Wir müssen noch mal über diese Grafik sprechen. Sie zeigt die Zahl tatverdächtiger Kinder (U14) im Zeitverlauf von 2001 bis 2020. Wir sehen: 2001 lag die Zahl noch bei unter 140.000, 2020 dagegen bei über 160.000. Ein klarer Anstieg.
Das ist durchaus schockierend.
Oder?
Nun, eigentlich nicht.
Ich habe die Grafik falsch beschriftet. Sie zeigt nicht die Zahl der tatverdächtigen Kinder, sondern die tatverdächtiger Senior:innen. Schockierend, oder? Wir müssen etwas tun! Wir brauchen einen Senior:innen-Gewalt-Gipfel der Bundesregierung! Senior:innen müssen wieder lernen, wo ihre Grenzen sind! Gerade in Stadtvierteln, in denen besonders viele gewaltbereite Senior:innen leben, brauchen wir mehr Unterstützung!
Die Gruppe der Senior:innen umfasst alle Täter:innen, die älter als 60 Jahre waren. Diese Gruppe ist allerdings in den vergangenen 20 Jahren auch deutlich größer geworden, weshalb ein Anstieg der zur Anzeige gebrachten Taten nicht sonderlich überraschend ist.
Spaß beiseite. Die Entwicklung der Zahl der tatverdächtigen Kinder sieht dagegen ziemlich gut aus:
Überrascht euch das? Wahrscheinlich schon. Die Berichterstattung, gerade in diesem Jahr, hat einen ganz anderen Eindruck vermittelt.
„Mehr respektlose und gewalttätige Kinder und Jugendliche“ (Berliner Morgenpost)
„Immer mehr gewalttätige Jugendliche: Wie soll man mit ihnen umgehen?“(Bayerischer Rundfunk)
„Neue Brutalität? – Warum Kinder und Jugendliche gewalttätig werden“ (Südwestrundfunk)
Und, wow, der SWR beschreibt direkt, wie groß das Problem ist: „Die Silvesternacht in Neukölln, Schlägereien in Freibädern, Morde und schwere Straftaten an Gleichaltrigen: Immer wieder bestimmten gewalttätige Kinder und Jugendliche zuletzt die Schlagzeilen.“
Allerdings: Selbst, wenn man sich die Statistik der Polizei nur in Bezug auf Gewalttaten anschaut, ist der Langzeittrend vollkommen eindeutig:
Was ist da los? Warum schreiben diese Medien so etwas, wenn die langfristige Entwicklung doch ganz anders aussieht?
Nun, die Medien sind nicht völlig verrückt geworden. Auch wenn sie einen völlig falschen Eindruck vermitteln, dazu gleich mehr. Tatsächlich gab es in der Polizeilichen Kriminalstatistik einen Anstieg der Zahlen in den letzten beiden Jahren. Ich kann mir die Berichterstattung nur so erklären, dass Journalist:innen sich zu oft auf diese beiden vergangenen Jahre konzentrieren – und den Blick aufs große Ganze damit verlieren.
Als ich diese Daten im April gesehen habe, habe ich Menno Baumann um seine Einschätzung gebeten. Baumann ist Professor für Intensivpädagogik, Sonderpädagoge und Experte für Jugendhilfe, Jugendkriminalität und Gewalt. In seinem Gastbeitrag schrieb er über den Anstieg der Zahlen in den letzten beiden Jahren:
„Was wir sehen, würde ich gar nicht negativ bewerten. Es ist ein Sprung nach vorheriger positiver Entwicklung. Dieser Sprung muss sorgfältig analysiert und vor allem in den folgenden Jahren beobachtet werden. In den letzten Jahren waren die Kinder, die jetzt als Tatverdächtige in der Statistik auffällig sind, überdurchschnittlich wenig auffällig im Bereich der Körperverletzungen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet dürfte die Gewaltbelastung der unter 14-Jährigen also (noch) nicht gravierend erhöht sein.“
Die Gewalttaten nehmen gar nicht zu, auch nicht in den vergangenen zwei Jahren
Eine neue repräsentative Dunkelfeldstudie vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen liefert jetzt eine Erklärung, die die Daten noch einmal in einem anderen Licht dastehen lässt. Denn das Problem der Polizeilichen Kriminalstatistik ist, dass sie nur das sogenannte Hellfeld betrachtet. Also nur Gewaltdelikte, die auch zur Anzeige gebracht wurden. Die Entwicklung in diesem Hellfeld ist auch für Jugendliche ähnlich: Sie zeigt sowohl für Niedersachsen als auch bundesweit einen Anstieg der Gewalttaten durch Jugendliche im Vergleich zu 2019, dem Jahr vor der Pandemie.
Die Studie aus Niedersachen aber betrachtet das Dunkelfeld. Dafür wurden 8.539 Schüler:innen der neunten Klasse zur Täterinnenschaft in Bezug auf Eigentums- und Gewaltdelikte befragt. Das Ergebnis: 6,4 Prozent der 2022 befragten 15-Jährigen in Niedersachsen hatten in den vergangenen zwölf Monaten eine Gewalttat verübt. 2019 lag dieser Wert noch bei 7,5 Prozent.
Das heißt: Entgegen der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die Zahl der Gewalttaten im Vergleich zu 2019 gesunken und nicht gestiegen. Wie es zu einem Anstieg der Zahlen im Hellfeld und gleichzeitig zu einer Abnahme der Zahlen im Dunkelfeld kommen kann? Die beste Erklärung ist, dass die Gesellschaft sensibler für Gewalttaten geworden ist und diese öfter zur Anzeige bringt. So vermeldet die Polizei mehr Gewalttaten, während die Zahl eigentlich zurückgegangen ist. Diese Erklärung passt zu beiden Statistiken – und zur Langzeitentwicklung. Sie ist nur deutlich unspektakulärer als die mediale Debatte.
Der Eindruck ist also ein völlig falscher
Einzelfälle werden auf die Titelseite gehoben, gepaart mit der dramatischen Frage, was wir denn bloß tun können, um diese gewalttätigen Kinder zu stoppen.
Versteht mich nicht falsch: Jede Gewalttat ist ein Problem, von Kindern und natürlich auch von Senior:innen. Die Frage ist: Welcher Eindruck wird vermittelt? Und da ist die Antwort klar: Genau der gegenteilige Eindruck zur eigentlichen Entwicklung.
Man muss sich das immer wieder vor Augen führen: Kinder und Jugendliche sind heute deutlich seltener gewalttätig als noch vor 20 Jahren. Punkt.
Wenn also am 1. Januar nach Silvesterkrawallen in Neukölln von immer gewaltbereiteren Kindern und Jugendlichen in Deutschland berichtet wird, dann ist das Quatsch. So viel Differenzierung muss sein. Die Langzeitentwicklung und sogar die Entwicklung der vergangenen beiden Jahre scheint völlig anders auszusehen. Ich will mich ja nicht wiederholen, aber es scheint in diesem Fall wieder zu stimmen: The Kids Are Alright.
Wer sich mit dem Thema ausführlicher auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich noch einmal den Gastbeitrag von Menno Baumann. Dort geht er auch auf die Ursachen von Gewalt von Kindern ein, auf die Frage, ob eine Herabsetzung der Strafmündigkeit helfen würde und was der Staat tun sollte.
Schlussredaktion: Astrid Probst, Bildredaktion: Philipp Sipos