Der Erfinder des Begriffs Genozid reiste in den 1930ern jahrelang mit einem Koffer voller Papier um die Welt. Raphael Lemkin, ein polnisch-jüdischer Jurist, wollte verstehen, wie die Nazis ihre Herrschaft durchsetzten. Dafür sammelte Lemkin Nazi-Erlasse: Anordnungen, die in Nazi-Deutschland galten, ohne dass der Reichstag zustimmen musste. Lemkin übersetzte, kategorisierte und analysierte diese Erlasse. So glaubte er ein Muster, einen genau durchdachten Plan der Nazis zu erkennen.
Lemkin hatte ein Ziel: Die Vernichtung einer ganzen Gruppe sollte strafbar werden. Er selbst verlor fast seine gesamte Familie im Holocaust. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erarbeitete er für die UN einen Gesetzentwurf für die Bestrafung von Völkermord. Damals waren viele Jurist:innen von Lemkins Ideen nicht gerade begeistert, sie kritisierten Lemkins Fokus auf Gruppen als Opfer. Doch Lemkin ließ nicht locker.
Wir haben es seiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass wir inzwischen über den Begriff des Genozids debattieren können. Heute beschuldigen manche Israel, den einzige jüdischen Staat der Welt, eines Völkermords an den Palästinenser:innen. Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober bombardiert Israel den Gazastreifen, täglich sterben dort Zivilist:innen. Andere finden den Genozidvorwurf antisemitisch, immerhin habe Israel das Recht, sich selbst zu verteidigen.
Das Wort Genozid ist hier zu einem Kampfbegriff geworden, einem Begriff, dessen Definition immer weiter verschwimmt. Ihn zu verstehen, kann Orientierung bieten. Aber je länger ich mich damit beschäftigt habe, was einen Genozid ausmacht, desto klarer wurde mir: Diese Frage scheint wichtig, führt jedoch in die Irre. Denn eigentlich geht es denjenigen, die Israel einen Genozid vorwerfen, um etwas anderes.
Die einen sehen Genozid, die anderen wittern Täter-Opfer-Umkehr
Anfang Dezember zog eine Demonstration mit dem Titel „Stoppt den Genozid in Gaza“ durch Berlin-Mitte. Im November schrieben mehrere UN-Expert:innen in einer Pressemitteilung: „Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass das palästinensische Volk von einem Völkermord bedroht ist.“ Und Raz Segal, ein israelischer Historiker, erklärte in dem amerikanischen und linken Magazin „Jewish Currents“, dass sich in Gaza ein „Textbook Case of Genocide“ entfalte, also ein „Genozid nach Lehrbuch“.
Die andere Seite kritisiert diesen Vorwurf heftig. Der Antisemitismusbeauftragte Bayerns Ludwig Spaenle, bezeichnete den Genozidvorwurf als „blanken Judenhass“. Der Historiker Manfred Kittel erklärte in einem Interview, dass Israel keinen Genozid an den Palästinenser:innen begehe und spricht sogar von einer „Täter-Opfer-Umkehr in ihrer übelsten Form“, weil schließlich die Hamas jüdisches Leben ausrotten wolle. Und der Jurist und Professor an der Harvard Law School, Noah Feldman, warnte davor, dass das humanitäre Völkerrecht ausgehöhlt werden könnte, wenn Begriffe wie Genozid nicht korrekt verwendet werden.
Hier sind wir auch schon bei einem der grundlegenden Probleme dieser Debatte. Genozid ist ein juristischer Begriff mit einer sehr genauen Definition. Aber Jurist:innen sind bei weitem nicht die einzigen, die ihn nutzen, er prägt die öffentliche Debatte. Völkermord gilt als Maximum des Bösen. Würde man auf der Straße wahllos eine Person ansprechen und fragen: Was ist das schlimmste Verbrechen überhaupt? Dann würde die Person wahrscheinlich antworten: Genozid.
Dazu kommt noch, dass die Debatte über einen Genozid durch Israel in Deutschland besonders emotional aufgeladen ist. Kaum etwas formt die deutsche Identität so sehr wie das Bewusstsein, dass Nazi-Deutschland sechs Millionen Jüd:innen ermordet hat. „Nie wieder“ ist zu einer Beschwörung geworden, die Politiker:innen, Künstler:innen oder Demonstrierende wiederholen. In der Politik gilt das Existenzrecht Israels als deutsche Staatsräson.
In der öffentlichen Debatte hat niemand die alleinige Deutungshoheit über den Genozidbegriff. Auch Historiker:innen, Politiker:innen oder UN-Mitarbeiter:innen greifen auf ihn zurück. Das führt jedoch dazu, dass jede:r den Begriff ein wenig anders interpretiert – und letztendlich unklar ist, was jemand meint, wenn er oder sie von einem Genozid spricht.
Die juristische Definition ist eng – deshalb kommt es fast nie zu Gerichtsurteilen
Besonders relevant ist die juristische Definition, nur ihr folgen strafrechtliche Konsequenzen. Sie geht zurück auf die UN-Völkermordkonvention von 1948. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat diese Definition wortgleich in die eigene Rechtsgrundlage übernommen. Darin ist Genozid als eine Handlung definiert, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“
Diese Definition enthält drei wichtige Punkte: Es muss eine Absicht bestehen, eine Gruppe, die national, ethnisch, rassisch oder religiös definiert ist, ganz oder teilweise zu zerstören. Gruppen, die nicht in eine dieser Sparten fallen – zum Beispiel Frauen, queere Menschen oder politisch Verfolgte – können laut der juristischen Definition keinem Genozid zum Opfer fallen.
In der UN-Konvention ist erklärt, auf welche Weise ein Genozid verübt werden kann. Einer oder mehrere dieser Punkte müssen erfüllt sein:
- Die Mitglieder der Gruppe werden getötet.
- Personen aus der Gruppe erfahren schweren körperlichen oder seelischen Schaden.
- Der Gruppe werden absichtlich zerstörerische Lebensbedingungen auferlegt.
- Es werden Maßnahmen verhängt, die Geburten verhindern sollen.
- Kinder werden gewaltsam in eine andere Gruppe überführt.
Der Knackpunkt steckt in dem Wort Absicht, denn sie nachzuweisen, ist schwer. Es reicht nicht als Beweis, dass viele Zivilist:innen sterben, vielmehr geht es um die Intention der Täter:innen: Nur wenn die Taten mit dem Ziel begangen wurden, die ganze Gruppe zu vernichten, handelt es sich um Genozid.
Wenn Täter:innen zum Beispiel Frauen aus einer Gruppe zwangssterilisieren, Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser verwehren oder Kinder entführen, können das Hinweise auf einen Genozid sein. Sie allein reichen aber nicht als Beweis. Raphael Lemkin sammelte deshalb so akribisch die Nazi-Erlasse, weil er im Gesamtbild die Vernichtungsabsicht erkennen konnte. Fünf menschenfeindliche Erlasse hätten ihm nicht gereicht, es brauchte hunderte.
Die Zahl der Todesopfer ist nicht ausschlaggebend, auch wenn das zynisch klingt. So können viele Zivilist:innen umgebracht werden, ohne dass es sich um einen Genozid handelt. Zum Beispiel töteten die USA mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 hunderttausende Menschen und begingen damit zwei der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Ein Genozid war das jedoch nicht, weil die USA nicht die Intention hatten, alle Japaner:innen auszulöschen.
Durch diese enge Definition kommt es zu einer paradoxen Situation. Auch wenn das Wort Genozid in vielen Debatten allgegenwärtig ist, bestätigen Gerichte das so gut wie nie. Es gibt nur drei Fälle, in denen Genozide zu Gerichtsurteilen geführt haben, die sich auf die UN-Völkermordkonvention 1948 stützen: Der Genozid in Kambodscha in den 1970ern, der Genozid in Ruanda 1994 und das Massaker von Srebrenica in Bosnien 1995.
Was das jetzt für Israel und Palästina bedeutet
Verübt Israel also einen Völkermord an den Palästinser:innen? Die meisten Völkerrechtler:innen sind bei einer Einschätzung zu diesem Thema eher vorsichtig. Ein großes Problem ist, dass es kaum unabhängige Beobachter:innen im Gazastreifen gibt. Zum Vergleich: Schon kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine reisten Mitarbeiter:innen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in die Ukraine, um Beweise für mögliche Kriegsverbrechen zu sammeln. Im September 2023 hat der IStGH sogar ein eigenes Büro in Kyjiw eröffnet, es ist die größte Zweigstelle des Gerichts außerhalb von Den Haag.
In Gaza sammelt niemand so akribisch und gerichtsfest Beweise, weil kaum jemand hinein oder hinaus kommt. Allein die Todeszahlen sind schwierig zu bestimmen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind seit dem 7. Oktober mehr als 18.000 Menschen bei den israelischen Angriffen gestorben. Diese Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen, dürfte aber ungefähr stimmen.
Die Zahl der Getöteten spielt ohnehin nur eine nachgeordnete Rolle bei der Frage, ob Israel einen Genozid an den Palästinenser:innen begeht. Diejenigen, die einen Völkermord drohen sehen, beziehen sich meist auf Aussagen israelischer Politiker:innen. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte am 9. Oktober die vollständige Abriegelung des Gazastreifens an und sagte: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“ Der hochrangige Militär Ghassan Alian sprach ebenfalls von „menschlichen Tieren“ und sagte: „Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen.“
Diese Aussagen verstehen manche als Beweis für die genozidalen Absichten Israels. Die Organisation „Genocide Watch“ nimmt sie als Beispiele für die Dehumanisierung der Palästinenser:innen – und sieht das wiederum als eine Stufe von Genozid. Tatsächlich kann es ein Hinweis auf genozidale Absichten sein, wenn Politiker:innen eine Bevölkerungsgruppe diffamieren, indem sie sie etwa als Kakerlaken bezeichnen. Allein damit lässt sich ein Völkermord aber nicht gerichtsfest begründen.
Dazu kommt: Diese Aussagen israelischer Politiker:innen beziehen sich auf die Hamas. An anderen Stellen haben israelische Politiker:innen explizit darauf hingewiesen, nicht die Palästinenser:innen als Ganzes zu bekämpfen.
Genozid: Ja oder Nein? Darum geht es gar nicht
Wenn eine NGO wie „Genocide Watch“ vor einem Völkermord warnt, geht es ihr wahrscheinlich weniger um die enge juristische Definition. In Menschenrechtsorganisationen arbeiten Jurist:innen, denen klar ist, wie schwer es ist, diese zu erfüllen. Die Behauptung, Israel würde einen Völkermord an den Palästinenser:innen begehen, ist für sie ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wollen damit sagen: Seht her, hier passiert etwas Schreckliches, das wir verhindern müssen.
Außerdem kann der Genozid-Vorwurf ein Mittel sein, um den Krieg in Gaza mit einer simplen Täter-Opfer-Logik zu beschreiben. Auf der einen Seite der Täter, Israel, der das schlimmste aller denkbaren Verbrechen begeht. Auf der anderen Seite das Opfer, die Palästinenser:innen, die dem Genozid zum Opfer fallen. Dabei ist es in diesem alten und verworrenen Konflikt schwierig, Israelis oder Palästinenser:innen pauschal als „Opfer“ oder „Täter:innen“ zu bezeichnen.
Während der Recherche hat mich KR-Mitglied Hans-Martin gefragt: „Ist es wirklich wichtig, ob das israelische Vorgehen in Gaza ein Genozid ist oder ‚nur‘ Massenmord?“ Hans-Martin findet allein die Fragestellung problematisch. Denn selbst wenn es sich nicht um einen Genozid handelt – das israelische Vorgehen in Gaza ist seiner Meinung nach immer noch kritikwürdig.
Das Völkerrecht gibt ihm recht, denn dort gibt es keine Hierarchie der Straftaten. Ein Genozid ist nicht „schlimmer“ als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen. Die letzten beiden lassen sich allerdings leichter nachweisen. Schlussendlich ändert dieser Begriff also nichts an den israelischen Bombardements in Gaza, denen unzählige Zivilist:innen zum Opfer fallen.
Raphael Lemkin wäre vielleicht schon froh, dass der Begriff Genozid heute überhaupt eine so wichtige Rolle spielt. Als er an der Anklageschrift der Nürnberger Prozesse mitarbeitete, bei der hochrangige Nazis verurteilt wurden, musste er gegen viele Widerstände ankämpfen. Seine Kollegen waren genervt von ihm, sie fanden, er sei kein Teamplayer. Darauf nahm Lemkin keine Rücksicht, denn er hatte ein Lebensziel: Genozid sollte ein juristischer Straftatbestand werden. Damit war er zwar erfolgreich. Doch die Debatten darum sind immer noch emotional und kompliziert.
Danke an Sabrina, Horst, Christina, Christian, David, Hans-Martin, Rachel, Sonja, Ayah, Jan und Nikita, die mir teilweise lange E-Mails geschrieben und wichtige Denkanstöße für den Text geliefert haben.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Astrid Probst, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert