Zu sehen ist ein Mann mit getönter Brille.

Politologe Veith Selk © Klaus Mai

Politik und Macht

Interview: Wir erleben keine Krise der Demokratie, sondern ihr Ende

Sie scheitert an ihren eigenen Ansprüchen, sagt Politikwissenschaftler Veith Selk.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

In diesem Jahr stehen weltweit wegweisende Wahlen an – und die Prognosen sind ungünstig: In Indien, der größten Demokratie der Welt, will der Hindu-Nationalist Narendra Modi seine Macht ausbauen. In den USA könnte Trump erneut US-Präsident werden. Und in Deutschland rechnet die AfD damit, bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stärkste Kraft zu werden.

Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Journalist:innen veröffentlichen seit Jahren ihre Diagnosen über die Ursachen des globalen Rechtsrucks. Und Handlungsanleitungen dafür, wie sich die Demokratie angeblich retten lässt. Aber ist das überhaupt möglich?

Nein, sagt der Politikwissenschaftler Veith Selk. Im Herbst veröffentlichte er sein Buch „Demokratiedämmerung“. Darin kommt er zu dem Schluss, dass die liberale Demokratie gerade ihr langsames Ende erlebt. Welche Entwicklungen dahinter stecken und was nach der Demokratie kommen könnte, erklärt er im Interview.


Herr Selk, 2024 stehen weltweit 70 Wahlen an. Autoritäre Politiker:innen und Rechtspopulist:innen dürften die großen Gewinner:innen des Jahres werden. Erleben wir den Anfang vom Ende der liberalen Demokratie?

Erstens: Das ist nicht der Anfang. In den 1980er Jahren setzte die letzte Demokratisierungswelle ein, in der viele Autokratien sich zu Demokratien wandelten. Diese Welle kehrt sich seit einigen Jahren um. Die Zahl der demokratischen Regime geht schon länger zurück.

Zweitens: Wahlen gehören in unserem Verständnis zur Demokratie dazu, aber auch undemokratische Regime wie Russland oder Nordkorea halten Wahlen ab. Man kann also nicht unbedingt darauf schließen, dass es sich bei einem Staat um eine Demokratie handelt, wenn dort Wahlen abgehalten werden.

Drittens: Mit dem Begriff „Demokratie“ beschreiben wir eine Vielzahl von Regimen, die demokratische Eigenschaften haben. Selbst wenn die Zukunft ihren schlimmsten Verlauf nimmt, werden einige von ihnen überleben. Aber ja, ich denke, dass diese Entdemokratisierungswelle nicht enden wird.

Auf der einen Seite sagen Liberale: Autoritäre Rechtspopulist:innen bedrohen die Demokratie und den Rechtsstaat. Auf der anderen Seite argumentieren Rechtspopulist:innen, die liberale Demokratie sei eine Elitenherrschaft. Sie versprechen eine echte „Volksherrschaft“. Sind die Trumps und Alice Weidels dieser Welt das große Problem, oder ist es die liberale Demokratie?

Sowohl als auch. Aus dem Rechtspopulismus kann sich eine antidemokratische Kraft entwickeln, die die Demokratie abwickelt. Wie in Ungarn. Zugleich wenden sich aber auch Teile der Wählerschaft von der Demokratie ab, die nicht unbedingt Rechtspopulisten wählen. Ich beobachte auch eine zunehmende Demokratieskepsis unter Liberalen. Insgesamt gibt es eine wachsende Unzufriedenheit mit der eigenen sozioökonomischen Lage und eine Zunahme des Eindrucks, der Staat könne öffentliche Probleme nicht mehr lösen. Nur noch eine Minderheit der Deutschen ist der Meinung, der Staat könne seine Aufgaben erledigen.

Die Deutschen verlieren seit Jahren ihr Vertrauen in die Demokratie. In einer Studie der Körber-Stiftung gaben im Sommer 2023 mehr als die Hälfte der Befragten an, weniger großes oder geringes Vertrauen in die deutsche Demokratie zu haben. Welche Entwicklungen stecken hinter diesem Vertrauensverlust?

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Zum einen liegt das an einer Eintrübung der Zukunftsaussichten, denn in vielen westlichen Demokratien erwarten viele Menschen keine kollektive Verbesserung mehr für die Zukunft. Zum anderen hat sich die Erzählung, dass Leistung sich lohnt, als eine Ideologie herausgestellt. Viele Leute sagen: Ich habe hart gearbeitet, aber was habe ich denn jetzt davon? Das Ausmaß der Betroffenheit und der Enttäuschung variiert in verschiedenen Ländern, aber die Tendenz ist ähnlich. Eine wachsende Zahl von Menschen blickt zurück und sagt: Die Kompromissformel des demokratischen Kapitalismus hat sich als trügerisch erwiesen.

In anderen Worten: Das Aufstiegsversprechen gilt nicht mehr, die Ungleichheit nimmt zu und immer mehr Menschen haben Angst vor Abstieg und Statusverlust?

Ja, das würde ich schon sagen. Und das trifft auf eine veränderte Weltlage, in der sich die Rahmenbedingungen für die Demokratie verschlechtern. Die geopolitischen Konflikte nehmen zu, zum Beispiel aufgrund der entstehenden Polarisierung zwischen den USA und China und des Kriegs in der Ukraine. Hinzu kommt, dass die unmittelbaren Kosten der Energietransformation sehr hoch sind und die Energiekosten merkbar ansteigen.

Es gibt eine Zahl, die gut illustriert, wie sehr die Weltlage uns überfordert: Der Soziologe Steffen Mau hat in seiner Studie „Triggerpunkte“ herausgefunden, dass 44 Prozent der Deutschen „veränderungserschöpft“ sind. Im Angesicht von Klimakrise, Kriegen, und der Pandemie sagen die Leute: Ich komme nicht mehr mit. Ich kann nicht mehr.

Wenn man das Gefühl hat, es ist sowieso alles zerbrechlich, die Regierung hat das nicht wirklich unter Kontrolle, die Zukunftsaussichten verdüstern sich und jetzt müssen wir auch noch unsere Lebensweise umstellen und die Kosten dafür übernehmen, ist das ungünstig für die Demokratie. Ein Problem ist auch, dass – vereinfacht gesagt – Reiche mehr Macht haben, wenn politische Entscheidungen getroffen werden.

Die ungleiche Verteilung von Geld übersetzt sich in ungleichen politischen Einfluss?

Studien zeigen, dass politische Vorhaben in der Regel nur umgesetzt werden, wenn in der Oberklasse Zustimmung vorherrscht. Ist das nicht der Fall, passiert nichts. Das führt dazu, dass viele politische Vorhaben einen Oberklassen-Bias haben. Das sorgt bei der Durchschnittsbevölkerung natürlich nicht unbedingt für freudige Zustimmung zu Reform-Projekten.

Zustimmung zu politischen Projekten setzt ja auch voraus, dass man sie versteht. Aber eine Mehrheit der Deutschen hat das Gefühl, dass Politik immer komplizierter wird. Was steckt dahinter?

In modernen Gesellschaften gibt es Arbeitsteilung. Die Soziologie hat das später Differenzierung genannt. Die nimmt zu. In anderen Worten: Moderne Gesellschaften sind stark ausdifferenziert, sie haben kein zentrales Steuerungszentrum mehr. Die Politik, vor allem in Demokratien, reagiert darauf auch mit interner Ausdifferenzierung. Sie wird komplizierter. Immer mehr Bereiche unseres Lebens gelten als politisch – und werden reguliert. Auch deshalb wächst der politische Apparat. Die Ministerien, die Verwaltungen wachsen. Aber auch die Bereiche, in denen es politische Bewegungen gibt, die ihre Anliegen in die Öffentlichkeit tragen. Das wird alles differenzierter und komplizierter. Wer das verstehen will, muss sich reinfuchsen, und das ist nicht leicht.

Ein zweites Problem der Unverständlichkeit: Wir haben heutzutage eine Öffentlichkeit, in der sehr viele politische Akteure ihre Wirklichkeitsdeutung durchsetzen wollen. Die Öffentlichkeit ist einerseits ein Raum der Debatte, andererseits aber auch ein Raum der Verwirrung und der Propaganda.

Das ist ein Problem, denn Demokratie setzt voraus, dass die Bürgerschaft einigermaßen weiß, wie die Institutionen funktionieren und was in der Politik so gemacht wird. Schließlich sind die Bürgerinnen und Bürger der zentrale Legitimationsmaßstab der Demokratie.

Müssen Bürger:innen denn immer wissen, was in der Politik passiert?

Manche Demokratietheorien sagen, die Bürger müssen zumindest alle vier oder fünf Jahre bei der Wahl einschätzen können: War das jetzt eine ganz gute Regierung, oder nicht? Soll ich eine andere Partei wählen? Andere Demokratietheorien formulieren höhere Anforderungen an Bürgerkompetenz. Aber für alle Demokratie-Auffassungen ist es ein Problem, wenn Bürgerinnen und Bürger den Durchblick verlieren.

Weil die Bevölkerung, wenn sie keinen Durchblick mehr hat, nicht mehr gleichberechtigt an der Demokratie teilhaben kann?

Ja, weil sie leichter manipuliert werden können. Es kann auch sein, dass Bürger selber merken, dass sie die Politik nicht mehr durchschauen – und dem System dann die Unterstützung entziehen, wenn es im Alltag als ungerecht und dysfunktional erlebt wird.

Ist der Anspruch an die Bürger:innen aber nicht von vornherein ein Konstruktionsfehler der Demokratie? Schließlich wissen wir heute, dass politisches Wissen sehr ungleich verteilt ist. Je höher der Bildungsstand und die Schicht, desto mehr politisches Wissen.

Ein Konstruktionsfehler der Demokratie ist, dass sie politische Gleichheit verspricht, sie aber nicht einlöst. Das gilt auch für Wissen: Wenn ich in der gesellschaftlichen Hierarchie oben bin, bin ich häufiger auch Teil von Netzwerken, die mir Informationen weitergeben. Ich weiß, was läuft. Für Leute außerhalb dieser Netzwerke ist es viel aufwendiger, sich wichtige politische Informationen zu beschaffen. Die bekommen sie nicht einfach automatisch.

Ich fasse mal zusammen: Sie sagen, dass Leistung sich für viele nicht mehr lohnt, die Ungleichheit zunimmt, wir eine zersplitterte Öffentlichkeit haben, Politik immer komplizierter wird und Eliten mehr Einfluss als der Rest der Bevölkerung haben. Hat der Rechtspopulismus in seiner Kritik der Gegenwart dann recht?

Populisten sagen auch Sachen, die stimmen. Die AfD zum Beispiel sagt, dass unsere Demokratie nicht funktioniert, weil die Altparteien sich zu einem Kartell zusammengeschlossen haben und die politische Macht monopolisieren wollen. Das ist an sich nicht ganz falsch. Die Politikwissenschaftler Katz und Meier haben schon 1995 von Kartellparteien gesprochen. Aber die AfD vereinfacht das. Falsch wird es, wenn man, so wie die AfD das tut, alle Demokratieprobleme darauf reduziert und solche Thesen aus ihrem Kontext löst.

Letztlich ist der Rechtspopulismus eine Form von politischer Mobilisierung, die selektiv einige Probleme aufspießt und teilweise richtig trifft, aber isoliert, verallgemeinert und – wie es im politischen Meinungskampf generell üblich ist – für die eigenen Zwecke ausnutzt.

Dieser Zweck ist dann nicht selten eine autoritäre und völkische Politik.

Ja. Allerdings gibt es auch unter Rechtspopulisten Unterschiede. Sie verfolgen nicht alle das gleiche politische Programm. In Deutschland hat die rechtsradikale Strömung in der AfD ziemlich an Oberwasser gewonnen. Aber es gibt auch eine andere Ausrichtung, deren Motto lautet: Zurück zur guten alten Zeit der Bonner Republik! Die letzten Modernisierungsschritte waren nicht gut, wir müssen zurück zum Bonner Modell von Staat und Gesellschaft.

In Polen baut die Regierung von Donald Tusk gerade die illiberale Demokratie zurück, in Israel gingen monatelang Hunderttausende gegen den Justiz-Umbau auf die Straßen, Donald Trump und Jair Bolsonaro wurden abgewählt. Spricht das nicht gegen Ihre These, dass die Demokratie endet?

Wie eingangs erwähnt, werden nicht alle demokratischen Regime untergehen. Meine These ist, dass unsere Konzepte von Demokratie an Plausibilität verlieren, sei es das Konzept der Volksherrschaft, sei es das Konzept der Wahldemokratie. Das liegt auch daran, dass die Rahmenbedingungen für die Demokratie ungünstig sind. Dazu zählt unter anderem auch die Subjektivität der Menschen, die heutzutage eben anders ist als vor 50 Jahren, Stichwort „Individualisierung“. Da kann man nicht erwarten, dass die Demokratie alter Tage zurückkehrt. Das ändert sich auch dann nicht, wenn in Polen die PiS-Partei abgewählt wird oder Trump in den USA verliert.

Warum nicht?

Die Institutionen der Demokratie verlieren an Glaubwürdigkeit. Wenn Trump bei der nächsten Wahl unterliegt oder nicht antritt, dann ändert es nichts daran, dass ein wachsender Teil der Wähler sagen wird: Das System ist ungerecht, verrottet, korrupt. Nur weil bestimmte politische Parteien Wahlen gewinnen, wird das Gesamtsystem von der Bürgerschaft nicht als besser funktionierend wahrgenommen.

Wenn wir nicht zurückkönnen und die Demokratie gerade ihr Ende erlebt: Wie sieht dann die Zukunft aus?

Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Das Alte überzeugt nicht mehr so recht, aber das Neue ist noch nicht da. Einige wollen nachdemokratische, rechtspopulistische Regime wie in Ungarn errichten. Andere hätten gerne, dass Experten herrschen und die Gesetze machen. Zudem formieren sich neue politische Parteien, und es ist nicht abzusehen, welche Folgen das haben wird. Ich glaube, dass viel von politischen Eliten abhängt: Welche Projekte werden sie verfolgen?

Es könnte aber auch sein, dass es ein sehr langes Weiterwursteln gibt. Also eine Abnahme an Stabilität, noch mehr Protest und mehr Anti-System-Parteien, die das System aber nicht wirklich ändern oder umstoßen. Wir wären mit anhaltender Erosion und Unzufriedenheit konfrontiert, ohne dass sich an der Malaise etwas Grundlegendes verändert.


Redaktion: Johannes Laubmeier, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Wir erleben keine Krise der Demokratie, sondern ihr Ende

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