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Ein Kabarettist würde sagen: Mit diesen saftigen, runden Tomaten wird der Terror bekämpft.
Sie stammen aus dem Netto in der Kochhannstraße in Berlin, haben 1,99 Euro gekostet und sind nicht weiter besonders. Es ist nur ein halbes Kilo Tomaten, von insgesamt 60.000 Tonnen Gemüse, die Deutschland jedes Jahr, vor allem im Winter, aus Marokko importiert.
Der Kabarettist, der sagt, dass mit diesen saftigen, runden Tomaten der Terror bekämpft wird, hätte natürlich Unrecht. Der Kabarettist zielt aber in die richtige Richtung. Denn es gibt eine Linie, die vom Dschihad zu diesem unschuldigen Gemüse führt: die Außenpolitik der Europäischen Union.
Die Tomaten werden vertrieben von Azura, einer marokkanisch-französischen Firma, die aber auch auf den Gebieten der so genannten Westsahara operiert. Glaubt man der Nichtregierungsorganisation Western Sahara Resource Watch, dann bauen die Firmen dort Tomaten an und verschiffen sie im marokkanischen Hafen Agadir nach Europa. Netto bestätigt, dass es Tomaten aus der Westsahara bezieht.
Der Weg der Westsahara-Tomaten
In Dakhla (1) werden die Tomaten angebaut und geerntet und 1.600 Kilometer auf der Straße N1 (2) durch die Wüste nach Agadir (3) gefahren. Dort werden sie in die kleinen Plastikschalen gepackt, die wir auch im Supermarkt finden, und mit dem Label „Herkunft: Marokko“ versehen. Die marokkanisch-französische Firma Azura hat ihren Sitz in Perpignan (4), importiert die Tomaten und verkauft sie an die Netto GmbH aus Maxhütte-Haidhof in Bayern (5). Die verteilt die Tomaten in die Supermärkte Deutschlands, u.a. in die Kochhanstraße, Berlin (6). Produkte aus der Westsahara können aber in fast allen Supermärkten Europas gekauft werden.
Für Marokko ist das offiziell nicht bemerkenswert, denn es betrachtet diese Gebiete als seine “Südprovinzen” und hält sie daher - völkerrechtswidrig - besetzt. Dagegen wehrt sich das kleine Volk der Sahrauis. Dieser Konflikt wäre vielleicht schon längst beigelegt, wenn ein Referendum über die Zukunft dieses großen, dünn besiedelten Landstriches stattgefunden hätte - so wie es 1991 von der UN beschlossen wurde.
Aber beide Seiten konnten sich nicht darauf einigen, wer abstimmen darf. Marokko versucht seitdem seine Herrschaft über die Gebiete zu festigen. Durch eine Mauer und Hunderttausende Soldaten, die die sahrauische Befreiungsbewegung Polisario in Schach halten sollen, durch Subventionen für Marokkaner, die sich in den Südprovinzen niederlassen, durch Dezentralisierung und eine wirtschaftliche Entwicklung der Gebiete.
“Seit 30 Jahren bemüht sich Marokko, die Westsahara auf einen Entwicklungsstand zu bringen, der mit dem Rest des Landes vergleichbar ist”, schreibt Jacques Roussellier, Herausgeber und Autor mehrerer Bücher zum Thema. Das Land investiere viel Geld, in der Hoffnung, dass Entwicklung “die Akzeptanz von Marokkos Herrschaft in der Westsahara steigern wird” und die internationale Gemeinschaft ihr stillschweigendes Einverständnis gibt.
Marokko schafft sich durch neue Etiketten eine eigene Realität.
Diese saftigen, runden Tomaten sind also mehr als ein Appetizer vor dem Hauptgang. Sie sind Teil der Herrschaftsstrategie Marokkos. Denn vor allem in der Region Dakhla im Süden der Westsahara gibt es viele Farmen, die marokkanischen Geschäftsleuten gehören und auf denen nach Angaben des lokalen Aktivisten Mohammed Elbaikam bis zu 36.000 Menschen arbeiten. Er sagt auch: “Nur vier dieser Arbeiter sind Sahrauis: Drei sind Fahrer, einer bewacht einen Bauernhof.” Marokkaner ziehen in marokkanischen Gewächshäusern Tomaten, die dann in Marokko verpackt werden, mit dem Label: “Herkunft Marokko” - obwohl der Boden auch sahrauisch sein könnte. So schafft man neue Realitäten.
Dabei geht es nicht nur um Agrarprodukte. Marokko ist durch die große Phosphatmine in Bou Kraa zu einem der entscheidenden Händler auf dem Weltmarkt geworden. Es kontrolliert mit ihr 15 Prozent der weltweiten Phosphat-Produktion, die vor allem für Düngemittel genutzt wird. In den sahrauischen Meeren lässt Marokko Trawler aus der ganzen Welt fischen. EU-Boote müssen marokkanische Crews beschäftigen und sich an der Entwicklung des Fischereisektors beteiligen.
Und in diesen Tagen fällt auch das letzte Tabu: Die amerikanische Ölfirma Kosmos Energy hat das Schiff Atwood Achiever vor die Küste der Westsahara geschickt, um dort mit Probebohrungen zu beginnen. Gegen Angriffe verteidigt die Firma sich damit, dass sie bisher ja nur Erkundungen durchführe. Sollten diese erfolgreich sein, weiß die Firma, dass sie die “politischen und sozialen Befindlichkeiten der Westsahara” zur Zufriedenheit der internationalen Gemeinschaft berücksichtigen müsse. Dass sich Kosmos auf die internationale Gemeinschaft beruft, ist merkwürdig, denn 2002 kam die Rechtsabteilung der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass es Unrecht sei, wenn Öl gefördert wird, „ohne den Wünschen und Interessen der Menschen der Westsahara“ Beachtung zu schenken. Auch der französische Ölkonzern Total sucht seit drei Jahren vor Ort nach Öl, allerdings noch ohne Probebohrungen. Ein US-Konzern hatte noch 2006 seine Erkundungslizenz für die Westsahara nicht erneuert, nachdem der mächtige norwegische Pensionsfond seine Investitionen aus diesem Konzern zurückgezogen hatte.
Die EU unterstützte Marokko in den Jahren 2003 bis 2013 mit knapp 1,3 Milliarden Euro und ist der mit Abstand größte Handelspartner des Landes. Wenn die EU wollte, könnte sie einen Importstopp für Güter aus der Westsahara erlassen. Azura-Tomaten könnte dann niemand mehr bei Netto kaufen.
Die EU hat durch ihre Wirtschaftsmacht Einfluss - gerade in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.
Im Fall Israel/Palästina hat sie das längst gemacht. Auch dort gibt es ein umstrittenes Gebiet, eine Mauer, UN-Resolutionen und Siedler. Seit Beginn dieses Jahres darf die EU-Kommission Einrichtungen aus dem Westjordanland nicht mehr mit Preisen, Fördergeldern oder bestimmten Finanzierungen bedenken.
Aber in der Westsahara-Frage ist die EU zerstritten. Es gibt Länder wie Spanien, in denen die Politik und die Zivilgesellschaft auf ein baldiges Referendum dringen. Es gibt Schweden, das die Ausbeutung des Gebietes für Unrecht hält, und es gibt vor allem Frankreich, das in einem einseitigen Autonomie-Plan Marokkos den “einzigen realistischen Vorschlag” sieht.
Jede diplomatische Initiative wird erschwert, weil die Westsahara-Frage nicht allein durch Marokko und die Polisario gelöst werden kann. Auch der große Nachbar Algerien muss mit am Tisch sitzen. In Algerien sind die Militärs die wirklich Mächtigen, und sie sehen in Marokko einen Erbfeind, den man durch Unterstützung der sahrauischen Befreiungsbewegung Polisario effektiv schwächen kann. Sahrauische Flüchtlingslager und die Polisario-Hauptquartiere befinden sich seit Jahrzehnten auf algerischem Boden. Die sahrauische Armee bekommt Waffenhilfe von Algerien, das übrigens 54 Prozent seines gesamten Handels mit der EU abwickelt.
“Marokko hat eine euro-strategische Position”, sagt Mohammed Masbah, Marokkaner und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik. “Falls es einen Krieg in der Westsahara gäbe, würde das die ganze Region destabilisieren.” Und das fürchten die Europäer.
Alles nur wegen Al Kaida
Denn nebenan, nur ein paar Hundert Kilometer von den sahrauischen Flüchtlingslagern entfernt, agiert Al Kaida im islamischen Maghreb (AQIM). Chaos in der Region käme ihr zugute - viele ihrer Kämpfer und Waffen waren auch in Libyen aktiv. Die Mauer, mit der Marokko die Polisario daran hindert, in die Westsahara einzudringen, hindert natürlich auch AQIM, sich dort auszubreiten. Immer wieder werden Polisario-Mitglieder zudem beschuldigt, mit AQIM-Mitgliedern Schmuggel-Geschäfte abzuwickeln. Mohammed Masbah: “Das ist aber keine echte, offizielle Allianz, sondern geschieht auf einer Ad-Hoc-Basis.” Außerdem unterstützt Marokko die EU in Mali, wo auch Bundeswehr-Soldaten stationiert sind. Imame aus dem Norden bilden malische Imame aus und versuchen so, den religiösen Einfluss von Al Kaida zurückzudrängen.
Der Kampf gegen den Terror ist Staatsräson mächtiger EU-Staaten, und deswegen ist Stabilität im Maghreb Teil ihrer Strategie. Was wiederum der Ausbeutung der westsahrauischen Ressourcen Vorschub leistet - und kleine, saftige Tomaten der Firma Azura, Pfundpreis gut 1,99 Euro, in den Netto in der Berliner Kochhannstraße bringt.
Das war der vorerst letzte Artikel meiner Westsahara-Reihe. Im ersten habe ich den Kampf sahrauischer Aktivisten um Unabhängigkeit beschrieben. Im zweiten habe ich in einem persönlichen Text zeigen wollen, wie Zensur in autoritären Staaten wie Marokko (und China) funktioniert. Eine Betrachtung dieses Themas bleibt unvollständig, so lange ich nicht auch in Algerien in den Flüchtlingslagern dort war. Die aber sind weit weg.
Audiofile: DerText wurde gelesen von Christian Bollert von detektor.fm
Aufmacher: Rico Grimm