Collage: Links: Ein Fragebogen. Rechts: Der Schatten eines Mannes erscheint hinter einer Glastür.

Clem Onojeghuo, Nguyen Dang Hoang/Unsplash

Geschlecht und Gerechtigkeit

Dieser Fragebogen prüft, ob dich dein Ex-Partner töten will

Jeden dritten Tag bringt ein Mann in Deutschland seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Überraschend sind die meisten Morde nicht. Lassen sie sich verhindern?

Profilbild von Lou Zucker

Es sind 20 Fragen, die ein Leben retten können.

„Haben Sie ihn:sie verlassen, nachdem Sie in den letzten 12 Monaten zusammengelebt hatten?“, lautet eine dieser Fragen.

Antwortet man mit ja, gibt das fünf Punkte.

„Kontrolliert er:sie die meisten oder alle Ihrer täglichen Aktivitäten?“, lautet eine andere.

Ein Ja macht einen Punkt. Und ein Kind, das nicht von dem:der Partner:in stammt, macht nochmal zwei Punkte.

Es gibt einen Fragebogen, der vorhersagen kann, wie wahrscheinlich es ist, von dem oder der Partner:in oder Ex-Partner:in umgebracht zu werden. Angewendet wird er von Polizei, Frauenhäusern und Beratungsstellen. Wer am Ende des Fragebogens 18 oder mehr Punkte zusammen hat, lebt mit einer „extremen Gefährdung“.

„Oft wird Frauen erst durch den Fragebogen klar, in welcher Gefahr sie sich eigentlich befinden“, sagt Carolin Thomsen, die beim Frauennotruf in Flensburg arbeitet, einer Beratungsstelle gegen Häusliche und sexualisierte Gewalt. „Weil Frauen oft schon jahrelang in einer gewaltvollen Situation leben und das als normal empfinden.“

Jeden dritten Tag bringt ein Mann in Deutschland seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Femizid, so nennt man den Mord an einer Frau, einfach nur, weil sie eine Frau ist. In der Hälfte der Fälle war der Täter bereits vor dem Mord gewalttätig und wussten Polizei, Beratungsstellen oder das Jugendamt davon.

„Wenn eine Frau vorbeikommt, ihre Geschichte erzählt, und wir den Eindruck haben, dass da starke Gewalt im Spiel ist, dann fragen wir sie, ob sie damit einverstanden ist, dass wir den Fragebogen durchführen“, sagt Carolin Thomsen. Manchmal ruft sie auch selbst bei einer gewaltbetroffenen Person an. Das passiert immer dann, wenn die Polizei wegen Häuslicher Gewalt im Einsatz war. Die Beamt:innen fragen die betroffene Person, ob sie ihren Kontakt an eine Beratungsstelle weitergeben dürfen.

Bei Femiziden spielt oft massive Eifersucht eine Rolle

Der Fragebogen heißt offiziell „Danger Assessment“. Entwickelt wurde er bereits 1986 von der US-amerikanischen Pflegewissenschaftlerin Jacquelyn C. Campbell. Damit ist er einer der ältesten seiner Art, wurde seit den Achtzigern aber mehrmals überarbeitet. Carolin Thomsen benutzt ihn nicht nur, um den Betroffenen bewusster zu machen, in welcher Gefahr sie sich befinden. Sie möchte auch selbst einschätzen, ob es sich um einen sogenannten Hochrisikofall handelt. Ihre Beratungsstelle ist Teil eines Modellprojekts, das den sperrigen Namen „Hochrisikomanagement“ trägt. In Schleswig-Holstein läuft es seit Februar 2022. Das Ziel: Extreme Gefährdungsfälle frühzeitig erkennen und mit Beratungsstellen, Polizei und anderen Institutionen gemeinsam versuchen, das Leben der betroffenen Person zu schützen.

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Bei Femiziden spielen oft extreme Eifersucht und Besitzansprüche gegenüber der Partnerin und gemeinsamen Kindern eine Rolle. Deshalb ist es für Frauen in solchen Beziehungen so gefährlich, mit dem Partner Schluss zu machen: Ein Drittel der Beziehungsfemizide werden in der Trennungsphase begangen.

Oft würden Täter ihren Partnerinnen drohen, sagt Carolin Thomsen: „Wenn du dich trennst, nehme ich dir die Kinder weg, ich mache dir das Leben zur Hölle, ich finde dich überall.“ Die Lage erscheint aussichtslos. „Dann nimmt man lieber ein paar Schläge hin, als sich irgendwo eine Wohnung zu nehmen und in ständiger Angst zu leben“, weiß Thomsen.

Femizide passieren selten völlig überraschend. Oft gibt es lange im Vorfeld Hinweise darauf. In fast 80 Prozent der Fälle ist die tatverdächtige Person bereits vorher gewalttätig gegen das Opfer gewesen. Ein Drittel kündigt den Mord sogar an. Und 43 Prozent der Tatverdächtigen sind bereits vor dem Femizid polizeibekannt wegen Straftaten gegen das spätere Opfer. In der Hälfte der Fälle hatten Täter oder Opfer zuvor Kontakt zu Frauenhäusern, dem Jugendamt, Beratungsstellen, Anwält:innen, Kirchengemeinden, Therapeut:innen oder dem medizinischen System.

Die naheliegende Schlussfolgerung: Viele Femizide könnten verhindert werden, wenn die involvierten Institutionen das Risiko besser einschätzen könnten und sich mehr untereinander austauschen würden. Genau das ist die Idee hinter dem Fragebogen und dem Modellprojekt Hochrisikomanagement.

So hilft der Fragebogen der Polizei bei der Arbeit

In der Praxis sieht das zum Beispiel so aus: Jemand hört Schreie aus der Nachbarwohnung, ruft die Polizei. Die kommt, versucht die Lage zu deeskalieren und aufzuklären, was passiert ist. Sie stellt fest: Ein Mann hat seine Lebensgefährtin geschlagen. Die Polizei fragt die Frau, ob sie ihren Kontakt an eine Opferberatungsstelle weitergeben darf. In schweren Fällen kann die Polizei eine Wegweisung gegen den Mann aussprechen. Das heißt, er muss die Wohnung verlassen, die Schlüssel abgeben und darf bis zu zwei Wochen nicht zurückkommen – egal, ob er der Hauptmieter oder sogar der Eigentümer der Wohnung ist.

Wenn es so weit kommt, gibt die Polizei die Daten der Betroffenen auf jeden Fall an den Frauennotruf weiter. Carolin Thomsen oder eine ihrer Kolleginnen melden sich dann bei der betroffenen Frau und führen, wenn sie damit einverstanden ist, den Fragebogen durch. Wenn dabei herauskommt, dass sie in ernster Gefahr schwebt, ruft Thomsen bei den zwei Kollegen von der Polizei an, mit denen sie im Hochrisikomanagement zusammenarbeitet. Die berufen dann eine Fallkonferenz ein. Wenn Kinder im Spiel sind, können an der Fallkonferenz zum Beispiel auch das Jugendamt oder eine Kinderberatungsstelle beteiligt sein. Auch Sozialarbeiter:innen, die mit dem Täter arbeiten, die Gerichtshilfe, das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen oder das Frauenhaus sitzen manchmal mit am Tisch.

„Wir versuchen, in kurzen, objektiven Worten, den Fall darzulegen“, erzählt Thomsen. „Wir ärgern uns alle über die Hartnäckigkeit der Täter und die Gewalt, die da ausgeübt wird, aber an der Stelle versuchen wir, die Gefühle außen vor zu lassen.“ Auch die Polizei und das Frauenhaus wenden den Fragebogen an, was die Zusammenarbeit der einzelnen Bereiche erleichtert. In den Konferenzen beraten alle gemeinsam: Was können die einzelnen Institutionen tun, um gemeinsam die gewaltbetroffene Person und die Kinder zu schützen?

Die Polizei kann zum Beispiel eine Gefährderansprache halten. Das heißt, sie fährt zu dem Tatverdächtigen und spricht noch einmal deutlich mit ihm, welche Konsequenzen die Gewalt haben kann. Mit richterlicher Genehmigung kann die Polizei ihn auch für kurze Zeit in Gewahrsam nehmen. Wenn in der Fallkonferenz klar wird, dass es sich um einen erfahrenen Täter handelt, der genau weiß, was er tut, fährt die Polizei das nächste Mal ohne Sirene und Blaulicht zum Tatort.

Der Frauennotruf bietet der betroffenen Frau regelmäßige Gespräche zur Stabilisierung an und rät ihr vielleicht dazu, einen Gewaltschutzantrag zu stellen. Wenn der durch ein Familiengericht bewilligt wird, darf sich der Tatverdächtige ihr bis zu sechs Monate lang nicht nähern. Thomsen sagt, so ein Antrag sei relativ niedrigschwellig, werde innerhalb von drei oder vier Tagen bearbeitet und sei dann sofort gültig. Es brauche nicht unbedingt Beweise, eine eidesstattliche Erklärung der Betroffenen reiche aus. Die Beratungsstelle unterstütze bei einem solchen Antrag, begleite zur Anwältin oder zum Gericht.

Wie viel bringt der Fragebogen wirklich?

Das Jugendamt ist eventuell mit dem gewaltausübenden Vater in Kontakt, um die Umgangsregelung bezüglich der Kinder zu klären. In der Fallkonferenz bietet es dann zum Beispiel an, noch einmal mit dem Vater darüber zu sprechen, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Kinder hat. „Beim Jugendamt verhält sich der Täter manchmal ganz einsichtig und verständnisvoll“, erzählt Thomsen. „Bei der Fallkonferenz bekommen die dann mal die andere Seite mit, auch dafür sind die Konferenzen wichtig.“

Die Vorgehensweise aufgrund des Fragebogens klingt sinnvoll, ausgeklügelt, vernünftig. Nach einer guten Sache. Doch wie viel bringt sie wirklich?

Ein Bundesland, das schon viel mehr Erfahrung mit Hochrisikomanagement hat als Schleswig-Holstein, ist Rheinland-Pfalz. Die Polizei hat dort bereits 2014 ein Pilotprojekt gestartet. Das lief gut, hat die Universität Koblenz-Landau herausgefunden: Die Täter:innen sind seltener rückfällig geworden, seit es das Hochrisikomanagement gibt. Deswegen läuft das Projekt auch heute noch.

Johannes Freundorfer leitet den Arbeitskreis „Häusliche Gewalt“ bei der Polizei Rheinland-Pfalz. „Jedes Jahr können wir einen Großteil der Fälle aus den Fallkonferenzen ausstufen“, sagt er. „In wenigen Fällen kommt es aber vor, dass die Gefahrenlage für die Betroffenen weiter bestehen bleibt und wir die Fälle über eine lange Zeit betreuen.“ Von Opfern und sogar von Tätern bekämen die beteiligten Stellen immer wieder positive Rückmeldungen.

Freundorfer ist Schnelligkeit wichtig. Wenn möglich, führt die Polizei in Rheinland-Pfalz bereits am Einsatzort den Fragebogen mit der betroffenen Person durch – natürlich nur, wenn diese dazu physisch und psychisch in der Lage ist. Der Bericht der Polizei muss am nächsten Morgen beim Ermittlungsdienst liegen. „Dringlichkeit geht da vor Vollständigkeit“, sagt Freundorfer. „Mir ist es wichtig, in dem Moment schon eine gute Einschätzung der Gefährdung zu bekommen, denn man kann die Zeit nicht zurückdrehen.“

Es gibt Täter, denen ist es egal, was die Polizei sagt

Ganz so optimistisch wie Johannes Freundorfer ist Carolin Thomsen nicht. „Oft hat die Polizei keine Handlungsmöglichkeit“, sagt sie. „Wenn sich der Täter nicht erwischen lässt, kann die Polizei nichts tun. Das ist extrem frustrierend. Aber das ist natürlich auch eine große Errungenschaft der Demokratie.“

Auch die Maßnahmen, die den verschiedenen Institutionen zur Verfügung stehen, führten nicht immer weiter. Über die Gefährderansprache der Polizei sagt Thomsen: „Es gibt Täter, die waren im Gefängnis, denen ist das ziemlich egal, wenn ihnen die Polizei noch mal ins Gewissen redet.“ Und dann ist da noch ein ganz anderes Problem: „Wenn die Frau einen Gewaltschutzantrag gestellt hat und dem stattgegeben wurde, muss sie trotzdem gewährleisten, dass der gewalttätige Vater Umgang mit den gemeinsamen Kindern hat. Oft nutzt der Täter genau diesen Kontakt, um wieder Druck auf die Frau auszuüben.“

Trotzdem findet Carolin Thomsen die Fallkonferenzen „total sinnvoll und konstruktiv“. Die Pilotphase ist in Schleswig-Holstein vorbei, alle Beteiligten haben sich entschlossen, die regelmäßigen Treffen alle zwei Monate weiter zu führen. „In einem halben Jahr hatten wir 13 Hochrisikofälle hier, das ist für eine kleine Stadt wie Flensburg eine ganze Menge.“ Auch Fälle, die der Polizei längst bekannt waren, würden jetzt als Hochrisikofall eingestuft und in den Fallkonferenzen behandelt werden.

„Ich weiß natürlich nicht, ob wir einen Femizid verhindern konnten“, räumt Thomsen ein. Weil im Nachhinein niemand wissen kann, wie die Geschehnisse sich ohne den Fragebogen und die Arbeit drumherum entwickelt hätten. „Aber die Gewalt ist sichtbarer geworden, es wird mehr darüber gesprochen.“ Und wenn mehr darüber gesprochen werde, trauten Betroffene sich häufiger, nach Unterstützung zu fragen.


Wenn du selbst von Gewalt betroffen bist, kannst du dich an diese Hotline wenden: 116016. Oder du gehst auf diese Homepage. Dort findest du ein umfrangreiches Beratungsangebot.

Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger

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