeit, derjenigen, die meinen Körper erhalten will, die äußere Form im Gleichklang mit der gesunden Funktion meines Geistes. Meine Jetzt-Persönlichkeit will sich also über meine Zukunfts-Persönlichkeit erheben. Aber das ist schrecklich sinnlos. Andauernd machen wir uns Gedanken über Veränderung, dabei ist sie unausweichlich.
In Bezug auf Alzheimer scheint die Antwort auf die Frage nach dem Patientenwillen offensichtlich zu sein. Sie ist alles andere als das.
Die European Alzheimer’s Alliance hat eine Studie zum Thema auf ihrer Website veröffentlicht. Darin kommen die Experten zu zwei zentralen Fragen. Erstens: Sollte die Person, die eine Anordnung zur Pflege verfasst dieselbe sein, die diese Anordnung später betrifft? Und zweitens: Sollte der Willen einer gesunden Person über dem Willen des späteren Patienten stehen? Ein Wille, der sich im Laufe der Zeit schließlich geändert haben kann. Letztlich läuft alles auf die Frage hinaus, ob sich die Identität durch Einsetzen der Krankheit verändert oder ob die Krankheit einfach nur als weiterer Abschnitt im Leben ein und derselben Person angesehen werden sollte.
Anders als in Holland ist Sterbehilfe in Finnland verboten. Ein Patient kann lediglich in einer Patientenverfügung festlegen, nicht wiederbelebt werden zu wollen, sollten ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt im Laufe der Erkrankung auftreten. Was aber sollen die Ärzte tun, wenn sie feststellen, dass ich mein Leben genieße und nicht im Geringsten unter den Umständen leide? Mich wiederzubeleben, wäre eine Verletzung meines Rechts auf Selbstbestimmung. Andererseits könnte man argumentieren, es sei Aufgabe eines Arztes, die wechselnden Interessen seines Patienten zu erkennen und zu respektieren.
Wo den Strich ziehen?
Eine Antwort gibt es deshalb erst dann, wenn wir uns darüber verständigt haben, ob wir Demenz-Patienten als die Menschen ansehen wollen, die sie einst waren oder als komplett andere Personen. Wenn es wirklich eine Veränderung der Persönlichkeit gegeben haben sollte, ist aber auch klar, dass sie nicht über Nacht eingetreten ist, sondern sich Raum um Raum des Geistes bemächtigt hat. Einen Strich zwischen diesen beiden Zuständen zu ziehen, ist deshalb unmöglich.
Experten sind sich uneinig, welche Schlüsse wir aus alldem ziehen sollen. Sie alle finden zwingende Argumente. Die Bioethikerin Helga Kuhse beispielsweise glaubt, dass Demenz-Patienten im fortgeschrittenen Stadium so eingeschränkt handlungsfähig sind, dass sie nicht länger als Personen gelten dürfen. Kuhse sagt, Ärzte sollten in diesem Fall den Willen des Patienten respektieren, nicht wiederbelebt werden zu wollen.
Dagegen geht Robert Johnson, der auf demselben Gebiet forscht, davon aus, dass eine Verfügung, in der die Wiederbelebung von der gesunden Person abgelehnt wurde, das Recht des späteren Patienten verletzt. Johnson argumentiert damit, dass die gesunde Person, die die Verfügung verfasst, privilegiert ist, verglichen mit ihrem späteren, kranken Ich. Der gesunde Mensch sei nicht imstande zu erkennen, dass die Interessen seines kranken Ichs am Ende dessen Lebens ganz andere sein mögen.
Aus der Perspektive von Organisationen, die die Rechte von Demenzpatienten vertreten, ist dies natürlich ein vermintes Gebiet. Auf der einen Seite wollen sie die Rechte eines Patienten, inklusive des in der Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachten Willens, achten. Auf der anderen Seite fordern sie von uns, der Gesellschaft, den Demenz-Kranken bis zum bitteren Ende als Person anzuerkennen; die Patientenverfügung aufrechtzuerhalten, ist deshalb mitunter ein richtiges Drama.
Die European Alzheimer’s Alliance fordert, dass ein Patient seine Patientenverfügung im vollen Bewusstsein darüber verfasst, dass sein Willen sich im Verlauf der Krankheit ändern könnte. Der Verfasser der Verfügung muss demnach vorab entscheiden, was passieren soll, wenn die Interessen des gesunden und des erkrankten Individuums in Konflikt geraten. In Praxis könnte das zu einer Klausel führen, dass der Willen des gesunden Individuums den Anweisungen der erkrankten Person vorzuziehen sei. Sollte diese Klausel fehlen, empfiehlt die EAA, dem Willen des kranken Patienten Folge zu leisten.
Kein gesunder Mensch würde sich ans Bett gurten lassen
Der bloße Gedanke daran, Demenz-Patienten an ihre Betten zu gurten, ruft großes Unwohlsein hervor. Niemand, der gesund ist, würde das mit sich machen lassen. Aus guten Gründen.
Doch ist es manchmal schwer abzusehen, was Entscheidungen oder eben auch Unterlassungen dieser Art nach sich ziehen. Als meine Großmutter sich am Bein verletzte, verbrachte sie die Nacht im Marienhospital in Helsinki. Weil sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, warum sie eigentlich dort war, stand sie auf, fiel vorne herüber und brach sich die Hüfte. Sie verbrachte danach Monate im Krankenhaus. Ein falscher Schritt kann alles verändern.
Es ist kaum möglich vorauszuahnen, welche Person jemand in zehn Jahren sein wird.
Wo wird die eigentliche, die wahre Person zu verorten sein?
Wenn jemand nach Hause will, obwohl er längst zu Hause ist, ist er dann noch er selbst?
Wenn jemand seine Kinder nicht mehr erkennt, ist er dann noch er selbst?
Wenn sich jemand nicht mehr um das Haar an seinem Kinn kümmert, ist er dann noch er selbst?
Wenn jemand in einem Fragebogen ankreuzt, lieber sterben zu wollen, als an Alzheimer zu erkranken, ist dieser jemand dann noch er selbst?
Realität ist Gegenwart, die durch Ereignisse in der Vergangenheit bestimmt wird; eine Reihe von Vorkommnissen, die in einer bestimmten Reihenfolge passiert sind. Identität indes fußt auf Erinnerungen und unserem Gefühl für die persönliche Geschichte. Und eben deshalb kommt es auf die Reihenfolge der Vorkommnisse an, den Zeitabschnitt, indem sie aufgetreten sind – und insbesondere kommt es auf den Grund und die Folgen der Vorkommnisse an, wenn wir beschreiben wollen, wer wir sind.
Die Medizinforscher Lars-Christer Hydén und Linda Örulv von der Universität Linköping in Schweden haben Studien zur autobiographischen Sprache von Alzheimer-Patienten miteinander verglichen und festgestellt, dass sie oftmals aus derselben Perspektive untersucht wurden. In den Studien hatten die Forscher vor allem darauf geachtet, in welcher Reihenfolge die Patienten sich an Ereignisse erinnern konnten und ob die vorgetragenen Inhalte stichhaltig waren. Hydén und Örulv glauben, dass diese Interviews von einem a priori ausgehen, dass bestimmte Ereignisse, wie Hochzeiten oder die Geburt der eigenen Kinder, wichtig für die biographische Darstellung der Patienten sind.
Ich denke dann immer wieder, dass es an der hohen Anzahl von weiblichen Patienten liegt.
In einem Interview können die Angaben der Patienten ein großer Wirrwarr sein, zeitfragmentiert, Fakten in falschen Zusammenhängen dargestellt sein. Die wenigsten Studien befassen sich mit spontanen Konversationen, in denen die Patienten das Gesprächsthema selbst gewählt haben. Die schwedischen Forscher halten deshalb, entgegen des Tenors der von ihnen untersuchten Studien, Ereignisse, in denen wir uns mit moralischen Dilemmata auseinandersetzen müssen, für am stärksten identitätsstiftend. Entscheidungen sind demnach wichtiger als die Reihenfolge der Ereignisse.
Mit Geschichten definieren, wer man ist
In einem im Journal of Ageing Studies veröffentlichten Aufsatz empfehlen Hydén und Örulv deshalb einen alternativen Ansatz der Forschung, der sie sich auf den Stil der Erzählungen, die aufgeworfenen Themen und Motive konzentriert. Für eine Fallstudie haben sie die Erzählungen von Martha analysiert, die über ihr Leben berichtet, wie es viele Alzheimer-Patienten tun, indem sie viele verschiedene Versionen derselben Geschichte präsentiert. Dem Zuhörer fällt es schwer zu entscheiden, was davon wirklich passiert ist. Im Verlauf der Studie erzählt Martha den Pflegern und anderen Patienten dieselbe Geschichte immer und immer wieder. Die Fakten variieren ein wenig. Aber in jeder Version der Geschichte ist Martha eine junge Frau, die gerade den Führerschein gemacht und ein Auto gekauft hat. Sie ist losgefahren, um ihre Schwester zu besuchen, erzählt sie, während sie selbst Fragen stellt oder Kommentare zu den Vorfällen abgibt.
Auf Außenstehende wirkt das wirr. Die Charaktere der Geschichte scheinen austauschbar, und der Ablauf der Ereignisse ändert sich ständig. Dennoch ist die Aussage der Geschichte klar: Martha benutzt die Geschichte, um zu definieren, wer und was sie ist. Martha will uns mitteilen, dass sie eine Frau ist, die ihre eigenen Entscheidungen trifft. Vor sich selbst erzählt Martha eine konsistente Geschichte, die alle nötigen Fakten enthält, sie auch bisschen beruhigt – das Wirrwarr entsteht lediglich im Kopf des Zuhörers.
Forscher schließen daraus, dass diese Implosion der Geschichte eines Alzheimer-Patienten ein größeres Problem für den Zuhörer darstellt als für den Sprecher selbst. Als die Schriftstellerin Agatha Christie 1972 ihr letztes Buch über Hercule Poirot geschrieben hatte, bekam sie dafür vernichtende Kritiken. Sie habe ihr Gespür verloren, hieß es. Im Jahr 2010 haben Forscher der Universität Toronto ihr Werk analysiert und darin tatsächlich signifikante Veränderungen am Ende ihrer Karriere festgestellt. Ihr Vokabular war um ein Drittel geschrumpft, die Texte offenbarten Wiederholungen und waren mit sehr vagen Aussagen gespickt. Die Forscher waren sich einig: Es sind die linguistischen Charakteristika eines Menschen mit Alzheimer.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich die Geschichte von Agatha Christie komisch oder tragisch finden soll.
Eigentlich hätte der Lektor die Manuskripte nicht zu Veröffentlichung freigeben sollen oder zumindest umschreiben lassen können; schließlich verwirren chronologische Fehler den gesunden Leser. Christie wird sich darüber aber keinen Kopf mehr gemacht haben, nicht mehr gemacht haben können. Aufgabe des Lektors wäre gewesen, die Autorin vor sich selbst zu schützen. Man hätte es Christie ermöglichen sollen, ihre Karriere zu einem hervorragenden Abschluss zu bringen, als sie dazu noch in der Lage war. Abseits davon ist dieses Beispiel natürlich faszinierend: Eine gealterte Autorin will ihre Geschichten unbedingt zu Ende erzählen und nützt die Worte, die ihr dafür zum gegebenen Zeitpunkt noch zur Verfügung stehen. Vielleicht muss man deshalb Christies letzte Bücher mit anderen Augen lesen. Als Nachricht aus dem Inneren einer sich verändernden Geisteslandschaft.
Ihr letzter Roman handelt von alternden Figuren, die sich an Dinge auf unterschiedliche Weise erinnern. Hercule Poirot, ein von seinen Fähigkeiten überzeugter belgischer Privatdetektiv, soll aus den Fragmenten ihrer Geschichten die Wahrheit destillieren. Der Titel des Romans: Elefanten vergessen nicht.
„Was zu saufen für die Dementen“
Auf der Terrasse des Restaurants in Hogewey sitzt eine Frau mit einer offenen grauen Jacke und anspruchslosem Kurzhaarschnitt. Sie wartet. Regungslos. Auf ihrem Schoß umklammert sie eine braune Handtasche. Sie sieht meiner Großmutter auf unheimliche Weise ähnlich.
„Sie wirkt so verloren?“, sage ich zu Marjolein de Visser.
Sie schüttelt den Kopf. „Das ist Lucie. Wenn sie in einer Stunde immer noch hier ist, fragt eine von uns, ob sie nach Hause gehen mag.“
Die Presse-Entourage hat es mittlerweile bis zum Restaurant des Heims geschafft, das auch für die Bewohner des Dorfes Weesp geöffnet hat. Erste Notiz: Die gesamte hintere Wand ist eine Bar, rückwändig beleuchtet, mit einer Auswahl an Drinks, die man auch in jeder internationalen Cocktailbar finden würde. Zweite Notiz: Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gibt es ein Pub. Dritte Notiz: Neben dem Pub befindet sich ein Supermarkt, der Rotwein und Windeln für Erwachsene verkauft. Auf meinem iPad schreibe ich: „Was zu saufen für die Dementen.“ Die anderen Journalisten denken eindeutig dasselbe – alle wollen wissen, was passiert, wenn ein Heimbewohner ein paar Flaschen Rotwein kauft. De Visser sagt, das komme schon manchmal vor. Eine Heimbewohnerin meint sich dann beispielsweise daran zu erinnern, dass sie die Hochzeit ihrer Schwester organisieren muss und entscheidet, eine Menge Rotwein einzukaufen. An der Kasse werde sie aber nicht mit der Wahrheit konfrontiert, der Kassierer sage dann vielleicht etwas wie: „Sie sind aber durstig heute.“
„Der Kassierer ruft danach den zuständigen Pfleger an und gemeinsam entscheiden sie, später einige Flaschen zurückzubringen oder sie zur Seite zu stellen. Der Kunde wird nicht vor Ort auf seinen Fehler hingewiesen. Das wäre erniedrigend.“
In der Tat.
Lucie kauft so viel Brot wie möglich
De Visser zeigt durch das Fensterglas auf Lucie, die noch immer auf der Terrasse sitzt. Sie erzählt, dass Lucie Bewohnerin des städtischen Heims ist; sie kommt aus einer Arbeiterfamilie und hat selbst ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. „Wenn die örtliche Bäckerei im Garten des Heims ein Fest feiert, kauft Lucie so viel Brot, wie sie tragen kann – aber sie kauft es nicht für sich selbst.“
Lucie braucht das Brot für ihre Familie, für all die Menschen, die sich auf sie verlassen. In ihrer Vorstellung hat sie viele hungrige Mäuler zu stopfen – und das wird immer so sein.
„Lucie darf das Brot mitnehmen, weil es wichtig für sie ist. Später, wenn sie es vergessen hat, kommt jemand und holt es ab.“
Ich erinnere mich an Großmutters Geldsorgen. Sorgen, die sie nie abschütteln konnte. Selbst dann nicht, als sie keinen Grund mehr hatte. All das Sparen, Stopfen, Kleben, Reparieren, Rechnen und Studieren von Sonderangeboten im Supermarkt war Teil ihres Wesens geblieben. Es war sinnlos, ihr erklären zu wollen, dass es sie nicht mehr zu kümmern brauche, weil sie mit jeder Zelle ihres Körpers spürte, dass es noch der Fall war. Im Alltag zurecht zu kommen, brachte ihr Schmerz und Glück zugleich. Es machte sie zu der Frau, die sie war. Hier auf der Terrasse kann auch Lucie sein, wer sie ist. Für ihre Verwandten muss es eine Erleichterung sein. „Obwohl es nie leicht ist, für die Verwandten“, fährt de Visser fort. Sie spricht dann vom Aufgeben, mein Gott was für ein Thema.
Wenn jemand, der dir nahesteht, sich nicht mehr an die eigene Familie und die gemeinsame Geschichte erinnern kann, stellt es dich vor eine Aufgabe, die mit keiner anderen zu vergleichen ist. Oder wenn dein Lebensgefährte einen neuen Partner findet – das passiert hier auch. Es sind Tragödien größten Ausmaßes. Selbst hier in Hogewey erweisen sich die Beurteilungen des Lebensstils eines Patienten manchmal als falsch, obwohl sie durch eine Vielzahl von Multiple-Choice-Fragebögen erhoben werden, die die Kinder und Enkel ausfüllen müssen.
Die Lady mag plötzlich Bier und Salzheringe
Veränderungen der Persönlichkeit sind nicht ungewöhnlich bei Demenz-Patienten. Oftmals ist es jedoch schwer zu sagen, ob es sich um neue Veränderungen oder eine Rückkehr in alte Muster handelt. „Ich erkenne sie nicht wieder“, sagen die Verwandten dann, obwohl die Patientin vielleicht lediglich immer schon dagewesene Eigenschaften aufblitzen lässt, die vorher einfach niemand gekannt hat. Einmal, sagt de Visser, habe es eine Patientin gegeben, die im Oberklasse-Flügel untergebracht worden sei, sich aber nie wirklich wohl gefühlt hatte mit diesem Upper-Class-Leben. In Hogewey hat diese Frau dann ein neues Hobby begonnen: Sie hatte großen Spaß daran, mit ihren Freunden im Pub zu sitzen, Bier zu trinken und Salzheringe zu essen. Ihre Familie war perplex.
„Das ist nicht meine Mutter, meine Mutter ist eine Lady“, protestierte die Tochter der Frau. Aber so war sie nicht mehr. Die Frau mag während der gesamten Lebensspanne ihrer Tochter eine feine Dame gewesen sein, aber jetzt war sie jemand, der Salzheringe liebte. Und wer konnte schon sagen, wie ihr Leben aussah, bevor ihre Tochter geboren wurde?
Es ist eine angespannte Beziehung zwischen der Demenz und den Geheimnissen eines Menschen. Wenn sich die Patienten in die Vergangenheit zurückziehen, offenbaren sie manchmal Ereignisse und Emotionen, die sich ihre Angehörigen nie erträumt hätten. Auf der anderen Seite nehmen sie auch Geheimnisse mit in den Orkus der geistigen Umnachtung; es gibt Geheimnisse, nach denen nicht mehr gefragt werden kann, die für immer in der absterbenden Hirnmasse des Patienten verschwinden. In ihren letzten Jahren im Pflegeheim passierte meiner Großmutter etwas Überraschendes: Sie ging wieder zur Arbeit.
Defekt am imaginären Zeitstrahl
Ich hatte immer geglaubt, ihre Familie und die Hunde stünden im Mittelpunkt ihres Lebens. Aber jetzt sprach sie kaum noch von ihnen. Stattdessen arbeitete sie mit all den Leuten um sie herum, „unsere Mädels“, wie sie sie nannte. Sie meinte damit die Frauen, die jetzt in ihrem Kopf waren, diejenigen, mit denen sie um 1980 für die finnische Eisenbahn gearbeitet hatte.
Es schien ihr wichtiger gewesen zu sein, als wir bis dato geglaubt hatten. Als ich mit ihr in die Sauna des Pflegeheims ging, erzählte meine Großmutter mir, was sie heute gemacht habe: Sie sei während der Mittagspause in der Stadt gewesen, um an der Küste im Eiswasser zu schwimmen. Ich glaubte ihre Geschichte zwar nicht, korrigierte sie aber auch nicht. Das alles war einst wirklich passiert, nur war der imaginierte Zeitstrahl meiner Großmutter defekt. Sie erzählte bei unserem gemeinsamen Bad von ihrer Arbeit, so wie sie es immer tat, als sie wirklich noch arbeitete und wir gemeinsam badeten, ordnete Ereignisse aus der Vergangenheit, die wirklich passiert waren, aber an falschen Stellen in ihrem Leben ein.
Auf dem Hauptweg des Pflegeheims tanzt eine Gruppe älterer niederländischer Damen in den armen einiger junger Männer. Bei leichtem Nieselregen singen und lachen sie laut. Der Musikabend des Heims ist gerade zu Ende gegangen.
Marjolein de Visser führt die Pressegruppe in einen Arbeitskreis, in dem die Bewohner Grußkarten basteln und Kuchen essen, den sie selbst gebacken haben. Eine dunkelhaarige Frau in einem grauen Wollkleid erzählt uns, dass sie eine freiwillige Helferin sei. „Meine Großmutter verbrachte hier die letzten paar Monate ihres Lebens und hat sich dabei sehr verändert“, sagte sie. „Sie wurde sehr viel glücklicher, als man ihr erlaubte, sie selbst zu sein.“
Ihre Großmutter stammte aus Indonesien und wurde deshalb in Hogeweys indonesischer Abteilung untergebracht. Zum ersten Mal seit einigen Jahren bekam sie das ihr bekannte, traditionelle Essen serviert – etwas, das in anderen Pflegeheimen unmöglich gewesen wäre.
„Die Leute hier sind so glücklich und voller Freude, dass es auch mich glücklich macht“, sagt die Enkelin. „Vielleicht erinnern sie sich morgen nicht mehr daran, aber das macht nichts.“ Dabei drückt sie die Hand einer alten Frau, die neben ihr sitzt.
Das Jetzt wird durch die Vergangenheit bedingt
Es ist eine Szene, die ich sicherlich beschrieben hätte, wenn ich als Zehnjährige gebeten worden wäre, einen Aufsatz über mein Ideal eines Pflegeheims zu schreiben. Ich hätte mir genau das auch für meine eigene Großmutter gewünscht, bevor ich sie dazu gedrängt habe, sich an diversen Veranstaltungen zu beteiligen. Lieber hätte ich sie mit anderen zusammen neue Dinge entdecken gesehen. Vielleicht ist Hogewey ja doch keine Fiktion, die von einer Beratungsfirma hochgezogen wurde. Das Heim respektiert einfach die simple Voraussetzung, dass das Jetzt durch die Vergangenheit bedingt wird. Die Erfahrungen von jedem einzelnen werden ernst genommen, egal wie krank der Patient ist.
Auf der Terrasse wartet Lucie jetzt schon eine ganze Weile. Sie lehnt sich in ihren Liegestuhl zurück, schläft bald ein. Ich möchte sie gerne aufwecken und ihr Lebewohl sagen, bevor ich gehe.
An einem Abend nach meiner Heimkehr aus den Niederlanden kaufe ich ein paar Konzertkarten in einem Kiosk. Vor mir in der Schlange steht eine alte Dame, die ein Lotterielos per Girokarte kaufen will. Weil sie alles in der falschen Reihenfolge macht, wird die Bezahlung nicht akzeptiert.
„Sie müssen zuerst Lastschrift oder Kreditkarte auswählen“, erklärt der Kassierer.
Die Frau wählt aus und gibt ihre PIN ein, aber es klappt noch immer nicht. Sie versucht es wieder und wieder, insgesamt sieben Mal. Alle anderen in der Schlange schauen beschämt zur Seite.
Wieso fragt sie nicht einfach jemand, ob sie Schwierigkeiten damit habe, sich an Dinge zu erinnern und man ihr helfen könne? Ob es jemanden gebe, den man anrufen könne? Welche Art von Hilfe die Frau überhaupt benötigt: Woher kommen sie und wo gehen sie hin?
Ich starre auf mein Handy. Der Kassierer versucht so zu tun, als sei das alles ganz normal. „Die sind wirklich nicht so einfach zu bedienen, nicht wahr“, sagt er, verlegen lächelnd, obwohl das Gerät unglaublich einfach zu handhaben ist. „Wer kann sich schon all diese Zahlen merken?”
Eine schrecklich beängstigende Einsamkeit
Jeder. Jeder von uns anderen erinnert sich an seine Passwörter und Codes. Die ganze Welt funktioniert nur unter der Annahme, dass wir uns erinnern können. Ich schaue wieder auf mein Handy, während sich das Schauspiel wiederholt. Die ältere Frau versucht es mit einer anderen Karte, obwohl es nicht daran liegt. Sie versucht es vier Mal, aber kann sich nicht an die Reihenfolge der Zahlen erinnern. Schließlich gibt sie auf. Der Kassierer lacht entschuldigend. Die Frau verlässt den Kiosk.
Es strahlt alles eine schrecklich beängstigende Einsamkeit aus. Sie ist allein ein einer Blase, die ihr von Leuten aufgezwungen wird, die so tun, als sei dies nichts Ungewöhnliches.
Es sind jetzt mehr als sechs Monate vergangen seit Großmutters Tod. Nachdem ich zuerst eine Erleichterung verspürt hatte, bin ich später oft in unerwarteten Situationen in Tränen ausgebrochen – so, wie jetzt auf den Treppenstufen dieses Zeitungskiosks. Die Auslage hier erinnert mich an ein bestimmtes Stück Papier. Es fiel aus Großmutters Notizbuch und endete beinahe im Papierkorb. Ich habe es dann auf das Klavier gelegt, unter einen Lautsprecher, und niemandem davon erzählt. Auf dem Zettel stehen in großen Zahlen der PIN-Code für ihr Handy und zwei Telefonnummern, die von meiner Mutter und die einer Freundin.
Am Rand des Zettels hatte Großmutter eine Notiz vermerkt, deren Schrift immer kleiner wird und am Ende abfällt. „Ich bin alleine in dieser Wohnung, aber ich versuche mich an die Einsamkeit zu gewöhnen“, hatte sie dort geschrieben. „Und wenn ich gerne wo hingehen möchte, frage ich jemanden, ob er mich auf einen Spaziergang begleitet.“
Das war alles. Die Notiz war klein und bescheiden, aber sie schaffte es fast, mich zu zerreißen. Großmutter versuchte ihre eigene Realität in den Griff zu bekommen, während sie ihr aus den Händen entglitt und langsam zerbröckelte. Sie versuchte, ihre Gedanken vor ihr selbst als realer wahrnehmbar darzustellen, indem sie sie auf einen Zettel schrieb.
Diese schreckliche Notiz ließ mich etwas verstehen, vor dem ich mich wunderte, es nicht früher erkannt zu haben: ich hatte keine Ahnung, wie sich die Krankheit für sie anfühlte, weil ich sie nie danach gefragt hatte. Wenn ich mit ihr zusammen war, vermied ich stets das Wort Alzheimer. Ich erwähnte es nicht und nahm an, dass die schnell voranschreitende Krankheit ihr die Fähigkeit raubte zu verstehen, was eigentlich mit ihr passierte. Das war es zumindest, was ich hoffte. Ich begann damit, sie so zu behandeln, als sei sie nicht länger sie selbst. Aber war sie das wirklich nicht?
Ich weiß jetzt, warum ich nach Hogewey gereist bin. Ich war gar nicht an meinem eigenen Altern interessiert; ich wollte wissen, ob Großmutter hätte anders leben können und ob ich einen Sinn in ihren für mich sinnlos erscheinenden Geschichten hätte finden können. Hätte ich den Arsch in der Hose haben müssen, sie zu fragen, wie sie sich eigentlich dabei fühlte? Wie fühlte sich das eigentlich an?
An Alzheimer erkrankt und bereit zu reden
Einen Monat später. Es regnet in Strömen. Ich fahre von Helsinki nach Tampere. Es ist ein grauer Tag (Holland-Wetter, wie die Niederländer sagen) und die Sicht ist wirklich schlecht. Ich bin keine erfahrene Fahrerin und bin deshalb etwas aufgeregt. Ich denke an Martha, die stolz zum Haus ihres Bruders fährt, die Freiheit, die sie damals verspürt haben muss und dann nochmal, Jahrzehnte später.
Ich denke an Lucie, die noch immer in Hogewey lebt, nun aber endlich in ihrer eigenen Geschichte. Ich denke an Auguste Deter, deren Schicksal es war, dass man sich an sie nur als Patientin erinnerte. Ich denke auch an meine Großmutter, die mir bei unserem letzten Treffen einen Witz erzählte, den ich nicht ganz mitbekam, aber höflich darüber lachte. „Gott in Gedanken und Füße auf dem Boden“, sagte sie, glaube ich, immer zu mir, wenn ich zu einer Reise aufbrach.
Jouni Rasi, 60, öffnet die Tür seines Apartments in Prikanmaa. Wenn man seinen aktuellen Schreibstil analysieren würde, würden einem große Veränderungen in seinem Vokabular und dem Aufbau auffallen. Seinen Führerschein hat er noch, aber vielleicht nicht mehr lange. Scannte man sein Gehirn, so würde man Amyloid-Plaques und atrophes Gewebe erkennen. Vor vier Jahren wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert.
Am Telefon hatte Rasi versprochen, mir erklären zu wollen, wie sich die Krankheit für ihn anfühlt. Er ist ein seltener Fall: an Alzheimer erkrankt, aber bereit darüber zu reden. Viele reden nicht über die Krankheit. Und viele kriegen nicht einmal mit, dass sie sie haben. Deshalb sagen Demenz-Patienten selten die Worte: „Ich kann mich nicht erinnern.“
Rasi aber benutzt diese Worte. Er spricht vor Selbsthilfegruppen, auf Konferenzen und mit der Presse über Demenz. Er erkennt die Stille, die Alzheimer in der Öffentlichkeit umgibt. Einer seiner Freunde grüßt ihn beispielsweise nicht mehr, sondern schaut einfach weg, wenn sie sich begegnen. „Vielleicht hat er einfach Angst davor.“
Ganz bestimmt hat er das.
Ich erzähle ihm, dass ich mit meiner Großmutter nie über die Krankheit gesprochen habe, sie nie danach fragte, wie es sich für sie anfühlte. Rasi nickt.
Wie fühlt es sich also an?
„Kennst du das, wenn du träumst, dass du versuchst wo hinzugehen, aber ständig steht dir etwas im Weg? Du versuchst loszugehen, aber du kommst nie an.“
Ich nicke. Jeder hat Träume dieser Art. Ich bin dann immer auf dem Weg zum Flughafen, wenn mir etwas in die Quere kommt und es bald schon zu spät sein wird. Aus diesen Träumen endlich aufzuwachen, fühlt sich immer großartig an.
Jouni Rasi ist die meiste Zeit wach, aber seine Gedanken sind fragmentiert. Es kann sein, dass er sich irgendwohin auf den Weg macht und dann mittendrin anhält und sich fragt, wohin zur Hölle er eigentlich auf dem Weg war. „Es kann einen ziemlich stressen, als sei man in so einem Traum gefangen. Du weißt, dass es einen Zeitplan gibt, aber du erreichst dein Ziel niemals. Es löst die pure Panik in dir aus.“
Zuletzt passierte es im Stadtzentrum von Tampere. Rasi ging die Einkaufsstraße entlang, auf seinem Weg nach Hause von einem Treffen des örtlichen Alzheimer Verbandes. Auf einmal hielt er an. Was mache ich hier?
„Es ist als würde eine Kassette einfach aufhören zu spielen.“
Er ging in ein Warenhaus, setzte sich bei einer Tasse Kaffee hin und versuchte sich zu beruhigen. Nach und nach dämmerte es ihm wieder: er wollte an einem Musikladen haltmachen, um Saiten für seine Gitarre zu kaufen.
Rasi scheint es ziemlich ernst zu meinen, wenn er sagt, dass ihm diese Krankheit keine Angst einjage und dies auch noch nie getan habe. In den vier Jahren seit seiner Diagnose ist einer seiner Freunde der gleichen Krankheit erlegen, und auch andere verschwinden allmählich aus dem Leben und Rasis Geschichtenraum.
„Es könnte schlimmer sein“, sagt er. „Ich habe neue Freunde gefunden und die Krankheit verursacht keine Schmerzen.“
Alzheimer wird gemeinhin als eine der schlimmsten Krankheiten wahrgenommen, weil wir uns davor fürchten, dass sie Menschen, die wir kennen, verändert. Dabei blieb Großmutters Charakter bis zum Ende derselbe. An schlechten Tagen war sie eine große Nervensäge, an guten eine humorvolle Frau mit großem Herzen. Sie hat ihr Gedächtnis verloren und damit auch einen gewissen Grad an Privatsphäre und Kontrolle, aber sie hat nie ihr Temperament verloren.
Hoffnung auf ein heimeliges Pflegeheim
Jouni Rasi will nicht, dass seine Frau sich zu Hause um ihn kümmert, sobald die Situation zu anstrengend wird. Er möchte in das örtliche Pflegeheim gebracht werden und hofft darauf, dass es dort so heimelig wie nur möglich sein wird. Einmal bei diesem Thema angekommen, erinnert sich Rasi wieder an seine Kindheit. Seine Familie lebte in einer Kleinstadt und sein Vater arbeitete in der Forstwirtschaft. Rasi war das jüngste von acht Kindern. Er und seine Brüder bauten den Truck des Vaters aus Holzstücken nach, die sie in der Umgebung fanden. Seine Mutter war stets eine kränkliche Frau, und so wurde er ein Papakind. Als Rasi zwölf war, starb sein Vater an Lungenkrebs.
Manchmal fragt er sich, ob seine Geschichte die Demenz beeinflusst haben könnte. „Es gibt da eine neue schwedische Studie, die besagt, dass mentale Wunden wie meine, den Verlauf der Krankheit beeinflussen könnten.“ Für die Zeit vor seinem Tod hat er eine Patientenverfügung verfasst. Er holt das Dokument aus einer Ablage. Die wichtigsten Punkte darin beziehen sich auf die medizinische Behandlung: Ich darf nicht wiederbelebt werden, sollte die ärztliche Meinung dahingehend lauten, dass es mein Leiden verlängern und meinen Tod nur hinauszögern würde. Und: Für mich ist meine Lebensqualität wichtiger, als die künstliche Verlängerung des Lebens.
Rasi möchte seine Symptome behandelt wissen, auch wenn das seine Lebenserwartung verkürzen sollte. Die Ärzte dürfen von dieser Verfügung allerdings abweichen, wenn sie erkennen, dass sich der Wille des Patienten geändert hat. Der letzte Absatz der Verfügung besitzt einigen Charme. Es handelt sich nämlich um ein Selbstporträt.
Ich trinke meinen Kaffee schwarz mit Milch. Abends trinke ich Tee.
Ich mag Rotwein und Cognac. Mir muss erlaubt werden sie zu trinken, wenn nötig.
Hygiene ist mir wichtig: Zur Sauna zu gehen ist ein essentieller Bestandteil meines Lebens.
Es ist mir wichtig, dass mein Kopfhaar und der Bart sauber und gestutzt sind. Ich habe einen Stammfrisör, der kommen und mir die Haare schneiden wird, wenn nötig. Ich erwarte, dass meine Haare alle fünf Wochen geschnitten werden.
Ich denke an das Haar an meinem Kinn. Vielleicht ist dieser Gedanke doch nicht so seltsam. Ich sage zu mir selbst: Auf meinem Kinn wächst ein Haar. Ich wünsche, dass es regelmäßig gezupft wird.
Korrektur: Ich wünsche, dass es gezupft wird. Es sei denn, ich wehre mich heftig dagegen.
Korrektur: Wenn ich dann immer noch nicht will, dass jemand mein Kinn berührt, lasst es einfach bleiben.
Jouni Rasis Patientenverfügung erinnert uns daran, dass er es nicht mag, „Dinge herzustellen oder mit kleinen Dingen herumzutüfteln“ – ein Anti-Bastelabschnitt. Im Abschnitt mit dem Titel „Meinungsänderungen“, schreibt er: „Meine Meinung über gewisse Dinge mag sich während des Krankheitsverlaufs ändern. Wenn ich deutlich äußere, dass sich meine Meinung über eine Sache geändert hat oder wenn eine derartige Veränderung offensichtlich wird, hoffe ich, dass meine Familie diese veränderten Sichtweisen akzeptiert.“
Jouni Rasis Patientenverfügung ist eine Miniatur seiner Lebensgeschichte. Die zentrale Frage lautet: Wirst du mich akzeptieren, obwohl ich mich verändern werde?
Während wir an der Tür stehen und Hände schütteln, scheint es mir so, als werde ich diejenige sein, die sich länger an diese Begegnung erinnern wird.
„Haben Sie bereits aufgegeben?“
Großmutter hat ihre Meinung über Dinge mindestens zwei Mal geändert. „Ich bin mir sicher, dass meine Zeit gekommen ist“, sagte sie einmal vor Jahren, als sie noch gesund war. Als sie dann krank wurde, redete sie nie wieder über den Tod. Sie wollte leben. Nur ganz am Ende, als sie gerade einen Schlaganfall und eine gebrochene Hüfte überlebt hatte, gab sie alles auf. Auch die Witze und das Nörgeln, beides zentrale Bestandteile ihrer Persönlichkeit. Als ihr Körper langsam austrocknete, wurde sie durch einen Magenkatheter ernährt. Aber es half nichts, und der Arzt sagte uns, dass es zu einer Entzündung und einem noch schmerzvolleren Tod führen könnte. Ich wusste zuvor nicht, dass es Finnland relativ häufig vorkommt, dass Menschen durch Hunger oder Durst sterben.
Großmutter war nicht willentlich im Hungerstreik; es war nicht ihre Entscheidung. Es war einfach eine Tatsache, bedingt durch ihren Körper. Sie fiel in Ohnmacht. Immerhin wurde ihr Willen so auf eine Art deutlich: Bitte nicht mehr.
Ich bin der Krankenschwester dankbar, die ganz direkt fragte. Das gab ihr die Kraft zurück, die sie verloren hatte.
„Hören Sie, haben sie bereits aufgegeben?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Großmutter.
In meinem Putzmittelschrank habe ich eine große Kiste mit Fotos und Unterlagen. Obenauf liegt ein Foto, das nur sechs Monate vor ihrem Tod gemacht wurde. Es ist Sommer und sie lacht. Ich bin immer wieder von dem Gedanken überrascht, dass sie mit Bekannten eine Sommerreise unternahm und für die Kamera lachte. Ich schätze, ich habe mir ihre letzten Jahre nur deshalb als traurig vorgestellt, weil sie das für mich waren.
Niemand las ihr Tagebuch
Nur ein paar der Fotos sind datiert. Auf einer Schwarz-Weiß-Serie ist Großmutter noch jung, ein hübsches Mädel in einem Baumwollkleid. Sie sitzt auf den Felsen an der Küste mit paar anderen Mädchen. Sie hat kräftige Arme und hohe Wangenknochen, wie alle Frauen in unserer Familie. Es gibt in meiner Familie niemanden mehr, den ich fragen könnte, wo dieses Foto aufgenommen wurde oder wer ihre Freundinnen waren. Niemand wird sich jemals wieder daran erinnern. Was ich über das Leben dieser Frau weiß, sind nur solche Dinge, die man halt so über seine Verwandten weiß.
Zum Beispiel, dass sie mit vierzehn in ein Auto gesetzt wurde und mit ihrer Mutter aus Vyborg wegfuhr. Ich weiß, dass sie zuerst nach Riihimäki fuhr und dann nach Helsinki. Ich weiß, dass sie als Flüchtlingskind beschimpft wurde, die Art von Beschimpfungen, die heute bei uns über Flüchtlinge aus anderen Kontinenten ausgegossen werden. Ich weiß, dass sie die Schule geschmissen, aber hart gearbeitet hat, Zementsäcke auf Baustellen schleppte, einen rothaarigen Mann küsste, den sie an einem Tor auf einem Bauplatz traf. Sie bildete sich fort, wurde Vorarbeiterin und dann sogar Sekretärin. Sie verwaltete die Stifte, Locher und Radiergummis am Empfang des Büros. Lachte für die Kamera mit gefalteten Händen auf dem sauberen Tisch.
Mit dem rothaarigen Mann hatte sie eine Tochter und produzierte während ihres gesamten Lebens eine erstaunliche Anzahl merkwürdigster Kleidungsstücke. Keine gewöhnliche Oma-Kleidung war das, sondern erstaunlich komplizierte Kreationen, die einer gewissen mathematischen Fertigkeit bedurften – Gehröcke und ein Badeanzug mit Häkeleien aus weißer Baumwolle. Ich weiß, dass sie mit ihren Bürodamen zum Eisschwimmen ging während der Mittagspausen. Sie schluchzte, als ihr Chef ihr einen Strauß Rosen überreichte, während die Bürodamen, jetzt alle mit silbrigem Haar, im Hintergrund klatschten.
Sie machte Kuchen, Eintopf, Pfannkuchen, fruchtigen Karamellpudding, süßen Weißtee, Eiscremetorten – alles, was sie zuverlässig der Diabetes näherbrachte. Einmal saß sie am Küchentisch mit der Wachsdecke und löffelte Honig direkt aus dem Glas. „Nimm dir auch einen Löffel“, sagte sie zu mir.
Sie redete nicht über den Krieg, das tat niemand.
Sie schrieb ein Tagebuch, niemand las es.
Sie vertraute den Menschen zu sehr. War fasziniert von Katalogen. Wusch alte Joghurtbecher aus und zog mit ihnen von einer Wohnung in die nächste. Sie ließ manchmal den Herd an, verlief sich auf dem Weg zu einem Laden, schaltete den Fernseher jeden Morgen etwas früher ein. Auf einem Foto zeigt sie immer und immer wieder auf ein Kind, gibt ihm verschiedene Namen, lacht vor Freude und gutem Willen, erzählt einen Witz, den mal wieder niemand versteht.
Sie lachte viel, beschwerte sich häufig.
Die Kiste enthält auch Bastelarbeiten aus dem Pflegeheim sowie den Bericht der Therapeutin über Großmutters Version ihrer Lebensgeschichte.
„Das ist reine Fiktion“, warnte mich meine Mutter.
Ich begann zu lesen, um zu verstehen, was sie damit meinte: In dem Dokument erzählt Großmutter ihrer Therapeutin alle möglichen Dinge, die sie wild durcheinanderwirft. Natürlich wusste die Therapeutin nicht, was davon stimmte. Aber sie schrieb alles auf, wie es ihr gesagt wurde. Zum Beispiel heißt es in der Geschichte, dass Großmutters Tochter ein adoptiertes Kind habe und dass Großmutter gesagt habe: “Meine Tochter hat ein fremdes Kind aus dem Krankenhaus mitgenommen, aber es war ja auch eine besondere Situation.“
Aber vielleicht ist das alles auch wahr und wurde lediglich aus dem zeitlichen Zusammenhang gerissen. Denn Großmutter war selbst adoptiert worden; ihr Stiefvater wurde zu ihrem Vater, als sie noch sehr jung gewesen war. Und als ich dann als Frühchen zur Welt kam, war mein Vater im Ausland und meine Großmutter war die erste Person, die meine Mutter auf der Intensivstation besuchte und das Baby begutachtete, in dem sie ihre Arme in den Inkubator steckte. Es war nicht ihr Baby, aber sie ging zur Entbindungsstation und war die erste Person, die sich um das Kind kümmerte.
Es war eine besondere Situation.
Sie musste sofort das Baby sehen
Wenn wir das alles in den Fragebogen zu ihrer Lebensgeschichte geschrieben hätten, hätte der Pfleger gewusst, was zu tun gewesen wäre in der Nacht, ein paar Wochen bevor ihre Großenkelin geboren wurde, als sie mit allen Mitteln versuchte, das Heim zu verlassen: Sie musste sofort das Baby sehen! Mein schwer schwangerer Bauch hatte eine in ihr verschüttete Erinnerung ans Licht gebracht.
Einen Monat später kam ich sie mit dem Baby besuchen. Und danach versuchte sie nie wieder wegzulaufen und auf die Entbindungsstation zu kommen.
Zwischen die Seiten des Fragebogens zur Lebensgeschichte ist ein Bogen Malpapier geheftet, auf den die Therapeutin die Konturen von Großmutters Hand gemalt hat. Ich lege meine Hand darauf, sie ist etwas kleiner. Das Bild erinnert mich an die Karten, die die Mitarbeiter der Tagespflege mithilfe der Hand meiner kleinen Tochter erstellt haben. Mit Filzstiften, immer und immer wieder: an jenem Tag war sie so und so groß. Das ist die einzige Spur, die Großmutter in der Welt hinterlässt. Vielleicht helfen diese Linien einem, sich daran zu erinnern, wer die Person, der diese Hand gehörte, einst gewesen war.
Anu Silfverberg wurde 1974 in Helsinki geboren und arbeitet als Journalistin und Schriftstellerin.