Nichts lässt sich so leicht erzeugen wie Stress.
Stell dir vor, du hast gerade verschlafen, da ruft dein Chef an. Noch im Halbschlaf gehst du ans Telefon, denn: Es liegt ja neben deinem Bett. Er fragt, wo du bleibst und wo er die Präsentation für das wichtige Kundengespräch findet, das in zwei Stunden beginnt. Du versprichst ihm, sie per E-Mail zu schicken. Sofort. Doch der Rechner installiert nach dem Start erst mal gemütlich 27 Updates. Währenddessen hörst du dein Kind nebenan weinen. Das musst du jetzt schnell anziehen und in die Kita bringen. An diesem Morgen werden weitere Katastrophen passieren: Die Lieblingstasse des Kleinen zerschellt auf dem Küchenfußboden, ihr verpasst den Bus, du schreist dein Kind an und du kommst eine Stunde zu spät zur Arbeit. Dort fragt dich dein Chef: „Wo ist die Präsi?“ Oh nein, an die hattest du gar nicht mehr gedacht!
Na, schon Schnappatmung? Und jetzt stell dir vor, dein Bruder ruft in diesem Moment an und will mit dir über die Weihnachtsplanung reden.
Vielleicht kennt KR-Leserin Rachel diese Situation. Sie fragt: „Was machen wir am besten mit all dem Stress?“ Gute Frage! Fragt man Ärzt:innen, antworten sie häufig: entweder vermeiden oder bewältigen. Aber diese Antwort hilft nicht wirklich weiter. Denn dabei bleibt offen, wie man das schaffen soll.
Stress ist erst mal weder gut noch schlecht. Er hat eine Funktion. Stress hilft dem Körper, sich in Sicherheit zu bringen. Er lässt dein Herz schneller schlagen. Dein Blutdruck steigt ebenso wie dein Blutzuckerspiegel. Die Muskeln werden stärker durchblutet und aus dem Fettgewebe wird Energie freigesetzt. Der perfekte Energiebooster. Die Energie hilft dir, aufmerksamer zu sein und schneller zu reagieren. Sie setzt sozusagen ungeahnte Kräfte frei.
Dabei sind vor allem zwei Hormone aktiv. Die Nebennieren schütten sie aus: Adrenalin und Kortisol. Adrenalin drosselt zum Beispiel das Schmerzempfinden und die Verdauung. Beides relativ unwichtig in stressigen Situationen. Kortisol schärft die Sinne: Hören, Riechen, Schmecken und das Wahrnehmen von Berührungen. Das hilft, blitzschnell Entscheidungen zu treffen. Unter Stress fühlst du dich dem Kampf mit dem Chef gewachsen, läufst schneller, als du ahntest, um den Bus noch zu erreichen oder holst das Beste während der Präsentation vor dem Kunden aus dir heraus. Gleichzeitig sorgt Stress dafür, dass du dein Kind anschreist, schlecht schläfst oder zu oft Alkohol trinkst. Um zu verstehen, wann und warum Stress auch negative Auswirkungen hat, muss man genau hinschauen.
Ich beantworte in diesem Newsletter Leserfragen. Reiche deine eigenen Fragen zu Medizin und Gesundheit ein, ich recherchiere sie.
Beim Reden über Stress kommt ein wichtiger Unterschied meist zu kurz: dem zwischen Stress als Gefühl und dem, was ihn verursacht. Stress ist das, was man körperlich und psychisch empfindet. Der Stress wird jedoch ausgelöst und zwar durch Stressoren. Das können äußere oder innere Einflüsse sein. Wenn die Ärztin sagt: „Vermeiden Sie Stress!“, meint sie: „Vermeiden Sie Stressoren!“ Und wenn der Arzt sagt: „Bewältigen Sie den Stress!“, meint er: „Helfen Sie dem Körper, Stress abzubauen und der Psyche zu entspannen!“
Es ist wichtig, zwischen Stress und Stressoren zu unterscheiden, weil man oft wenig Kontrolle darüber hat, wie vielen Stressoren man ausgesetzt ist. Deswegen ist es ziemlich verständlich, sich bei Stress hilflos zu fühlen. Aber genau diese gefühlte Hilflosigkeit sorgt dafür, dass man außer Acht lässt, was man trotzdem für sich tun kann.
An Tipps zur Stressbewältigung mangelt es nicht. Doch oft erzeugen sie noch mehr Stress, weil sie so einfach klingen: Bewege dich mehr, schlafe besser, iss gesünder, mache Yoga. Beginnst du, dich auch schon immer beim Lesen zu fragen, woran es liegen könnte, dass du das nicht hinbekommst?
Oft tauchen dann selbstzerstörerische Gedanken auf, wie: Ich bin zu dumm! Ich bin nicht diszipliniert genug! Oder: Mein Unterbewusstsein will wohl nicht, dass es mir gut geht! Am Ende glaubt man wahrscheinlich, dass man den vielen Stress wohl verdient hat (Uh! Wirklich?). Oder zumindest, dass man keine Chance hat, ihm zu entkommen (Hallo Hilflosigkeit, dich kenne ich schon).
Wenn dir solche Gedanken bekannt vorkommen, verrate ich dir jetzt ein Geheimnis:
Das Spiel ist unfair
Stressoren sind oft Dinge, auf die du keinen Einfluss hast. Dein anstrengender Chef geht genauso wenig durch Wegwünschen weg wie deine Familie oder Weihnachten. Sie lassen sich wahrscheinlich auch nicht in weniger stressige Versionen ihrer selbst verwandeln. Irgendwie musst du Geld verdienen, schließlich musst du Miete zahlen und Essen kaufen. Und wenn obendrauf dein Kind oder deine Mutter krank werden, wirst du dich wohl darum kümmern müssen. Selbst wenn dein Terminkalender schon sehr voll ist und du nebenbei noch Geschenke besorgen sollst.
Noch stressiger ist es, dauernd zu wenig Geld zu haben. Das zwingt Menschen, in Gegenden zu leben, in denen es viel Kriminalität gibt, die wenig Raum für Rückzug bieten oder ihre Gesundheit gefährden, weil sie direkt neben der Autobahn liegen.
Das Leben in unserem Wirtschaftssystem sendet permanent dieselbe Botschaft: Ob du ein schönes Leben hast, hängt einzig und allein von dir selbst ab. Doch weil die Chancen für ein schönes Leben ungleich verteilt sind und weil die Möglichkeiten nicht für jeden gleich gut sind, ist diese Botschaft eine Lüge.
Menschen können aus vielen Gründen benachteiligt sein: durch Behinderungen, durch Armut oder durch chronische Krankheiten zum Beispiel. Es reicht auch schon, sich von der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden, etwa durch eine andere Hautfarbe, eine andere sexuelle Orientierung oder eine andere Religion. Wenn Menschen noch dazu eine Frau sind oder weiblich gelesen werden, verstärkt sich die Benachteiligung noch.
Die Gesundheitswissenschaftlerin Emily Nagoski und ihre Schwester Amelia (sie ist Professorin für Musik) schreiben in ihrem Buch „Stress“, dass unsere Gesellschaft Human Givers (menschliche Geber) von Human Beings (einfach Menschen) unterscheidet. Von Gebern wird erwartet, dass sie Zeit, Aufmerksamkeit, Zuwendung oder auch ihren Körper freiwillig und selbstlos den Menschen zur Verfügung stellen, die das Privileg haben, einfach nur Menschen zu sein.
Menschen, die viel Stress haben, gehören häufig zu denen, die sich um andere kümmern. Zum Beispiel in ihrem Beruf als Lehrerinnen, Krankenpfleger oder Sozialarbeiter:innen. Oder privat, weil sie pflegebedürftige Angehörige haben oder kleine Kinder.
Geber sind überdurchschnittlich oft weiblich. Sie sind zwar auf den ersten Blick mehr Stress ausgesetzt, aber das wirklich Entscheidende ist: Sie müssen mit mehr Stressoren umgehen. Stichwort: Mental Load.
Wer sich weniger Stress wünscht, sollte eines zuerst akzeptieren: Stressoren hören nie auf, Stress zu erzeugen.
Dein Körper braucht Hilfe
Die Nagoski-Schwestern beschreiben, wie sich die Rolle von Stress im Laufe der menschlichen Entwicklung umgedreht hat. Die meisten von uns laufen im Alltag nicht mehr vor Löwen davon, sondern vor dem Chef oder dem Handyklingeln. Die körperliche Reaktion auf einen Stressor ist für Situationen sehr sinnvoll, die schnell vorbeigehen oder die sich durch Weglaufen verbessern lassen. Aber wenn er zum Dauerzustand wird, also zu chronischem Stress, wird uns dieser Stress schneller töten, als alle Stressoren zusammengenommen.
Das ist der Grund, weshalb du dich um deinen Stress dringender kümmern musst als um die Stressoren.
Chronischer Stress erhöht das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes, Depressionen, Angststörungen, Süchte und noch viele andere Krankheiten, die in unserer Gesellschaft häufig vorkommen. Deshalb solltest du chronischen Stress sehr ernst nehmen und dich wirklich bemühen, ihn abzubauen. Und zwar jeden Tag. Auch, wenn es unfair ist, dass diese Aufgabe an dir als einzelnem Menschen hängen bleibt.
Tu was – egal was
Während du noch versuchst, mit den täglichen Stressoren zurechtzukommen, versucht dein Körper den täglichen Stress zu managen. Dabei bleibt er jedoch oft mittendrin stecken.
Um zu verstehen, was beim Steckenbleiben passiert, hilft das Bild vom Löwen, der hinter dir her ist. In dieser Lage wirst du rennen wollen. Oder auf dein Glück hoffen und dich tot stellen. Oder, wenn du ganz mutig bist, kämpfen. Oder, wenn du Angst hast, vor Schreck wie gelähmt stehen bleiben. Diese vier Verhaltensweisen sind normale Stressreaktionen.
Heute begegnen wir nur noch selten angriffslustigen Löwen. Unsere Gegner fänden es komisch (und nicht nur die), wenn wir wegrennen, uns unterm Tisch verstecken, die Boxhandschuhe rausholen oder zur Salzsäule erstarren. Wir lassen uns meistens den Stress nicht anmerken. Aber immer, wenn Rennen, Verstecken, Kämpfen oder Erstarren ausfällt, hat unser Körper den Alarmzustand ganz umsonst aktiviert. Schlimmer noch: Er hat dann keine Gelegenheit, die aktivierten Abläufe zu Ende zu bringen.
Regelmäßige Bewegung ist auch deshalb der größte Faktor, um lange gesund zu bleiben, weil sie so effektiv den Stress-Kreislauf zu Ende bringt. Noch dazu kann sie die Stressempfindlichkeit senken. Heißt, wer jeden Tag (wirklich jeden Tag!) 20 bis 60 Minuten geht, radelt, schwimmt, tanzt, hüpft oder was auch immer, baut Stress ab und senkt nebenbei die Stresssensibilität.
In der akuten Stresssituation hilft Atmen (das Video stellt auf Englisch eine spezielle Atemtechnik vor, die man automatisch beim Weinen macht und die hilft, sich selbst zu beruhigen). Nach der Begegnung mit Stressoren ist es gut, positiven sozialen Austausch zu haben, zum Beispiel mit Freund:innen darüber zu reden, Mitgefühl und Unterstützung zu bekommen, zusammen zu lachen oder zu weinen. Küssen, Umarmungen oder ein Haustier zu streicheln, baut ebenfalls Stress ab. Außerdem ist kreativ zu sein ein Weg zu weniger Stress: sich ausdrücken, etwas Schönes erschaffen oder Kunst ganz bewusst wahrnehmen, zum Beispiel Musik hören. Gartenarbeit, Handarbeit oder sogar Hausarbeit können ebenfalls helfen.
Wer mehr über seinen Stress herausfinden will, kann ein Stresstagebuch führen. Um Stressoren und den Stress, den sie erzeugen, bewusster wahrzunehmen, kann Achtsamkeitstraining sinnvoll sein. Wer sich leichter entspannen oder einschlafen will, dem hilft es vielleicht, Entspannungstechniken wie Autogenes Training zu üben. Oder man lernt neue Problemlösungsstrategien kennen, wenn man weniger Konflikte im Alltag haben möchte.
Viele dieser Wege führen zum Ziel. Für manche bekommst du sogar Unterstützung deiner Krankenkasse. Sie fördert bestimmte Präventionskurse. Herauszufinden, welcher davon für dich am besten passt, sollte aber nicht in Stress ausarten.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert