Wenn ich eine alternative Realität besuchen will, öffne ich Tiktok. Dort ist Israel ein zutiefst böser Staat, westliche Medien lügen grundsätzlich und ich bin ein schlechter Mensch, wenn ich mich nicht für Palästina einsetze. In dieser alternativen Realität gibt es Gut und Böse und nichts dazwischen.
Der Hashtag #standwithisrael hat auf Tiktok 500 Millionen Aufrufe, #freepalestine 30 Milliarden, also 60-mal mehr. Auf der Plattform bildet sich ein abgeschlossenes System: Wer sich nur dort informiert, hat unzählige Videos von leidenden Palästinenser:innen gesehen, aber wahrscheinlich kein einziges über die Gräueltaten der Hamas an den Israelis.
Kurze Erklärung für diejenigen, die bisher widerstehen konnten, sich die App herunterzuladen: Tiktok ist eine Plattform für kurze Videos. Früher dominierten Tanzvideos und Lippensynchronisation, heute findet man dort buchstäblich alles, von Kochrezepten bis zu Comedy-Sketchen oder gesellschaftskritischen Kommentaren.
Die Videos über die Situation im Nahen Osten zeigen, wie stark sich auf Tiktok eine nachrichtliche Parallelwelt entfaltet. Sie prägt das politische Verständnis einer ganzen Generation, der Gen Z. Zunehmend bestimmen außenpolitische Themen darüber, wie junge Menschen über Politik denken und wie sie sich engagieren. Und das fernab von klassischen Medien oder anderen sozialen Netzwerken.
Natürlich haben alle sozialen Medien das Potential, Verschwörungsglauben zu verstärken, Facebook genauso wie Telegram oder Instagram. Aber der Algorithmus von Tiktok pusht emotionale Inhalte und Fake News besonders stark. Und die Funktionsweise der App sorgt dafür, dass man von den Inhalten beeinflusst wird, ohne es zu merken.
Eine ganze Generation verliert auch deshalb das Vertrauen in klassische Medien und wird anfällig für Verschwörungserzählungen. Es ist wichtig zu verstehen, wie politische Themen auf Tiktok funktionieren, weil das die Sicht der Gen Z auf die Welt prägt. Und weil sich bei genauerer Betrachtung auch Chancen zeigen, wie Medienberichterstattung vielfältiger werden könnte.
Verschwörungsmythen sind unter jungen Menschen besonders verbreitet
Mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland nutzen jeden Monat Tiktok. Das ist ein Viertel der Bevölkerung. Gerade jüngere Menschen informieren sich kaum noch mit klassischen journalistischen Angeboten, stattdessen bleiben sie über Tiktok auf dem Laufenden. Laut einer Untersuchung des Leibniz-Instituts für Medienforschung ist das bei einem Drittel der 14- bis 24-Jährigen der Fall, unter Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren sind es sogar 45 Prozent.
Nina Kolleck, eine Bildungsforscherin und Politologin, sagt: „Ich denke, der Einfluss von Tiktok wird massiv unterschätzt.“
Wenn eine 16-Jährige wissen will, warum es im Nahen Osten einen Krieg gibt, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich diesen langen Krautreporter-Artikel zur Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts durchliest. Viel eher wird sie Tiktok öffnen und in die Suchleiste „Israel Palästina Erklärung“ eingeben. Dann wird sie sich einige Videos dazu ansehen, in denen Creator:innen in wenigen Minuten ihre Sicht auf den Krieg darlegen.
Die Folgen dieser Entwicklung sind bereits messbar: Wie eine repräsentative Befragung unter Deutschen zum Krieg gegen die Ukraine ergab, sind Verschwörungsmythen unter jungen Menschen besonders verbreitet. Zum Beispiel stimmten zehn Prozent der 16- bis 29-Jährigen der Aussage zu, dass der Krieg in der Ukraine notwendig sei, um die dortige faschistische Regierung zu beseitigen. Unter der gesamten erwachsenen Bevölkerung waren nur 4,7 Prozent dieser Ansicht.
Auch das Vertrauen in die Medien ist unter jungen Menschen geringer. So stimmte fast ein Drittel der Befragten im Alter von 16 bis 29 Jahren der Aussage zu, dass man westlichen Medien nicht mehr trauen könne, wenn sie über den Krieg in der Ukraine berichten. Unter der gesamten erwachsenen Bevölkerung stimmten nur 14 Prozent dieser Aussage zu, also halb so viele.
Diese Zahlen decken sich mit der Untersuchung des Leibniz-Instituts für Medienforschung, der zufolge junge Menschen klassische Medien stark kritisieren. Sie wünschen sich vom Journalismus eine neutrale Darstellung, Meinungsvielfalt, Verständlichkeit und Begegnung auf Augenhöhe – sehen diese Kriterien aber viel eher bei Tiktok erfüllt.
Konkret hört sich das zum Beispiel so an: „Wenn ich noch einmal höre, dass Tiktok keine vertrauenswürdige Quelle ist, aber die deutschen Medien schon ganz genau wissen, was die Wahrheit ist … Ich hab die Schnauze voll“, sagt diese Creatorin, die Videos über Esoterik und Palästina macht. Sie schlägt vor, man solle Nachrichten schauen und diese nebenher auf Tiktok überprüfen.
„Da rollt ganz schön was auf uns zu“
Tiktok hat zwei Besonderheiten, die die Plattform besonders anfällig für Fake News machen. Erstens haben Videos auf Tiktok ein hohes Viralitätspotential. Das bedeutet, dass man sich nicht wie in anderen sozialen Netzwerken mühsam Reichweite aufbauen muss. Stattdessen kann potentiell auch ein Video von einem Creator mit wenigen Followern Hunderttausende oder gar Millionen Aufrufe bekommen. Dabei hilft: Emotionalität.
Zweitens fördert Tiktok eine „passive Konsumhaltung“. Das hat mir die Bildungsforscherin und Politologin Nina Kolleck gesagt. Auf Tiktok schauen die meisten Nutzer:innen Videos an, doch die wenigsten erstellen auch welche. Anders formuliert: Tiktok ist eher wie Netflix als wie Facebook. Die Videos, die einem angezeigt werden, stammen so gut wie nie von Freund:innen oder Bekannten. Stattdessen spielt der Algorithmus ein Video nach dem anderen ab, das einem wahrscheinlich gefällt.
„Die Jugendlichen verbringen mehr Zeit mit dem reinen Konsum von Inhalten und werden quasi en passant von verschwörungstheoretischen Inhalten beeinflusst“, sagt Kolleck. Denn wer nur passiv zuschaue, aber nichts aktiv beitrage, hinterfrage die Inhalte nicht kritisch. Die kurzen Videos seien gut darin, Emotionen zu setzen und einen unbewusst zu beeinflussen. „Da rollt ganz schön was auf uns zu“, sagt Kolleck.
Diese passive Haltung zeigt sich auch daran, wie sich Nutzer:innen auf der Plattform für bestimmte Themen engagieren: Es ist üblich, in einem Video, dessen Inhalt man wichtig findet, die Uhrzeit zu kommentieren. So sammeln sich unter einem Video schnell die Kommentare und erhöhen die Reichweite.
Häufig fordern Creator:innen ihre Zuschauer:innen auf, einen bestimmten Sound oder Filter zu verwenden. Denn Tiktok bezahlt Creator:innen, die Filter, kleine Spiele oder Sounds erstellen. Je mehr andere Nutzer:innen diese Sounds und Filter wiederverwenden, desto mehr Geld bekommen die Ersteller:innen. Viele Menschen benutzen also gezielt Filter und Sounds, um Menschen aus einem bestimmten Land finanziell zu unterstützen – und das, ohne ihnen Geld zahlen zu müssen. „Du sitzt einfach da, entspannst dich und nutzt einen Sound oder Filter. So einfach ist das!“, sagt dieser Creator in einem Video. Tatsächlich muss man nicht kreativ sein, der Sound kann zum Beispiel einfach unter ein Selfie oder das Bild von einer Kaffeetasse gelegt werden.
Es ist die denkbar einfachste Art, um das Gefühl zu bekommen, etwas Gutes getan zu haben: Man muss nichts schreiben oder sagen, man muss keine Meinung formulieren, man muss kein Geld spenden, man muss das Haus nicht verlassen und nicht einmal das Handy aus der Hand legen.
Darum sind außenpolitische Themen auf Tiktok so relevant
Eine, die vertrauenswürdige Nachrichten auf Tiktok macht, ist Esra Karakaya. Sie ist Journalistin und Gründerin des Medienunternehmens „Karakaya Talks“. Auf Tiktok behandelt sie in kurzen Videos aktuelle politische Themen, zum Beispiel das Deutschlandticket oder die Entsorgung von Plastikmüll. 35.000 Menschen folgen ihr dort. In einem großen Teil ihrer Videos geht es um Themen, die sich in anderen Ländern abspielen: Raubkunst aus Nigeria, Giftgasanschläge in Marokko oder der Machtkampf im Sudan zwischen dem Machthaber Abdel Fattah Abdelrahman Burhan und der Paramiliz Rapid Support Forces.
Als ich sie in einem Telefongespräch danach frage, ist Karakaya überrascht, denn so richtig war ihr nicht klar, dass ihr Tiktok-Kanal proportional mehr Auslandsthemen behandelt als zum Beispiel eine klassische Tageszeitung. „Wir sind kein Mainstream-Medium“, erklärt sie dann. Und ihr sei klar: „Heutzutage ist das, was in Berlin passiert, nicht mehr zu trennen von dem, was in Hongkong oder Sao Paulo passiert. Wir denken global.“
Sie und ihr Team wählen die Themen danach aus, was sie und ihre Zuschauer:innen gerade bewegt. Zum Beispiel kennen ihre Teammitglieder Menschen aus dem Sudan. Und eine Zuschauerin schlug das Thema über die Giftgasanschläge in Marokko vor. „Wir erreichen viele Menschen aus der Diaspora in Deutschland, die Bezüge in unterschiedliche Länder haben“, sagt Karakaya.
Das ist ein wichtiger Punkt: Ein Viertel aller Deutschen hat einen Migrationshintergrund, doch diese Menschen sind in den Medien unterrepräsentiert. Nicht jede:r kann ein Studium, drei Praktika und eine journalistische Ausbildung machen, um dann einen Artikel über den Sudan zu schreiben. Aber jede:r kann drei Minuten etwas erzählen, sich dabei aufnehmen und das Video auf Tiktok hochladen. Die Plattform hat es einfacher gemacht, Themen anzusprechen, für die es einen Bedarf gibt – aber wenig Berichterstattung. Durch das Viralitätspotential können diese Creator:innen mit ihren Themen potentiell viele Menschen erreichen.
Laut der Untersuchung des Leibniz-Instituts über den Medienkonsum junger Menschen, haben diese häufig den Eindruck, dass über bestimmte Themen zu viel berichtet wird, während andere, wichtigere Themen verschwiegen werden. Viele der Befragten fanden, dass die eigene „herkunftsbezogene Identität nicht ausreichend repräsentiert“ wird.
In der Gen Z gibt es ein wachsendes Bewusstsein für Themen wie Rassismus, damit verbunden auch für Kolonialismus und Genozid. Das sind Themen, die in herkömmlichen Medien zwar auch behandelt werden – doch anscheinend nicht ausreichend, um junge Menschen zufriedenzustellen.
Im Kongo geschieht eine humanitäre Katastrophe. Auf Tiktok geht das Thema viral, doch klassische Medien berichten kaum darüber
Die Demokratische Republik Kongo ist reich an Rohstoffen, zum Beispiel Coltan, das für Elektronik verwendet wird. Trotzdem ist es eines der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt. Seit 1996 starben dort rund sechs Millionen Menschen. Vergangenes Jahr flammten Kämpfe zwischen der kongolesischen Armee und der Rebellengruppe M23 auf, fast sieben Millionen Menschen sind auf der Flucht. Es ist eine Katastrophe. Eine Katastrophe, die westliche Medien kaum beachten, die aber auf Tiktok millionenfach Views, Likes und Kommentare generiert.
Unzählige Creator:innen äußerten sich dazu, zum Beispiel Lizzie, eine 22-jährige Influencerin. In diesem Video weint sie und sagt: „In Kongo findet ein Völkermord statt.“ Das Video hat 850.000 Likes und ist eines von unzähligen zu diesem Thema auf Tiktok. Der Hashtag #congo hat sieben Milliarden Aufrufe, #congogenocide fast 50 Millionen.
Und auch verschiedene Nachrichtenformate auf Tiktok griffen das Thema auf: Accounts wie „Willkommen Zuhause“ oder „Die Chefredaktion“, auch „Karakaya Talks“. Sie erreichen mit ihren Videos Hunderttausende. In deutschen Medien wird dagegen kaum über die Lage im Kongo berichtet, auch in internationalen Medien nicht. Der erste Artikel der New York Times erschien im Dezember – Monate, nachdem die ersten Tiktoks dazu schon Millionen Likes bekamen.
Auf Tiktok bildet sich eine Parallelwelt, in der Creator:innen Fakten verdrehen oder Halbwahrheiten verbreiten. Keine Frage, das ist gefährlich. Doch dank der Plattform bekommen plötzlich Themen Aufmerksamkeit, die in klassischen Medien häufig als Randnotiz behandelt werden. Deshalb weiß so mancher Teenie möglicherweise besser über die Situation im Kongo oder Sudan Bescheid als seine Eltern.
Tiktok ist nicht nur eine alternative Realität, in der Verschwörungsmythen kursieren. Für viele junge Menschen ist es eine Plattform, die ihnen eine breitere Realität zeigt. Die Realität von anderen Ländern, die in den Videos ganz nah heranrückt.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert