Wieso willst du mir jetzt erklären, was Familie ist? Ist doch ziemlich klar: Mama, Papa, Kinder.
Ehrlich gesagt, so einfach ist es nicht – nicht mehr. Es gibt mittlerweile auch ganz andere Konstellationen: Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern, Familien mit drei und mehr Eltern, auch die vielen Alleinerziehenden: Etwa zwei Millionen sind es in Deutschland. Man könnte auch sagen: Familie wandelt sich. Das hat auch die Ampel erkannt und einige Reformen im Familienrecht geplant.
Was soll sich denn verändern, wenn es nach der Ampel geht?
Eltern sollen das sogenannte „kleine Sorgerecht“ zukünftig an bis zu zwei soziale Eltern vergeben, sodass ein Kind dann rechtlich vier Eltern hat: zwei, die sich hauptsächlich kümmern, und zwei, die im Alltag Aufgaben übernehmen, aber nicht hauptverantwortlich sind. Außerdem eine wichtige Änderung: Mit der Verantwortungsgemeinschaft sollen Erwachsene, die sich umeinander kümmern, aber nicht miteinander verwandt sind, rechtlich abgesichert werden. Zum Beispiel kannst du dann die Menschen, mit denen du eine Verantwortungsgemeinschaft eingehst, im Krankenhaus besuchen, wenn sie einen Unfall hatten.
Verantwortungsgemeinschaft? Wie bitte? Das finde ich nicht gut.
Damit bist du nicht allein. Es hagelte Kritik, als die Ampel ihren Koalitionsvertrag vorstellte, von der AfD, von der Union, aus der katholischen Kirche und von vielen anderen mehr. Unionsfraktionsvize Dorothee Bär hat die Essenz der Kritik in einem Tweet ganz gut zusammenfasst: Die Fundamente der Gesellschaft würden mit Füßen getreten, wenn Familien „neben einer neuen, beliebigen sogenannten Verantwortungsgemeinschaft stehen.“
Ich finde, sie hat Recht. Es ist doch eine ziemlich fundamentale Änderung, wenn mit der Verantwortungsgemeinschaft quasi eine neue Form von Familie eingeführt wird.
Ich würde es so sagen: Wenn ich mich entscheide, als Kleinfamilie zu leben, mit Hochzeit und allem drum und dran, dann ist das weiterhin absolut möglich. Und ich werde vom Gesetzgeber sogar dafür belohnt, steuerlich zum Beispiel durch das Ehegattensplitting. Also mir wird rein gar nichts weggenommen. Nur würden durch den Vorstoß der Ampel auch die Leute ein bisschen was dazubekommen, die ein anderes Familienmodell leben und bislang rechtlich deutlich schlechter gestellt sind.
Was genau bekommen sie?
Fangen wir bei Familien mit mehr als zwei Eltern an. Zum Beispiel: Zwei Kinder werden von einem lesbischen und einem schwulen Paar großgezogen. In solch einem Fall war die Elternschaft des dritten und vierten Elternteils bislang unsichtbar, und es konnte auch im Alltag zu Problemen kommen. Zum Beispiel braucht man eigentlich das kleine Sorgerecht, um mit einem Kind zum Arzt zu gehen oder es von der Schule abzuholen.
Verstehe, dass das Sinn macht. Also bei Regenbogenfamilien kann ich es noch verstehen, dass sich zum Beispiel ein schwules und ein lesbisches Paar zusammentun. Aber ich habe schon Zweifel daran, dass es gut geht, wenn plötzlich vier Freunde entscheiden, dass sie jetzt ein Kind zusammen bekommen wollen.
Was genau sind deine Bedenken?
Ich frage mich, ob sich dann wirklich alle kümmern. Also ob nicht plötzlich Leute abspringen, weil sie keine Lust mehr haben.
Das ist ein interessanter Punkt. Studien zu Co-Parenting mit mehreren Menschen haben ergeben, dass die Sorgearbeit häufig nach einem ähnlichen Muster aufgeteilt wird wie in monogamen Hetero-Beziehungen: Die biologische Mutter bleibt die Haupt-Kümmerin. Die Sorgearbeit wird pro Person zwar weniger, aber sie ist nicht unbedingt gerechter verteilt, bloß weil mehr Menschen sie übernehmen. Eigentlich ziemlich ähnlich wie bei der Zwei-Eltern-Familie!
Weißt du, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass vier Eltern für ein Kind nicht doch ein bisschen viel sind.
Ich glaube ehrlich gesagt, dass es sehr auf die Eltern ankommt. Potenziell vier Helikoptereltern zu haben, deren Erwartungen man erfüllen muss, denen man viermal erzählen muss, wie es in der Schule war, das ist natürlich anstrengend. Einfacher wird es schon, wenn die Aufmerksamkeit auf mehr Kinder aufgeteilt ist oder auch wenn die Eltern sich ein bisschen zurücknehmen. Zugleich bedeuten mehr Bezugspersonen für die Kinder weniger Abhängigkeit, wenn es mit einer Person schwierig ist oder ein Elternteil sich missbräuchlich verhält. Und man kann davon ausgehen, dass Eltern weniger gestresst sind, wenn sie sich die Zeit mit dem kleinen schreienden Wesen unter mehreren aufteilen können.
Das klingt ja alles ganz schön, was du erzählst. Aber ich frage mich trotzdem: Brauchen Kinder nicht einfach eine Mama und einen Papa? So war es schließlich schon immer.
Für das psychische Wohlergehen der Kinder ist irrelevant ist, ob sie mit gleich- oder verschiedengeschlechtlichen Eltern aufwachsen, das wissen wir aus der Forschung. Viel entscheidender für das Wohlergehen der Kinder ist, dass ihre Eltern intakte Beziehungen miteinander führen und wie ihr Umfeld auf Regenbogenfamilien reagiert, ob sie also in ihrem Alltag Diskriminierung erfahren oder nicht. Aus neurowissenschaftlichen Studien wissen wir außerdem längst, das Mütterlichkeit nichts ist, was mit dem biologischen Muttersein zu tun hat. Es ist eigentlich umgekehrt: Wenn wir intensiv mit Neugeborenen interagieren, dann produzieren wir Hormone und unsere Gehirnstrukturen verändern sich – jeder Mensch kann also mütterlich sein. Nur in den Köpfen ist das noch nicht angekommen.
Echt jetzt?
Ja, auf jeden Fall. Verhaltensbiolog:innen haben schon vor einer ganzen Weile herausgefunden, dass Mutterliebe nichts Angeborenes ist. Wie sehr sich Mütter um ihre Kinder kümmern, kommt auf viele Faktoren an, sagt zum Beispiel die Psychologie-Professorin Heidi Keller: „Es gibt sicher natürliche Prädispositionen, also eine angeborene Bereitschaft, Kinder zu versorgen, zu stimulieren, zu beruhigen. Das ist aber kein Instinkt, der zwangsläufig abläuft.“ Durch Schwangerschaft und Geburt ergibt sich also die Möglichkeit einer besonderen Verbindung zwischen dem Kind und der Person, die es auf die Welt bringt, aber nicht automatisch die aufopfernde, allumsorgende Mütterlichkeit. Wir verwechseln die wohl mit dem Beschützerinstinkt, den fast alle Menschen gegenüber Kindern haben, unabhängig davon, ob sie mit ihnen verwandt sind. Das Konzept der instinktiven Mutterliebe gibt es ohnehin erst seit dem 18. Jahrhundert.
Oh, das ist nicht besonders lang her.
Ja, schau dir mal an, wie das in der früheren Neuzeit bei adeligen Frauen war, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht haben: Da wurde das Baby meist noch am gleichen Tag zu Ammen aufs Land gegeben. Die biologischen Mütter besuchten ihr Kind, wenn überhaupt, dann sehr selten. Wenn die Kinder dann abgestillt waren und zurück zur Familie kamen, wurden sie nicht etwa von ihren Müttern, sondern von Gouvernanten betreut. Ein Kind zu bekommen, war etwas ganz Normales, hatte aber nicht besonders viel mit Mütterlichkeit zu tun – anders als heute. Gleichzeitig starb jedes dritte Kind – wegen mangelnder Hygiene und Ernährung, aber auch wegen fehlender Zuwendung. Das wurde zunehmend zum Problem für den Staat, der nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch Soldaten brauchte.
Okay, und dann?
Ganz verkürzt gesagt: Dann kam Jean-Jacques Rousseau, der französische Philosoph. Er hat als einer der Ersten eine Art natürliches Band zwischen Mutter und Kind propagiert: Die Mütter sollten sich um ihre Kinder kümmern, am besten aufopferungsvoll, und sie auch stillen. Das hatte die Natur seines Erachtens für die Frauen vorgesehen. Die Vorstellung von Mutterschaft, die Rousseau und seine männlichen Philosophen-Kollegen propagierten, setzte sich durch, vieles davon findet man bis heute in Mutteridealen. Das Bild der Kleinfamilie mit dem Vater als Ernährer und der Mutter als Hausfrau, entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert. Die Hausfrau ist also eine kulturelle Erfindung und längst nicht so normal, wie die meisten Menschen denken.
Wie war es denn vorher?
Frauen waren den Männern untergeordnet, ganz klar. Aber wie stark die Arbeit im Mittelalter geschlechtergetrennt erledigt wurde, ist umstritten. Auf jeden Fall fand die Trennung zwischen Erwerbsarbeit außerhalb des Wohnhauses und Carearbeit, die sich im Haus abspielte, nicht so statt wie heute. Wenn die Frauen auf dem Feld arbeiteten, nahmen sie ihre Babys einfach mit. In den Handwerksbetrieben hat die ganze Familie zu Hause gewohnt und gearbeitet. In fast allen Zünften waren Frauen vertreten.
Und wie kam es dann dazu, dass Zuhausebleiben plötzlich zum Ideal wurde?
Im 18. Jahrhundert entstand im Bürgertum das Bild der Hausmutter, die zusammen mit dem Hausvater den Haushalt leitete – als gemeinsame Geschäftsführung des Betriebs mit Personalverantwortung über die Dienstboten. Die Hausmutter war sozusagen die Personalerin. Ihr Abstieg kam im 19. Jahrhundert, und zwar mit der Industrialisierung: Immer weniger bürgerliche Haushalte konnten sich Dienstboten leisten. Anstatt die für die Hausarbeit zu bezahlen, machte die Frau die Hausarbeit nun unbezahlt selbst.
Heftig. Und was war mit den anderen Schichten? Die meisten Menschen konnten sich ja eh nicht darauf ausruhen, dass jemand anderes die Hausarbeit für sie machte.
Das stimmt. In dem Moment, in dem die Dienstbotenhaushalte fast komplett verschwanden, wurde das Konzept der bürgerlichen Hausfrau auf alle Schichten ausgedehnt, also: Ohne Gegenleistung wurde die Ehefrau dazu verpflichtet, den Haushalt zu führen. So beschreibt es die Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes. Zugleich ergaben sich für die Mütter in der Arbeiter:innenschaft neue Herausforderungen und Zwänge: In die Fabriken, durch die Arbeits- und Wohnort voneinander getrennt wurden, konnten sie ihre Babys schließlich nicht einfach mitnehmen. Und dann trat im Jahr 1900 mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch auch noch der sogenannte Gehorsamsparagraf in Kraft.
Gehorsamsparagraf? Das klingt gruselig.
Ja. Da stand unter anderem drin, dass der Mann in allen Angelegenheiten, die das eheliche Leben betreffen, die Entscheidungsgewalt hat – also quasi in allen. In der Folge durften Frauen keine Verträge selbstständig unterzeichnen und brauchten die Zustimmung des Ehemanns, um ein Konto zu eröffnen oder um einen Job anzutreten. Wenn die verheiratete Frau ihr eigenes Einkommen oder Vermögen hatte, konnte der Mann allein darüber verfügen und ihre Einkünfte auch einbehalten.
Und wie lang war dieser Paragraf in Kraft?
In der DDR wurde er sofort nach der Staatsgründung 1949 abgeschafft, in der BRD dauerte es noch bis zum 18. Juni 1957, bis er ersatzlos gestrichen wurde. Zu der Zeit war es in der BRD längst zum Statussymbol geworden, dass die Frau zu Hause bleibt und sich um Heim und Kinder kümmert. Und sie vereinsamte immer mehr: Mit der Erfindung von Wasch- und Spülmaschine wurde die Arbeit nicht mehr zwischen Nachbarinnen oder in der Großfamilie erledigt, sondern allein zu Hause.
Ziemlich traurig.
Ja, in der Tat – also zumindest für die, die lieber anders hätten leben wollen. Aber die gesellschaftlichen Konventionen waren extrem stark. Richtigen Widerstand gegen dieses Modell gab es erst mit der 68er-Generation.
Bis Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland strafbar wurde, hat es ja auch eine ganze Weile gebraucht, oder?
Ganz genau. Erst am 15. Mai 1997 beschloss der Bundestag nach zähen Verhandlungen, Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen zu bewerten. Friedrich Merz und Horst Seehofer stimmten übrigens dagegen. Auch das gehört zur Realität: Familie kann ein sehr gefährlicher Ort sein. Zu der Abstimmung im Bundestag kam es damals nur, weil laut einer Studie drei Viertel aller Vergewaltigungen in der eigenen Wohnung stattfanden und endlich auch die Union verstand, dass sie etwas machen musste.
Okay, aber inzwischen hat sich doch wirklich einiges geändert.
Auf jeden Fall, vor dem Gesetz sind Frauen und Männer gleich. In der Theorie zumindest. In der Praxis sieht es aber immer noch anders aus. Das Familienrecht begünstigt mittels Ehegattensplitting das patriarchale Modell, in dem der Mann die meiste Lohnarbeit leistet und viel verdient, die Frau viel unbezahlte Hausarbeit macht und in einem Teilzeitjob dann logischerweise wenig verdient. So landen Frauen sehr schnell in einer Abhängigkeit von Männern, oft ohne es zu merken.
Und wenn die Frauen nun einfach Lust darauf haben, zu Hause zu sein und sich um ihre Kinder zu kümmern?
Dann ist das super, und ich freue mich sehr für sie. Wichtig ist mir doch nur, dass Menschen sich ihr Lebensmodell selbst aussuchen können. Wenn Personen ungewollt in ein Lebensmodell reinrutschen, für das sie sich niemals selbst entschieden hätten, weil die Anreize staatlich nun mal so gesetzt werden, finde ich das problematisch. Retraditionalisierung nennt man den Effekt, wenn Paare, die eine paritätische Aufgabenverteilung anstreben, nach der Geburt eines Kindes wieder in einem ziemlich klassischen Modell landen. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren auch die Erwartungen an Elternschaft höher geworden sind.
Was meinst du damit?
Ich fand ganz spannend, was die Soziologin Désirée Waterstradt zu diesem Thema geschrieben hat. Sie meint, dass wir uns als Gesellschaft von der Eltern- zur Kindzentrierung entwickelt haben. Darin gibt es viel Gutes, zum Beispiel bedürfnisorientiert und demokratisch anstatt autoritär zu erziehen. Aber trotzdem sind die Bilder des idealen, leistungsstarken Kindes sehr einheitlich, und wenn das Kind ihnen nicht entspricht, wird es zur unendlichen Beschämungsquelle für die Eltern.
Wie wird die Familie in 30 Jahren aussehen?
Ich will nicht spekulieren, aber es gibt, glaube ich, Dinge, die man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann: Dass Familienformen, die nicht der heteronormativen Norm entsprechen, immer sichtbarer werden. Dass wir immer mehr hinterfragen, warum die biologische Abstammung eine so große Rolle spielt. Und dass jetzt, wo es mehr Vorbilder gibt, immer mehr Menschen die Möglichkeit der Elternschaft ohne Liebesbeziehung nutzen werden. Nicht zuletzt, weil die Reproduktionsmedizin immer mehr und bezahlbarere Möglichkeiten eröffnet, Kinderwünsche zu erfüllen. Ich persönlich glaube außerdem, dass wir weiter wegkommen werden von den Elternrollen, die mit Geschlecht verbunden sind.
Und was glaubst du, wie sich die Ideale der Kindererziehung verändert haben werden?
Sie sind schon einen weiten Weg gegangen – von der autoritären Erziehung, die im Wilhelminischen Reich und im Nationalsozialismus wohl am stärksten ausgeprägt war, über den antiautoritären Stil, der vor allem im Zuge der 68er-Bewegung populärer wurde, bis zum demokratischen Erziehen. Letzteres ist heutzutage unter Pädagog:innen eine bevorzugte Weise: Kinder sollen lernen, selbst Entscheidungen zu treffen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, und verstehen, dass wir gleichberechtigt zusammenleben wollen. Gleichzeitig setzt man klare Grenzen und Regeln fest. Im Gegensatz zur Phase der antiautoritären Erziehung sind Pädagog:innen sich heute weitgehend darüber einig, dass Kinder diese brauchen.
Ich glaube jedenfalls, dass sich manche Sachen nie ändern werden.
Was zum Beispiel?
Dass Eltern einen tendenziell schneller auf die Palme bringen als alle anderen Menschen auf diesem Planeten.
Auf jeden Fall! Das hat damit zu tun, dass Kinder sich von ihren Eltern ablösen müssen. Bis ungefähr zum zwölften Lebensjahr haben die meist irgendeine Art von Vorbildfunktion. Aber danach beginnen Kinder, sich zu lösen; sie wollen als Individuen ernst genommen werden. Noch als Erwachsener nervt es deswegen oft, wenn sich das Gefühl einstellt, die Eltern würden die eigene Autonomie nicht wahren. Zum Beispiel: Bei anderen Menschen wäre es wahrscheinlich gar kein Problem, wenn sie mal ins Zimmer reinkommen, ohne zu klopfen. Aber bei Eltern regt es einen gleich so richtig auf, weil man sich noch immer so bevormundet fühlt. So, als sei man noch immer ein Kind.
Oh ja, dieses Gefühl kenne ich auch gut: Du kommst als erwachsener Mensch nach Hause zu deinen Eltern und verfällst in die gleiche Rolle, die du mit zwölf hattest. Auch wenn das jetzt Jahre her ist.
Das ist ja auf beiden Seiten so: Das über Jahre eingeübte Verhalten lässt Eltern vergessen, dass ihr Kind eigentlich schon erwachsen ist und weiß, ob die Jacke jetzt zu dünn ist oder nicht. Ich selbst reagiere darauf so trotzig, als sei ich noch immer in der Pubertät. Mein über Jahre eingeübtes Kind-Verhalten ist also sofort wieder aktiviert.
Wenn man Kindern sagt, dass sie in diesem oder jenem Verhalten so sind wie ihre Eltern, kommt das auch meistens nicht so gut an.
Auch das hängt wieder damit zusammen, dass wir uns eigentlich von unseren Eltern emanzipieren wollen. Wenn uns jemand sagt, dass wir wie unsere Eltern sind, bekommen wir das Gefühl, dass wir das nicht geschafft haben. Und genau das ist ja das Ziel des Erwachsenwerdens: autonom und unabhängig von den Eltern zu werden, ein eigenes Ich zu entwickeln, mit eigenen Vorstellungen, Werten und Verhaltensweisen.
Und so Hass-Liebe-Gefühle, ich glaube, die werden Familienkonstellationen auch für die Ewigkeit begleiten.
Tatsächlich werden bei Gefühlen von Hass ähnliche Gehirnregionen aktiviert wie bei Liebesgefühlen. Neurologen haben herausgefunden, dass die Gefühle schnell umschlagen können, vom einen ins andere Extrem. Dass wir gerade zu Partner:innen oder Familienmitgliedern Hass- und Liebesgefühle zugleich empfinden und äußern können, hat aber auch noch einen anderen Grund: In gesunden, funktionalen Familien halten die Bindungen – auch dann, wenn man mal Mist baut. Man darf darauf vertrauen, trotzdem geliebt zu werden.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Theresa Bäuerlein, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger