Zum Anfang ein paar Zahlen, die nachdenklich machen
- Eine Kuh in Deutschland gibt pro Jahr durchschnittlich 7.400 Liter Milch - doppelt so viel wie 1970.
- Das Optimum ihrer Milchleistung erreicht sie zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr.
- Trotzdem werden Kühe in Deutschland schon nach durchschnittlich 4,7 Jahren geschlachtet, zumeist wegen “leistungsbedingter Gesundheitsstörungen”.
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Zuerst wollte ich einen Text über drei Gründerinnen eines Biotech-Startups schreiben, die glauben, ein Wundermittel entdeckt zu haben. Doch schon am ersten Tag meiner Recherche zu Performanat war klar, dass die Geschichte dahinter größer ist als das Start-up selbst.
Performanat ist eine Ausgründung des Fachbereichs Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin und der Name des vermeintlichen Wundermittels: Es ist ein Futtermittelzusatzstoff, der Hochleistungskühe noch effizienter und gleichzeitig gesünder machen soll. „Etwa jede zweite Kuh in einem Hochleistungsbetrieb leidet einmal in ihrem Leben unter der Pansen-Azidose“, sagt Julia Rosendahl, eine der Gründerinnen. „Das heißt, der Vormagen übersäuert, weil der Kuh zu viel Kraftfutter gegeben wurde. Wegen der Folgen solcher Stoffwechselstörung müssen die Tiere sehr früh geschlachtet werden. Erste Ergebnisse von Untersuchungen zeigen, dass unser Zusatzmittel Pansen-Azidosen verhindern kann.“
Wir stehen in einem Stall in Schleswig-Holstein zwischen 76 schwarz-weiß gefleckten Kühen, von denen Julia Rosendahl und ihre Mitgründerin Hannah Braun Blut- und Urinproben nehmen. Ein Tier nach dem anderen treiben sie in eine Box, binden es fest, heben seinen Schwanz an, stechen eine Nadel in die Vene, nummerieren die Blutprobe und markieren die Kuh am Euter mit einem rosa Strich. Für die Urinprobe massieren sie eine entsprechende Stelle und halten einen Behälter darunter. Diesmal sprühen sie einen grünen Strich auf das Euter. Mehr als 2.000 Mal haben sie das inzwischen gemacht, um ausreichend Proben für ihre Untersuchungen zu haben.
Julia Rosendahl und Hannah Braun sind Tiermedizinerinnen, die dritte Gründerin ist Biologin. Katharina Hille sitzt neben dem Stall in einem provisorischen Labor und bereitet die Proben auf: Sie zentrifugiert das Blut und kocht den Urin. In dem Raum riecht es, wie es eben in einem Raum riecht, in dem Kuh-Urin gekocht wird. Viele Fliegen schwirren herum, noch mehr kleben auf einer grellgelben Falle, die die Gründerinnen über einen Plastikstuhl gelegt haben. „Wir konnten nachweisen, dass unser Mittel Kühe auch deswegen gesünder machen kann, weil es den Ammoniakgehalt im Urin reduziert“, sagt Katharina Hille. „Ammoniak ist ein Gift, das Kühe krankmacht.“
Woraus das Zusatzmittel besteht, wollen die drei Gründerinnen nicht verraten, nur so viel: Es besteht aus Stoffen, die in der Natur vorkommen, und es ist kein Medikament. „Wir wollen zeigen, dass es auch Alternativen gibt, um die Kuh gesund zu erhalten“, sagt Hannah Braun. „Es müssen nicht immer Antibiotika sein, man kann das auch auf natürlichem Wege machen.“
Tierschützer kritisiert Symptombekämpfungsmittel
Dass so ein Zusatzmittel dem Tierwohl diene, hält Leif Koch für eine “steile Aussage.” Er arbeitet für die Welttierschutzgesellschaft e.V. und bezeichnet Stoffe wie Performanat als Symptombekämpfungsmittel. „Wenn man wirklich etwas gegen den schlechten Gesundheitszustand der Milchkühe tun will, dann muss man Mindeststandards einführen.“ Beispielsweise sei es derzeit nicht verboten, die Tiere ganzjährig im Stall anzuketten. „Ungefähr ein Viertel aller Kühe werden angebunden gehalten, nur weiß das leider kaum jemand. Ich fahre häufig über die Autobahn von Berlin nach Hamburg, und da sieht man manchmal Kühe auf der Wiese stehen. Den Menschen ist nicht bewusst, dass das die Ausnahme ist. Die Milchwirtschaft findet fast ausschließlich im Stall statt.“
Wohlbefinden als Verpflichtung
Die Welttierschutzgesellschaft hat eine Petition gestartet, die mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet haben. Der Verein fordert in einem Brief an Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) die Einführung von Mindeststandards für die Haltung von Kühen. „Die Haltung von Milchkühen ist ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Landwirtschaft“, steht in dem Brief. „Trotzdem gibt es für die Haltung von Milchkühen keine konkreten gesetzlichen Bestimmungen, wie sie beispielsweise für Schweine oder Hühner definiert sind.“
Im September 2014 hat der Landwirtschaftsminister eine Initiative gestartet mit dem Titel: „Eine Frage der Haltung - Neue Wege für mehr Tierwohl“. Im Eckpunktepapier steht, dass Tiere unsere Mitgeschöpfe sind und dass ihr Wohlbefinden eine Verpflichtung für alle Menschen ist, die mit ihnen umgehen. „Der Tierschutz steht seit 2002 als Staatsziel im Grundgesetz und ist damit eine verbindliche Leitlinie für das Regierungshandeln.“
Im Rahmen der Tierwohl-Initiative saßen der Minister, die Welttierschutzgesellschaft und weitere Tierschutzverbände am 21. Oktober 2014 an einem Runden Tisch zusammen. Die Verbände fordern die Reform des Tierschutzgesetzes. Christian Schmidt habe sich dazu sehr wohlwollend geäußert, sagt Leif Koch, Änderungen seien in Aussicht gestellt worden. „Das hat uns überrascht, schließlich ist das Tierschutzgesetz gerade erst überarbeitet worden, und Gesetze öffnet man eigentlich nur ungern wieder.“
Leif Koch sagt, es ist ihm wichtig, mit Landwirten und Bauern zusammenzuarbeiten. „Wir wollen keine Revolution, sondern mit Augenmaß vorgehen. Wenn jemand zum Beispiel gerade erst einen neuen Stall gebaut hat, dann soll er diesen eine Zeit lang weiter nutzen dürfen.“
Weitere Zahlen:
- Im Jahr 2000 hatte ein Milchkuhhalter im Durchschnitt 34 Tiere. Heute sind es 56.
- Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 138.500 Betriebe mit Milchkuhhaltung. Heute sind es 77.669.
Intensivierungsdruck auch durch niedrige Preise
Von einem „Intensivierungsdruck“ spricht Hans Foldenauer vom Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, wenn er auf die Zustände in der Milchwirtschaft angesprochen wird. „Damals, da war es eine kleine Tragödie, wenn eine Kuh oder ein Kalb verendet ist. Heute denkt man, wenn das Tier krank ist, der Arzt kostet 30, 40 Euro, das kann ich mir nicht leisten, also weg damit. Das tut weh.“
Der Intensivierungsdruck kommt auch durch einen Preisdruck zustande: Die Discounter Aldi Süd und Aldi Nord haben wiederholt angekündigt, ihren Preis für einen Liter Vollmilch zu senken. Nur wenige Stunden später haben Konkurrenten wie Lidl, Edeka und Rewe nachgezogen. Hintergrund sind die zurückgehende Nachfrage aus China, die russischen Sanktionen, aber auch eine hohe Milchmenge, die in Europa erzeugt wurde, nachdem die Mengenbeschränkung durch die Milchquote weggefallen ist.
„Dieser ganze Prozess wurde von der Politik eingeleitet“, sagt Hans Foldenauer. „Es geht nur darum, die weltweiten Märkte zu erobern. Unsere Politik ist nur auf Industrialisierung und auf Preiswettbewerb ausgerichtet. Wenn sie aber Kühe fachgerecht betreuen wollen, dann müssen sie sich das Personal dafür leisten können. Diese ganzen Krankheiten bekommen die Tiere doch, weil sie nicht mehr leistungsgerecht gefüttert werden können. Eine Kuh braucht Betreuung, sie braucht Zeit, dann kann sie auch sieben bis acht Jahre lang leben und trotzdem Spitzenleistungen bringen. Stattdessen will man aber immer mehr aus den Bauern herauspressen.“
Vier Konzerne beherrschen den Markt
Einfach einen höheren Preis setzen können die Milchbetriebe nicht, die Marktmacht ist klar zu Gunsten der Molkereien verteilt: als Folge zahlreicher Übernahmen in den letzten Jahren teilen die zehn führenden Unternehmen mehr als 80 Prozent des Marktes unter sich auf. Im Lebensmitteleinzelhandel ist die Lage noch deutlicher: Die führenden vier Konzerne beherrschen 85 Prozent des Marktes. Das kritisiert auch das Bundeskartellamt, es spricht in einer Untersuchung von einer „Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel“.
Hans Foldenauer glaubt, dass viele Menschen auch zu teurerer Milch greifen würden, wenn der Markt transparenter wäre. „Im Regal sehen Verbraucher nur die Verpackung, doch wo die Milch darin genau herkommt, das steht nicht drauf.“ Er fordert eine Änderung der Kennzeichnungsverordnung. „Zurzeit erkennt man auf der Tüte nur den letzten Produktionsstandort, also die Molkerei. Der Verbraucher sollte aber auch sehen können, von welchem Hof die Milch stammt.“
Ein Teil der Menschen in Deutschland zahlt schon jetzt mehr: Der Preis für Bio-Milch liegt durchschnittlich elf Cent über dem für konventionelle. Kühe in Bio-Betrieben geben durchschnittlich etwa 1.000 Liter weniger Milch pro Jahr, dafür leben sie ein Jahr länger.
Die Gründerinnen von Performanat glauben nicht, dass ihr Futtermittelzusatz den Marktanteil konventioneller Hochleistungsbetriebe erhöhen könnte auf Kosten der Bio-Betriebe. „Die Bio-Betriebe, die es gibt, ich glaube nicht, dass da ein Rücklauf stattfinden wird“, sagt Julia Rosendahl. „Dafür ist das Interesse der Bevölkerung zu groß an Bio-Produkten, glaube ich. Keine Ahnung. Unser Ziel ist halt, dass eine hohe Tierproduktion vereinbar ist mit einem hohen Maß an Tiergesundheit.“
Der Bio-Anteil an der Gesamtproduktion von Milch liegt in Deutschland bei 2,3 Prozent.
Noch eine letzte Zahl: Eine Kuh kann eigentlich bis zu 20 Jahre alt werden.
Die Audiodatei wurde erstellt von detektor.fm.
Fotos: Danijel Višević; Videos: Stefan Schlicker
Offenlegung: In unseren redaktionellen Richtlinien haben wir festgelegt, dass wir mögliche Interessenskonflikte von Autoren unter unseren Geschichten transparent machen. Da sich diese Geschichte unter anderem mit dem Landwirtschaftsminister auseinandersetzt: Neben meiner Arbeit als freier Journalist (Krautreporter und Deutsche Welle) habe ich zu der Zeit, als dieser Artikel entstand, auch für das Bundespresseamt Videos erstellt.