Mitten im Berliner Wohlfühlbezirk Dahlem, nicht weit von der Freien Universität, sitzt zwischen den Botschaften des Nahen Ostens das Deutsche Archäologische Institut. Der Direktor der Orient-Abteilung heißt Professor Doktor Ricardo Eichmann. Seine Forschungsschwerpunkte sind Musikarchäologie des Vorderen Orients und Ägyptens. Außerdem leitet er Ausgrabungen in Kriegsgebieten, um den Aufbau, die Struktur und das Scheitern untergegangener Zivilisationen zu untersuchen. Er erforscht den alttestamentarischen Raum des Irans, des Iraks und Teile Ägyptens. Nach Israel darf und will er nicht einreisen.
Sein Büro in Dahlem ist im ersten Stock, Parkblick. Wenn man ihm hier gegenübersitzt, spürt man ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Journalisten. Er gibt keine Interviews, möchte weder seine Zitate lesen, noch Fotos von sich veröffentlicht sehen. Vor vielen Jahren, als er noch Interviews gab, hat Ricardo Eichmann eine Episode aus seiner Schulzeit erzählt. Geschichtsunterricht Anfang der Siebzigerjahre, notdürftig wird der Zweite Weltkrieg aufgearbeitet. Dem Lehrer fällt am Ende der Stunde auf, dass in seiner Klasse ein Junge namens Eichmann sitzt.
Er geht zu Ricardo und entschuldigt sich bei ihm – dafür, dass er gerade den Holocaust durchgenommen hat, und somit auch Ricardos Vater: Adolf Eichmann, den Mann, der die Züge nach Auschwitz schickte und die sogenannte Endlösung zum letzten Akt im Drama der europäischen Juden umsetzte.
1955 wurde Ricardo Eichmann in Buenos Aires geboren. Sein Vater war über die sogenannte Rattenlinie - eine der Fluchtrouten führender Vertreter des Nazi-Regimes - 1950 via Italien nach Argentinien geflohen und mit der Hilfe eines römischen Kardinals als Riccardo Klement untergetaucht. Frau und Kinder folgten 1952. 1960 wird Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst Mossad aufgespürt, verhaftet und nach Israel gebracht.
In Jerusalem wird ihm der Prozess gemacht. Kalt und zurückhaltend wirkt er in seinem Glaskasten im Gericht und verteidigt sich, in dem er sich als Schreibtischtäter inszeniert. Eichmann wird zum Tod verurteilt.
Ricardo Eichmann geht auf die Sechzig zu, er sieht aus wie ein trauriges Model. Groß, helle Augen, schwarze Locken, man könnte ihn problemlos als Argentinier durchgehen lassen, nichts hat er mit der knarzigen Kantigkeit seines Vaters gemein.
Seinem Büro haftet etwas Unwirkliches an. Eine Mischung aus Drogenberatungsstelle und Kaninchenbau. An den Wänden hängen als Nachbildungen orientalische Musikinstrumente, die älter als Jesus sind. Das ist eine große Leidenschaft Eichmanns, der er neben den Grabungen viel Raum gibt. Die Musik, erklärt er, war in den Tempeln die Möglichkeit, Zugang zu den Göttern zu bekommen. Sie war Teil in jedem Tempelbetrieb. Man erhörte die Bedeutung Gottes.
Wir reden über den Untergang von Hochkulturen, über Jared Diamond, der die Theorie vertritt, dass jede sich fortbildende Gesellschaft zwangsläufig einen Punkt erreichen muss, an dem sie zusammenbricht. Er untersucht auch Kulturen, deren Untergang mit Klimaveränderungen zu tun hatten – das Verschwinden von Zivilisationen hat viele Ursachen, nicht immer die gleichen. Aber in den meisten Gesellschaften lassen sich tiefe Einschnitte bereits vor ihrem Ende, unter den Eliten der Zeit, beobachten. Eine Gesellschaft fällt, wenn die Eliten falsche Entscheidungen treffen.
Kaffee?
Nein, danke.
Das Diktiergerät darf nicht mitlaufen.
Die Reporterin schreibt mit, zum Teil schon unleserlich. Nebenan haut jemand gegen einen Drucker.
Den schriftlichen Quellen sei nicht zu glauben, sagt Eichmann. Man müsse misstrauisch gegenüber den Worten sein. Schriftliche Quellen sind oft Erzählungen von Gewinnern. Im Raum Mesopotamien, wo die Keilschrift erfunden war, als in Mitteleuropa noch Höhlen bemalt wurden, waren öffentliche Mitteilung und schriftliche Zeugnisse Sache der Herrscher. Da sich am Vermögen des Herrschers erst der Reichtum des ganzen Reichs bemessen ließ, war ein König vor allem darum bemüht, seine Macht zu erhalten, in dem er erfolgreich und ertragreich herrschte. Schriftliche Quellen, Aufzeichnungen über den Verlauf einer solchen Königskarriere, sagen also nur bedingt etwas darüber aus, wie es wirklich war. Der König war bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen und Macht auszudrücken.
Zu Beginn einer Grabung und an deren Ende steht Eichmann in der Wüste zwischen Euphrat und Tigris. Notiz: Wenn man selbst im Dreck stand, weiß man, was man von einer Ruine zu halten hat. Man steht im kollektiven Gedächtnis, in Kulturtechniken wie Landwirtschaft und Botanik, in Städten, Tempeln, Palästen. Das Hauptproblem ist im Augenblick, dass große Teile dieses kollektiven Gedächtnisses zerstört werden. Durch den Krieg in Syrien, Iran und Irak. Eichmann steht zwar mit den Stellen vor Ort in Kontakt, aber seine Arbeit als solche ist derzeit unmöglich.
In Syrien gab es vor Kurzem einen Anschlag auf ein Krankenhaus, in dem gerade eine seiner Studentinnen lag. Eichmann ist vorsichtig. Er will weder Kollegen im Land prellen, noch die diplomatischen Beziehungen gefährden. Sein Job ist es, Forschungen zu ermöglichen. Erkenntnisse zu gewinnen. Und neben dem Krieg machen Grabräuber und Abenteurer das Leben des Archäologen schwer.
Die Archäologie ist der externe Speicher unserer Zivilisation. Die Disziplin, die in einer Zerstörung nach Erkenntnis sucht. Wer gräbt, reißt jüngere Schichten und Spuren ein. Wie eine Wand mit zehn Tapetenschichten müssen die jungen Spuren weggeschabt werden, um nach der älteren suchen zu können. Jede Zivilisation baut auf dem Gegebenen auf. Unter jedem Haus ruht ein anderes. Unter dem Marktplatz sind Katakomben, unter den Katakomben Gräber, unter den Gräbern noch ein Skelett.
Im Irak wütet jetzt die Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Alle Grabungen und Projekte wurden gestoppt. Ricardo Eichmann arbeitet eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen, mit den irakischen Kollegen, wartet ab. Nicht erst die Terroristen des Islamischen Staats werden eine Gefahr für das Erbe der Zivilisation, jede Bombe löscht ein Kapitel unseres historischen Gedächtnisses.
Von den Kollegen und Instituten vor Ort bekommt Eichmann regelmäßig Berichte über den Stand von Denkmälern und Ruinen. Gefährdet ist im Augenblick ein Weltkulturerbe, das Ausmaß der Zerstörung überhaupt nicht absehbar.
Wäre Ricardo Eichmann nicht Archäologe geworden, würde er jetzt Geige spielen.
Was wäre wenn?
Wenn der Name Eichmann bloß irgendeiner wäre, wenn man ihn nicht zwangsläufig mit dem Mord an sechs Millionen Menschen assozieren müsste. Würde Ricardo Eichmann dann in Gräbern DNA-Spuren sammeln und den Dreck der vergangenen tausend Jahre nach oben wühlen?
Wahrscheinlich schon. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass der Sohn von Adolf Eichmann eine Vergangenheit beackert, die noch weiter von uns entfernt ist als der Zweite Weltkrieg, eine, die uns anders erzählen kann, warum wir geworden sind, was wir sind.
Ricardo Eichmann hat sein vorerst letztes Interview vor mehr als zehn Jahren gegeben. Als er Mitte der Neunziger Jahre Professor in Tübingen wurde, stand das groß in der Zeitung – man wurde auf seinen Nachnamen aufmerksam, es folgten Interview-Anfragen und Porträts.
Als er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagt, was er von seinem Vater hält, dass er ihn von sich abgeschnitten habe, ihn als historische Figur wahrnehme und darüber hinaus Pazifist sei, da erhielt er viel Post - unter anderem die sinngemäße Frage, wie er über den altgedienten Kameraden Eichmann bloß so herziehen könne. Das war 1995.
Seine Mutter verließ nach der Festnahme Adolf Eichmanns schließlich Anfang der Sechziger Argentinien und ging zurück nach Deutschland. In Baden-Württemberg wuchs Ricardo, der jüngste Sohn, in einer gigantischen Wolke des Schweigens auf. Soweit er sich erinnerte, wurde er nicht einmal auf seinen Namen angesprochen. Viel später erst beschäftigt er sich mit dem Vater.
Warum hat er seinen Namen nicht geändert, wie es viele Hundertausende getan haben?
Ohne diesen Namen, sagt der Mann mit den schwarzen Locken, würde es ihm auch nicht besser gehen.
Es gibt viele, von denen niemand weiß, wie es ihnen geht. Viele Nachgeborene von Juden, viele Kinder von Massenmördern. Die, die in Erscheinung treten, wirken meist unheimlich. Die Söhne der SS, die Kinder der Nazis:
Einer der Söhne Joachim von Ribbentrops schrieb vor einigen Jahren ein Buch über seinen Vater. Hier versucht ein Sohn die Unwirklichkeit des Verbrechens in Pflicht zu verwandeln.
Amon Göth, dessen grausame Taten im Film Schindlers Liste traurige Berühmtheit erlangten, erschoss als Lagerkommandant von Plaszow mehr als fünfhundert Menschen aus reiner Willkür. Vor Kurzem erzählte seine Tochter Monika dem Süddeutsche Zeitung Magazin: „Ich verachte alle Nazis, das können Sie mir glauben. Und mein Vater hat die Todesstrafe verdient. Aber meiner Mutter zu Liebe werde ich immer Partei für meinen Vater ergreifen. Das ist so in mir drin.“
Ricardo Eichmann hat den Vatermord vorgenommen. Wie ein Computervirus, riet ein Freund ihm, solle er diesen Teil seiner Existenz isolieren, sonst vergifte er den Rest des Systems. Er hat keinen Vater. Adolf Eichmann ist für ihn nicht mehr als eine historische Figur.
Ricardo Eichmann lächelt. Er schaut immer aus dem Fenster, wenn er redet, woanders hin, und sagt, selten an das Gegenüber gerichtet: Mir ist schon klar, dass ich mich sehr stark in meinem Leben mit Vergangenheit beschäftige.
Hannah Arendt festigte mit ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ das Bild des Schreibtischtäters, so wie er sich auch im Prozess darstellte. Er war, wie man inzwischen weiß, Ideengeber der Vernichtung und ausführende Gewalt. Er war der schöpferische Antibürokrat. Es ging ihm um Erpressung, Mord, Raub und Folter. In Wien erfand er die perfide Idee der Auswanderung, also Vertreibung, von Juden. Später schickte er sie in ganz Europa in die Gaskammern.
Als ich in Eichmanns Büro saß, sah ich einen Mann, der ein Opfer ist. Ein Mann, der seinen Namen nicht abgelegt hat, weil er weiß, dass es ihm mit einem neuen Namen nicht besser gehen würde. Weil er mit diesem Namen der Stellvertreter ist, ein nachgeborener Zeuge.
Aufmacherfoto: DAI Sanaa (Almaqah-Tempel von Sirwah im Jemen aus dem 7. Jh. v.Chr., der von der Orient-Abteilung des DAI restauriert wurde)