So, jetzt ist es soweit: Ich bin meine Mutter.
Das dachte ich, als ich auf das Kochfeld des neuen Herds blickte. Nichts ergab irgendeinen Sinn. Was bedeuten die Zahlen? Wo muss ich drücken? Hilfe!
So müssen sich meine Eltern fühlen, wenn auf dem Computer ein unbekanntes Fenster aufploppt oder das Handy nach dem Passwort für etwas verlangt, von dem sie noch nie gehört haben. Etwas, das man eigentlich kennt, wird einem schlagartig fremd, vielleicht erscheint es einem sogar feindselig.
Ich postete ein Foto des Herdbedienfelds auf Twitter und siebentausend Likes später wusste ich, dass ich einer Sache auf der Spur war:
https://x.com/GabrielBerlin/status/1490269014773411845?s=20
Statt mit Knebeln wird die Hitze an dem neuen Herd über ein futzeliges Touchfeld eingestellt, das unmittelbar neben den heißen Kochtöpfen platziert ist, sich bei Kontakt mit Töpfen oder Wasser piepsend abschaltet und erst beim dritten Anlauf reagiert. Zudem ist es mit der völlig rätselhaften Zahlenfolge „0 1 3 5 8 10 14 A“ beschriftet.
Alles an diesem User Interface ist völlig unbegreiflich. Vor allem aber, wie es seinen Weg durch den Entwicklungsprozess, die Nutzertests, die Qualitätskontrolle und schließlich in den deutschen Einzelhandel geschafft haben konnte. Wer hat sich das ausgedacht? Warum ist niemand in irgendeiner Produktkonferenz aufgestanden und hat gesagt: Entschuldigung, aber das ist doch kompletter Stuss!
Dieser Herd ist keine Ausnahme. Die billigere wie teurere Konkurrenz ist heute oft mit einer solchen Touchbedienung ausgestattet, die keine relevanten Vorteile bietet, dafür aber handfeste Nachteile. Die früher üblichen Knebel konnte man bedienen, ohne sich die Finger zu verbrennen, ohne hinzuschauen, und sie reagierten auf Anhieb, auch mit feuchten Fingern. Die Touchfelder haben nur einen Vorteil, aus dem die Kundschaft allerdings keinen Nutzen zieht: Sie sind tatsächlich billiger in der Herstellung – die Herde werden aber nicht billiger verkauft. Will man hingegen einen modernen Herd mit Knebeln wie früher, muss man einen Aufpreis zahlen.
Nun ist es keineswegs so, dass an den neuen Herden alles schlechter wäre. Jeder, der mal mit Induktion gekocht hat, wird sofort zustimmen, dass diese Technik gegenüber einem klassischen E-Herd nur Vorteile hat – sie lässt sich präziser steuern, verbraucht weniger Energie und die Herdplatte wird nicht heiß (die Pfanne schon!).
Man kann an Geräten wie diesen Herden eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritt beobachten. Plötzlich sah ich es überall: Viele Produkte erhalten immer mehr, oft fragwürdige Funktionen, worüber aber Grundlegendes wie leichte Bedienbarkeit, Verlässlichkeit und Verständlichkeit im Hintergrund zu verschwinden scheint.
Während Wasch- und Spülmaschinen mit so wenig Strom und Wasser wie nie sehr gute Ergebnisse erzielen, machen sie sich mit immer mehr Programmen wichtig, die niemand benutzt, sie piepsen ganze Melodien und blinken um die Aufmerksamkeit der Familie, die doch einfach nur saubere Wäsche und Teller will.
Autos sind so sicher wie noch nie, und ein Schub in der Batterieentwicklung ermöglicht mittlerweile auch E-Autos mit passablen Reichweiten. Aber in Deutschlands meistverkauftem Auto, dem Golf 8 von Volkswagen, regelt man Heizung und Klima nicht mehr mit Knöpfen, sondern über eine berührungsempfindliche Fläche, die man nachts nur findet, wenn man weiß, wo sie ist, und die Augen von der Straße nimmt. Die Fläche ist unbeleuchtet.
Stromverbrauch und Haltbarkeit moderner LEDs sind klassischen Glühbirnen geradezu beschämend überlegen, auch die Probleme der zu kalten Farbtemperaturen hat man in den Griff bekommen, aber die fancy Home-Automatisierung verlangt, dass Gäste eine App installieren, um das Licht auf dem Klo einzuschalten.
„Das hat doch alles schon mal funktioniert“
Dass Waren besser und schlechter zugleich werden, habe ich in meinem Bekanntenkreis noch nicht gehört. Die Behauptung hingegen, früher sei alles besser gewesen, ist moderne Folklore. In den USA sagt man: „They don’t make ‘em like that anymore“, was so viel heißt wie: Sowas (Gutes) gibt es heute gar nicht mehr. Ganz unnostalgisch, eher genervt ertappe ich mich aber immer öfter bei dem Gedanken: „Das hat doch alles schon mal funktioniert!“ Wie Zombies, die unseren Alltag heimsuchen, tauchen Probleme, die in Alltagsprodukten schon gelöst waren, wieder auf. Dinge, die tadellos funktioniert haben, werden mit der nächsten Produktgeneration aus scheinbar unerfindlichen Gründen wieder schlechter.
Dieses Unbehagen am Konsum ist nicht nur ein individueller Eindruck. Überall in der westlichen Welt sitzen Verbraucher:innen verzagt vor ihren Anschaffungen. Das amerikanische Onlinemagazin Vox etwa schreibt: „Your stuff is actually worse now“ („Ihre Sachen sind jetzt wirklich schlechter“). Die Wirtschaftswoche beklagt: „Bei vielen Gütern und Dienstleistungen verschlechtert sich die Qualität.“ „Your Sweaters Are Garbage“ („Ihre Pullis sind Müll“), heißt es im Atlantic. Aber nicht nur Konsumgüter sind betroffen. Mediziner beklagen in einem Fachartikel das immer dünnere Plastik bei medizinischen Geräten – eine potenziell lebensgefährliche Entwicklung. Die besorgniserregende Überschrift: „Quality Fade in Medical Device Manufacturing“. „Quality Fade“ wird zwar meist mit „Qualitätsabbau“ übersetzt, aber das suggeriert ein absichtliches Vorgehen, also jemanden, der da etwas abbaut. Fading hingegen bezeichnet ein Nachlassen, etwas, für das niemand konkret Verantwortung trägt. Tatsächlich ist beides der Fall.
Und es betrifft nicht nur physische Dinge. Auch Produkte, die ausschließlich online existieren, werden schlechter. Der Autor Cory Doctorow beschreibt unter dem Titel „Enshittification“ (in etwa „Scheißifizierung“) die offenbar zwangsläufige Verschlechterung von Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter: Der „Plattform-Kapitalismus“ führe zu Monopolen und damit zwangsläufig zu Produkten, die gerade gut genug sind, dass die Kundschaft nicht in Massen davonläuft. (Der Businesstroll Elon Musk schafft derweil nicht mal mehr das: Twitter, jetzt: „X“, verliert User, Werbekunden und Umsatz aufgrund erratischer Managemententscheidungen.)
Man könnte diese Phänomene als Luxusprobleme abtun. Niemand muss auf Social Media sein. Wer immer das Neueste kauft, kauft eben Unausgereiftes. Man könnte diese Probleme als überschießenden Fortschritt entschuldigen, der sich mit der Zeit selbst korrigiert. Oder eben einfach als unbedeutend im Angesicht der globalen Probleme. Man könnte sie als das Boomergejammer verwerfen.
Und tatsächlich gibt es ja viele Produktkategorien, in denen es gar keine wirklich schlechten Produkte mehr gibt, zumindest nach allgemein anerkannten Kriterien. Marktregulierung, Sicherheitsbestimmungen, Siegel, Zertifikate und unabhängige Tests machen es Konsument:innen schwer, wirklich gesundheitsschädigende oder gefährliche Konsumentscheidungen zu treffen.
Dennoch haben viele Konsument:innen das nagende Gefühl, die Dinge würden auf merkwürdige Art schlechter. Darüber zu sprechen, ist nicht einfach, denn Dinge zu kritisieren gilt als rückwärtsgewandt („früher war alles besser“) oder frivol („uns geht es doch im Vergleich sehr gut“). Sich zum Konsum korrekt zu verhalten ist schwer, weil man sich ja nur konsumierend zu ihm verhalten kann: Kauf halt was anderes, wenn es dir nicht passt.
Aber damit will ich mich nicht abfinden. Die Dinge des Alltags sind nicht egal, denn gute Dinge machen gute Dinge mit uns – und schlechte Dinge schlechte. Ich glaube: Wenn wir die schlechten Dinge befragen, die Bedingungen, unter denen sie entwickelt und vertrieben werden, erzählen sie uns von den Ursachen, Mechanismen und Anreizsystemen, die sie schlechter sein lassen, als sie sein müssten.
Den Dingen, die schlechter sind als sie sein müssten, möchte ich das altmodische Wort Krempel geben. Krempel wie das auf Dachböden und in Kellern gesammelte Zeug, das ein Zwischenreich bewohnt, in dem die Dinge aufgegeben, aber noch nicht weggeworfen wurden.
Auf eine Art sind die Dinge wie der eingangs erwähnte Herd auch Krempel. Sie sind ganz offensichtlich schlechter, als sie sein müssten. Sie sind auf eine unnötige Weise schlechter, da wir längst wissen, wie es besser geht. Krempel wartet nur darauf, abgelöst zu werden. Es ist die provozierende Vorläufigkeit dieser Dinge, die sie zu Krempel macht. Ob es Sparmaßnahmen sind, die sich in schlechterer Materialqualität äußern oder freidrehende Fortschrittssimulation, die Produkten unnötige Komplexität hinzufügt: Je verzweifelter das Vorgängerprodukt übertrumpft werden muss, desto Krempel.
In dieser Reihe „Die Verkrempelung der Welt“ möchte ich gemeinsam mit euch, den Krautreporter-Mitgliedern, versuchen, diese Phänomene zu ergründen: Werden die Dinge wirklich schlechter? Sind die Erwartungen gestiegen? Woher kommt überhaupt der Anspruch, alles müsse immer besser werden? Stirbt mit der naiven Idee des endlosen Wachstums die hoffnungsvolle Idee des immerwährenden Fortschritts?
Euren Input nehme ich mit in die nächsten Artikel dieser Reihe – und am Ende wird ein Buch draus, an dem ihr quasi live mitwirken könnt.
Konsumkritik ist Kritik an unserer Seinsweise
Wir sind zum Konsum verdammt; unser Wirtschaftssystem verlangt ihn von uns. Man kann nicht nicht konsumieren. Aber das Ideal des nachhaltigen, nicht zerstörerischen Konsums scheint so unerreichbar, politisch, wirtschaftlich, logistisch – vor allem psychologisch, denn Konsum ist ein Alldurchdringer. Wenn du als Konsument:in definiert wirst, ist es schwer erträglich, für Konsum kritisiert zu werden.
Als Gegenbewegung präsentieren sich die „Minimalisten“, Menschen, die mit möglichst wenig Dingen und auf möglichst wenig Raum auskommen wollen. Es ist ein Trend, aber ich kenne mehr Dokumentarfilme über solche Leute als Minimalisten selbst. Der Begriff ist auch nicht wirklich trennscharf, denn er beschreibt Selbstversorger-Aussteiger genauso wie Leute mit maßgefertigten Einbauschränken, in denen alles verschwindet, so dass die Wohnung immer clean aussieht.
Alle Minimalisten verbindet die Überzeugung, dass mehr Besitz nicht glücklicher macht. Es ist eine wenig überraschende kapitalistische Paradoxie, dass selbst dieser Trend längst wieder selbst konsumierbar gemacht wurde, mit einer Ästhetik der klaren Linien, die tatsächlich nur für gutes Geld zu haben ist. Der technische Aufwand, der etwa getrieben werden muss, um von einer herkömmlichen zu einer wirklich glatten Küchenarbeitsplatte zu gelangen – also eine ohne überstehende Spülbecken und Kochfelder –, ist erheblich. Auch in Oberschränken versenkbare Dunstabzugshauben kosten extra. Alles, was Technik unsichtbar macht und Kanten gerade, ist teuer. Minimalismus, als Gestaltungsprinzip verstanden, bedeutet Maximalismus bei den Kosten.
Eine besonders augenfällige Perversion der minimalistischen Idee ist das Tiny House, eine zeitgenössische Interpretation der einsamen Waldhütte. Diese winzigen, freistehenden Häuser sind aber weder eine Antwort auf die Wohnraumkrise, noch besonders energieeffizient. Und auch Tiny Houses müssen auf Grundstücken stehen. In Wirklichkeit sind diese Gebäude Zweit- oder Drittimmobilien für Leute mit genug Geld, die sich keine Gedanken über echte Problemlösungen machen müssen.
Unsere Welt wird als Ort verstanden, an dem konsumiert wird. Wenn Warenhäuser schließen, wird sofort die „Verödung der Innenstädte“ befürchtet. Es ist ein Zirkelschluss, auf den der Philosoph hingewiesen hat: Irgendwann wurde „Verödung“ gleichbedeutend mit der Schließung von Geschäften. Mit anderen Worten: Wir können uns Städte schlechterdings nur als Konsumorte vorstellen; eine Kritik des Konsums ist eine Kritik unserer Seinsweise als Städter.
Bei kaum einer Alltagstätigkeit fallen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie beim Konsumieren. Ich soll das Richtige kaufen, nicht zu viel, nicht zu billig, nicht über meinen Verhältnissen, nicht unter meinem Niveau. Ich soll verantwortungsvoll konsumieren, kein Kind in einer baufälligen Textilfabrik in Bangladesch ausbeuten, auch nicht den Logistikleiharbeiter im Verteilzentrum vor Berlin. Ich soll nur ausnahmsweise bei Amazon bestellen, lieber gar nicht. An Starbucks muss ich vorbeigehen. Bei Aldi und Ikea ist die Sache schon schwieriger: riesige Ketten mit unglaublicher Marktmacht und (bei Ikea vermutlich) in sich jeglicher Kontrolle entziehendem Familienbesitz.
Aber als 2019 das Berliner Hipster-Feinkostparadies „Markthalle Neun“ der Aldi-Filiale in einer Ecke der Halle kündigte, protestierten die Anwohner:innen. Sie befürchteten den Todesstoß der Gentrifizierung: In einem Viertel, in dem, so Zeit Online, ein Viertel der Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängen, verschwindet ein bezahlbares Lebensmittelgeschäft. Dreihundert Anwohnende demonstrierten für die Ärmsten – und gleichzeitig für eine milliardenschwere Discounterkette.
Die Kritik am Kapitalismus gilt in manchen Teilen der Bevölkerung als so geboten wie zwecklos. Mit der Kritik des individuellen Konsums sieht es anders aus. Sie wendet sich nicht gegen ein System, sondern gegen die Lebensweise jedes Einzelnen. Als moralische Anforderung wird sie leichter vorgebracht, ist aber auch schwerer auszuhalten. Man fügt sich in sein konsumierendes Schicksal, tut kaufend etwas für die Wirtschaft, ab und zu akzentuiert von einer besonders vernünftigen Kaufentscheidung, einem besonders fairen Kaffee vielleicht.
Selbst eine Kreislaufwirtschaft erzeugt Abfall, der nicht wiederverwertet werden kann. Auch wenn eine solche Form des Wirtschaftens aus naheliegenden Gründen der Wegwerfwirtschaft vorzuziehen ist: Der moderne Mensch konsumiert – wodurch er zerstört. Wer also für einen, wie auch immer gearteten, besseren Konsum plädiert, verlangt bestenfalls das Richtige im Falschen: ein kleineres Auto, einen Kaffeepreis, der den Bäuer:innen zum Leben reicht, zum Leben in Armut wohlgemerkt. Und der Kaffee kommt natürlich weiterhin aus Übersee. Ein klein wenig weniger Leid, Zerstörung in Maßen, ein bisschen Frieden.
Die Hinfälligkeit so vieler Waren wird vor diesem Hintergrund besonders deutlich; im Konsum stehen so viele Dinge auf dem Spiel. Wir haben den Planeten kaputt konsumiert, jetzt sollen wir ihn wieder heile konsumieren. Aber wenn den Verbraucher:innen die Nachlässigkeit beim Konsumieren nicht mehr nachgesehen wird, dann darf sie den Produzenten erst recht nicht nachgesehen werden. Wie sollen wir das Richtige tun, mit den falschen Produkten? Denn leider werden die Dinge nicht nur nicht kontinuierlich besser – sie werden nie besser, als sie unbedingt sein müssten. Und zu oft sind sie absichtlich schlechter als das.
Den Planeten gesund konsumieren
Der kapitalistischen Orthodoxie folgend, müssten als schlecht erkannte Produkte doch eigentlich von besseren, billigeren Angeboten umzingelt und schließlich niedergerungen werden. Mehrere Effekte verhindern diese Selbstkorrektur aber: Die Digitalisierung ganzer Produktkategorien (die Unternehmen wie Kundschaft überfordert), die Marktkonsolidierung (die Wettbewerb reduziert), die Verschiebung des Wettbewerbs der Produkte zum Wettbewerb der „Markenwelten“ oder „Ökosysteme“, neue Vertriebswege, die Vergleichbarkeit erschweren (Markenshops statt Fachhandel, intransparente und unbrauchbare Online-Bewertungen) und ein dadurch verändertes Einkaufsverhalten.
Unternehmen verkaufen immer mehr (oder immer noch) fragwürdige Produkte an eine Kundschaft, die durch eine Arena aus glitzernden Quatschinnovationen geführt wird, während sie gleichzeitig von der Politik zum moralischen Konsum angehalten wird, mit keinem geringeren Ziel, als den Planeten zu retten. Das kann nicht funktionieren.
Und über all diesen kleinen und großen Konsumkonflikten, die wir ständig mit uns selbst austragen müssen, schwebt die Forderung nach Konsumverzicht, denn der moralischste Konsum ist offensichtlich gar kein Konsum. Verbraucher:innen im engeren Wortsinn dürften im Idealfall gar nicht existieren. Sie müssten sich als Verwender:innen von der Zukunft geliehener Ressourcen verstehen.
Doch wie soll das funktionieren, wenn das so Geliehene sinnloser, frustrierender, hinfälliger Krempel ist? Wie soll das funktionieren, wenn die Herstellung von Krempel belohnt wird?
Der Markt als Wrestlingmatch
Der Herd mit der absurden Bedienung stammt übrigens von AEG, das steht zumindest drauf. Ich weiß nicht, wie viele Verbraucher:innen wissen, dass die Marke nichts mehr mit dem altehrwürdigen Unternehmen zu tun hat, das Emil Rathenau (der Vater von Reichsaußenminister Walther Rathenau) Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin gegründet hat. Die Nutzungsrechte an der Marke werden heute von der Electrolux Global Brand Licensing an unzählige Hersteller lizenziert, die damit ganz unterschiedliche Geräte verkaufen. Damit ist der Sinn und Zweck einer Marke eigentlich hinfällig, nämlich verlässlich anzuzeigen, wer der Hersteller einer Ware ist, damit in der Kundenbeziehung wirklich etwas auf dem Spiel steht: der gute Ruf des Herstellers. Die Marke war mal ein Versprechen, auf die sich die Kundschaft verlassen konnte, sei es bei der Qualität der Ware selbst, beim Kundendienst oder bei der Verfügbarkeit von Ersatzteilen.
Nun ist es offensichtlich, dass es keine hundertjährige Geschichte braucht, um Herde und Waschmaschinen herzustellen. Aber etwas Verlockendes muss an diesen alten Marken dran sein, sonst würden sie nicht wild durch die Gegend verkauft werden. Es ist ein Verblendungszusammenhang, in den sich Industrie und Kundschaft eingesponnen haben: Die Hersteller erzählen uns Märchen nostalgischer Marken und genug Menschen müssen sie aus Mangel an Alternativen glauben. Denn tatsächlich gaukeln die vielen verschiedenen Marken eine Wahlfreiheit vor, die gar nicht existiert. Wenige Hersteller stellen fast identische Produkte her, die mit unterschiedlichen Markennamen versehen werden, aber in vielen Produktkategorien dominieren Oligopole den Markt. Ein Wettbewerb findet oft nur scheinbar statt, tatsächlich aber ist es wie beim Wrestling: Das Gekloppe ist gut abgesprochen, und der Sieger steht schon vorher fest. Wer Küchengeräte von Bosch, Neff, Junker, Siemens, Constructa oder Gaggenau kauft, hat am Ende immer bei der BSH Hausgeräte GmbH gekauft. Bauknecht und Privileg gehören Whirlpool; AEG und Zanussi gehören Electrolux.
Volkswagen treibt das Spiel mit den Marken VW, Audi, Porsche, Seat und Cupra. „Gleichteilestrategie“, „Konzernbaukasten“, „Plattformstrategie“ – es gibt viele Begriffe dafür, die gleichen Dinge an unterschiedliche Kunden zu unterschiedlichen Preisen zu verkaufen. Wenn in einem Luxusauto auf den Lautsprechern „Bang & Olufsen“ prangt, kommen sie in Wirklichkeit von der Firma Harman, die wiederum Samsung gehört (genau so wie die Audiomarken AKG und JBL). Die Fortschrittsperformance, die so tut, als ginge es voran, wird begleitet von einer Wettbewerbsperformance, die so tut, als hätte man eine Wahl. Das Unfassbare an Märkten, die sich an Endverbraucher:innen richten, ist das Scharadenhafte, in dem alle so tun als ob, während der Planet ganz real abbrennt.
Der Schuldige für die ganze Misere steht augenscheinlich fest und er ist übermächtig: So ist das halt im Kapitalismus. Wir leben in einer Welt, die man sich ohne kapitalistischen Antrieb gar nicht mehr vorstellen kann, wie der Kulturwissenschaftler Mark Fisher bereits 2009 in seinem Buch „Capitalist Realism“ schrieb. Nur besonders Hoffnungsfrohe benutzen den Begriff des „Spätkapitalismus“, als stünde der Zusammenbruch unserer Wirtschaftsordnung kurz bevor.
Erklärt „Kapitalismus“, was mit unseren Waren passiert? Auch damit werden wir uns in dieser Reihe beschäftigen. Dazu spreche ich unter anderem mit einem Ingenieur, der in der zentral gesteuerten Wirtschaft des real existierenden Sozialismus Möbel entworfen hat – für eine Fabrik in der Tschechoslowakei. Wir werden über das sozialistische Schlafzimmer im Vergleich zu dem von Ikea sprechen – und über einen schmutzigen Deal mit dem Klassenfeind. Mehr darüber lest ihr in einer der nächsten Folgen der „Verkrempelung der Welt“. Und wenn ihr zufällig in der Industrieproduktion in der DDR gearbeitet habt (oder jemanden kennt, auf den das zutrifft), dann bin ich für eine E-Mail an gabriel@yoran.com sehr dankbar!
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert