Eine Collage verschiedener Polaroids aus der KR-Redaktion.

©Martin Gommel

Gute Nachrichten

Wir haben unsere Arbeitsweise radikal verändert

Keine Chefredaktion, keine klassischen Hierarchien, keine Beförderungen, keine Gehaltsverhandlungen. Stattdessen: selbstorganisiert, in Teams und mit Rollen. Und das geht so.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Schon mal ohne Chefs gearbeitet? Wir machen das jetzt. Seitdem herrscht bei uns pures Chaos. Die Artikel erscheinen nur noch zufällig, und neulich war ein unrasierter Typ hier, den wir erst auf den zweiten Blick als den Kollegen Philipp erkannten. Statt über Bildung zu schreiben, teste ich jetzt Burger- und Pizzarestaurants in Berlin. Und erst letzte Woche hat unsere Designerin unser Magazin einfach umbenannt.

Na schön, das war gelogen. Tatsächlich funktioniert es. Besser als wir es selbst für möglich gehalten hätten. Vielleicht liegt es daran, dass das Arbeiten ohne Chefetage für Krautreporter wie eine Reise in die eigene Vergangenheit ist.

Als wir uns vor fast zehn Jahren gegründet haben, war der Start ziemlich holprig. Die ursprüngliche Idee der Gründer Sebastian Esser, Philipp Schwörbel und Alexander von Streit war es, etablierten Autor:innen eine journalistische Heimat zu geben, mit guten Arbeitsbedingungen, unabhängig, ohne Werbung. Aber: Es fehlte eine klare Struktur für die Zusammenarbeit. Das hat nicht sonderlich gut funktioniert. Manche Autor:innen aus dem relativ großen Kreis veröffentlichten ständig, andere kaum.

Stefan Niggemeier, einer der prominentesten Gründungsautor:innen, stieg nach einem Jahr aus. Damals schrieb er: „Uns trieb die Lust an, ein neues Geschäftsmodell auszuprobieren, aber nicht unbedingt eine gemeinsame redaktionelle Idee. Wir taten uns schwer damit, zu definieren, worüber wir berichten wollen und wie.“

Ungefähr zur gleichen Zeit wurde das redaktionelle Konzept umgestellt. Es entstand eine kleine Redaktion, mit einer Chefredaktion, wie es bei anderen Magazinen und Medien Standard ist. Die Struktur von Krautreporter wurde immer professioneller: Neben Chefredaktion kam die stellvertretende Chefredaktion dazu, ein Textchef, später ein Social-Media-Chef. All das ist heute Geschichte.

Warum wir uns dazu entschieden haben, erklären wir in einem zweiten Artikel in der kommenden Woche. Hier bekommt ihr einen detaillierten Einblick, wie unsere Zusammenarbeit jetzt aussieht. Nämlich: komplett anders als früher. Selbstorganisiert, agil und in Teams. Damit das nicht nur Buzzwords bleiben, erkläre ich, was es damit auf sich hat: Wie wir Entscheidungen treffen, welche Meetings wir dafür brauchen und warum wir alle paar Wochen im Stuhlkreis sitzen und über unsere Gefühle reden. Aber auch, welche Vorteile das alles hat – und welche Nachteile.

The Circle of Krautreporter

Zunächst der vielleicht radikalste Schritt: Es gibt innerhalb der Redaktion keine klassischen Hierarchien mehr. Keine Chefredaktion, keine Textchefin, keinen Social-Media-Chef. Es gibt auch nicht mehr eine einzige große Redaktion, die sich einmal pro Woche zur Wochenkonferenz trifft, um Themen zu besprechen. Stattdessen arbeiten wir in drei sogenannten Sprintteams mit jeweils drei festen Redakteur:innen. Eigentlich wollten wir uns coole Namen für diese Teams ausdenken, aber bis heute heißen sie einfach nur: Team A, Team B und Team C. (Vorschläge bitte in die Kommentare.)

Die Sprintteams arbeiten in einem Drei-Wochen-Zyklus. Das heißt, jedes Team ist jede dritte Woche dafür zuständig, welche Artikel auf krautreporter.de erscheinen. Die erste Woche dieses Zyklus ist fürs Recherchieren vorgesehen, dabei beteiligen wir immer wieder die Krautreporter-Community. In der zweiten Woche schreiben wir auf, was wir herausgefunden haben und redigieren uns gegenseitig. In der dritten Wochen werden die Artikel produziert und veröffentlicht. Danach geht der Zyklus wieder von vorne los.

Die Hierarchie und Führung ist jetzt auf das ganze Team verteilt

In unserem alten System war die Arbeit klar aufgeteilt: Die Reporter:innen schrieben ihre Artikel und ihre Newsletter. Die Chefredakteurin hat in letzter Instanz zusammen mit der stellvertretenden Chefredakteurin und der Textchefin entschieden, welche Themen wir bearbeiten und welche wir bei freien Journalist:innen in Auftrag geben. Sie haben Deadlines festgelegt, die Artikel redigiert und uns Reporter:innen den Rücken freigehalten.

Da es heute keine Chefredaktion mehr gibt, entscheiden die Teams selbstständig, welche Artikel sie schreiben und welche sie in Auftrag geben. Das machen sie aber nicht beliebig. In unseren Entscheidungen orientieren wir uns an klassischen journalistischen Auswahlkritierien, aber auch an der KR-Community. Unsere Leitfragen sind unter anderem: Können wir Hintergrundtexte zu einem Nachrichtenthema beitragen? Gibt es großen Erklär-Bedarf? Wie sehr interessiert sich unsere Community für ein Thema? Welche Nische können unsere Reporter:innen in ihrem Fachgebiet besetzen?

Unsere Arbeitsweise ist dabei nicht komplett hierarchiefrei – und das ist gewollt. Hierarchie, Führung und Aufgaben sind nur nicht mehr an einzelne Personen gebunden, sondern über das ganze Team verteilt.

Jede Person besetzt dafür verschiedene sogenannte Rollen gleichzeitig. Sie kann nach Bedarf neue Rollen dazubekommen oder auch abgeben. Ich zum Beispiel besitze derzeit folgende Rollen: Ich bin Reporter, schreibe also Artikel und Newsletter, ich arbeite außerdem als Redakteur, redigiere also Texte von anderen und gebe Texte bei Freien in Auftrag. In meinem Team bin ich zuständig für die Beteiligung der Mitglieder, fungiere als Teil des Coaching-Teams und führe mit Kolleg:innen Feedback- und Zielgespräche. Und ich habe alle drei Wochen Produktionsdienst. Ganz schön viele Aufgaben, wenn man bedenkt, dass ich früher nur recherchieren und schreiben musste – aber dazu gleich mehr.

Hast du ein Problem? Nein, eine Spannung

Damit wir sowohl im Team als auch teamübergreifend zusammenarbeiten können, muss klar sein, wie Entscheidungen getroffen werden. Das wiederum kommt ganz darauf an, wie groß eine Entscheidung ist und wie viele Kolleg:innen von dieser Entscheidung betroffen wären. Zunächst einmal gilt der gleiche Grundsatz wie bei Rückenproblemen: Wenn du eine Spannung spürst, bist du selbst dafür verantwortlich, sie zu lösen. (Oder zumindest zum Physiotherapeuten zu gehen.)

Was Spannungen sind? Sie können alles sein. Zum Beispiel: Wie genau machen wir Fact-Checking? Oder: Wer kümmert sich um die Neugestaltung der Newsletter? Oder auch: Brauchen wir eine zusätzliche Person im Coaching-Team? Dass ich selbst für meine Spannungen verantwortlich bin, heißt nicht, dass ich auf mich allein gestellt bin. Ich muss nur dafür sorgen, dass die anderen von meiner Spannung erfahren und im besten Fall auch einen Vorschlag machen, wie man sie lösen könnte.

Wer eine Spannung hat, muss sich zu Beginn eine Frage stellen: Wen betrifft diese Spannung? Wenn sie nur mich betrifft, muss ich prinzipiell niemanden um sein Einverständnis bitten, ich sollte aber diejenigen nach Rat fragen, die mir helfen könnten. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ich finde den Namen meines Newsletters „The Kids Are Alright“ plötzlich total bescheuert. Ich finde nicht mehr, dass die Kids alright sind und möchte meinen Newsletter stattdessen „Diese elenden Jugendlichen“ nennen. Eigentlich betrifft diese Spannung nur mich. Es gibt aber Menschen in der Redaktion, die sich ziemlich gut mit Newslettern auskennen. Mit diesen Menschen sollte ich sprechen, ich sollte mir ihren Rat holen. Also würde ich zu Rico Grimm gehen, unserem Newsletter-Beauftragten, und ihm von meiner Idee erzählen. Rico würde dann wahrscheinlich sagen, dass diese Idee erstaunlich schlecht ist.

Diesen Rat kann ich annehmen – oder auch nicht. Entscheiden muss ich am Ende selbst (deshalb heißt die Arbeitsweise „selbstorganisiert“).

In welchem Raum befinden wir uns gerade?

Wenn meine Spannung nicht nur mich, sondern alle oder viele in der Redaktion betrifft, muss ich nicht von Person zu Person rennen. Ich kann sie in einem der großen Meetings einbringen. Und die funktionieren so:

Jeden Donnerstag treffen sich alle Mitarbeiter:innen von Krautreporter zum großen Meeting. Jedes dieser Meetings findet in einem von drei sogenannten Räumen statt. Man muss sich diese Räume nicht als wirkliche physische Räume in der Redaktion vorstellen. So viel Platz haben wir leider nicht. Sie sind eher eine Gedankenstütze, um zu entscheiden, welche Spannungen wann besprochen werden.

Diese Räume sind:

  • der Steuerungsraum
  • der operative Raum
  • und der Beziehungsraum.

Findet ein Meeting im Steuerungsraum statt, geht es darum, an der Struktur von Krautreporter zu arbeiten. Es werden neue Rollen eingeführt, besetzt, Regeln beschlossen und eingeführt. Im operativen Raum geht es darum, wie wir bei Krautreporter arbeiten. Es werden Kennzahlen besprochen; die Teams geben Updates von ihrer Arbeit; wir entscheiden, welche Fortbildungen wir brauchen. Im Beziehungsraum geht es ausschließlich um Zwischenmenschliches: Was sollten die anderen über mein Wohlbefinden wissen? Mit wem hatte ich einen Konflikt? In welcher Situation habe ich mich unwohl gefühlt?

Tatsächlich setzen wir uns für unsere Beziehungsraums-Meetings in einen Kreis und besprechen zwischenmenschliche Konflikte miteinander. Damit wir uns dabei nicht mit Stühlen bewerfen, haben wir alle eine Fortbildung in gewaltfreier Kommunikation gemacht.

Es hilft uns, Spannungen diesen Räumen zuzuordnen, da wir Anliegen im besten Fall so nicht vermischen. Zwischenmenschliche Konflikte sollen sich nicht auf sachliche Auseinandersetzungen auswirken, Zuständigkeiten sollen klar bleiben. Nur: Wie genau treffen wir Entscheidungen im ganzen Team?

Is it safe enough to try?

Spannungen, die die gesamte Redaktion betrifft, sollten im großen Meeting besprochen werden. Der Ablauf ist dabei immer gleich: Wer eine Spannung einbringen möchte, schreibt sie in eine Tabelle, in der wir alle Spannungen sammeln. Wir tragen ein, in welchem Raum wir diese Spannung besprechen möchten und welche Intensität die Spannung hat (1 = nicht dringend; 10 = super dringend). In den Meetings gehen wir dann die Spannungen der Intensität nach durch. Zunächst stellen die Spannungsinhaber:innen ihre Spannung vor – falls vorhanden, direkt mit dem Vorschlag, wie man diese Spannung lösen könnte.

Damit keine wilde und ziellose Diskussion beginnt, in der die Lauten sich durchsetzen und die Ruhigeren nicht gehört werden, gibt es zunächst eine Runde, in der alle ihre Verständnisfragen stellen können. In dieser Runde geht es nur darum, ob alle die Spannung und den Lösungsvorschlag verstanden haben. Erst wenn alle Fragen geklärt sind, gibt es eine Meinungsrunde: Jede:r kann einmal seine oder ihre Meinung zu dem Vorschlag äußern. Anschließend hat der oder die Spannungsinhaber:in die Möglichkeit, seinen Vorschlag anzupassen (man kann aber auch beim ursprünglichen Vorschlag bleiben).

Grafische Darstellung, wie wir Entscheidungen treffen: 1. Jemand macht einen Vorschlag, 2. Verständnisfragen, 3. Meinungsrunde, 4. Vorschlag kann angepasst werden, 5. Is it safe enough to try?

Bevor der Vorschlag beschlossen ist, gibt es noch eine letzte Runde. Die Moderation fragt, ob jemand ein schwerwiegendes Bedenken gegen diesen Vorschlag hat. Dabei stellen sich alle Teilnehmer:innen die Frage: Is it safe enough to try? Also: Ist dieser Vorschlag sicher genug, um ihn einfach mal auszuprobieren oder fliegt uns der Laden dann um die Ohren? Trägt niemand ein schwerwiegendes Bedenken vor, ist der Vorschlag angenommen.

Genau so ist übrigens dieser Text entstanden. Ich habe in einem Meeting im operativen Raum die Spannung eingebracht, dass wir meiner Meinung nach als mitgliederfinanziertes Medium auch nach außen transparent kommunizieren sollten, wenn wir so viel an unserer Arbeitsweise ändern. Es gab Verständnisfragen, eine Meinungsrunde, ich habe meinen Vorschlag angepasst und da es kein schwerwiegendes Bedenken gab, machte ich mich ans Schreiben dieses Artikels.

Welche Vorteile das alles hat – und welche Nachteile

Arbeiten in 10 Jahren alle Redaktionen so, wie wir es jetzt tun? Keine Ahnung. Arbeiten wir dann noch so? Mag sein. Wie jedes System hat auch unsere neue Arbeitsweise Vor- und Nachteile. Nach einem halben Jahr im neuen System habe ich deshalb meine Kolleg:innen gefragt, was gut funktioniert und was nicht.

Ein klarer Vorteil: In kleinen Teams arbeitet man enger zusammen, man tauscht sich mehr aus. Wer motiviert ist, kann sich im neuen System viel einbringen, unabhängig von der Position. Die Verantwortung für Krautreporter wird geteilt, alle Mitarbeitenden tragen das Projekt und die einzelnen Entscheidungen gemeinsam.

Das Schwierigste ist, bei den vielen verschiedenen Aufgaben den Überblick zu behalten und nicht das aus dem Auge zu verlieren, wofür wir die meiste Zeit aufwenden sollten: gut recherchierten Journalismus. Es gibt niemand Verantwortliches, an den man sich wenden kann in letzter Instanz; niemanden, der schnell ein Problem löst, wenn das System es nicht kann. Als im Dezember die Hälfte (!) der Redaktion mit Corona krank im Bett lag, hätten wir eine Chefredaktion, die die Fäden in der Hand hat, wahrscheinlich gut gebrauchen können.

Einmal habe ich einem guten Freund von unserer neuen Arbeitsweise erzählt. Seine Reaktion war: „Das klingt ja alles cool, aber wenn ich mal zusammenfassen muss: Ihr habt jetzt alle deutlich mehr Aufgaben und Verantwortung als vorher, bekommt aber das gleiche Gehalt?“

Mein Freund hatte einen Punkt. Diese Diskussion gab es auch innerhalb der Redaktion. Unter anderem deshalb wurden die Gehälter von allen Mitarbeiter:innen zum Januar um acht Prozent erhöht. Der Mehraufwand aber bleibt und ist auch die größte Gefahr dieses neuen Systems: Wenn es keine Chefetage gibt, kümmert sich auch niemand qua Position darum, dass du dich nicht in den Burnout arbeitest.

Gleichzeitig liegt hier auch die größte Stärke des Systems: Wenn der Redaktion die Arbeit zu viel wird, wenn sie mit bestimmten Abläufen nicht mehr zurechtkommt, wenn sie lieber wieder zum alten System zurückkehren möchte oder sich in Sauerkrautreporter umbenennen möchte – dann kann jede:r Spannungen einbringen und dafür sorgen, dass genau das passiert.

Während ich diese letzten Zeilen schreibe, bereiten mehrere Kolleg:innen gerade einen Vorschlag vor, bei dem es darum geht, die Anzahl der Teams von drei auf zwei zu reduzieren.

Is it safe enough to try? Wahrscheinlich schon.


In der Kommentarspalte beantworten wir alle Fragen, die ihr zu unserer neuen Arbeitsweise habt: offen und ehrlich. Außerdem überlegen wir derzeit, ob wir eine eigene Newsletter-Reihe zu unserer Arbeitsweise starten sollen. Dort würden wir genauer erklären, wie die Meetings ablaufen, wie wir Rollen besetzen und welche Regeln wir uns gegeben haben. Wenn sich genug Menschen für diesen Newsletter interessieren, bringen wir ihn an den Start. Hier kannst du dich eintragen, wenn du den Newsletter lesen möchtest.

Krautreporter ist ein Magazin, das auf Tiefe und Einordnung setzt. Unsere Arbeit finanzieren wir durch zahlende Mitglieder. Sie entscheiden mit uns, welche Themen wir als nächstes bearbeiten. Regelmäßig ziehen wir sie als Expert:innen zu Rate. Dank unserer Mitglieder bleibt Krautreporter unabhängig – frei von Werbung, Sponsoren und Agenda. Willst du unabhängigen Journalismus unterstützen? Werde Mitglied.

Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.

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