Es ist der frühe Morgen des 7. Oktober 2023 im Kibbuz Be’eri im Süden Israels, nur wenige Kilometer vor Gaza. Aya Meydan, 39 Jahre alt, Sonderpädagogin und Mutter von drei Kindern, bereitet sich wie jede Woche auf ihre Radtour vor. Sie füllt ihre Wasserflaschen, pumpt die Reifen auf, zieht ihr Fahrradschuhe an. Um 6.10 Uhr schickte ihr Freund Lior, mit dem sie die Tour fahren will, seinen Standort per Whatsapp. Aya steigt auf ihr Rad und fährt los. Der Kibbuz ist um diese Zeit ganz ruhig, es ist keine andere Seele zu sehen. Aya liebt diese Tageszeit.
Als sie sich dem Eingang des Kibbuz nähert, einem gelben Metallgitter mit einem Wachhäuschen daneben, sieht sie, wie in etwa 300 Meter Entfernung eine Salve von Raketen in die Luft steigt. Aya kennt diesen Anblick, er ist Teil des Lebens so nahe an Gaza. Aber einen derartigen Beschuss hat sie noch nie gesehen, es ist ein Sperrfeuer aus Tausenden von Geschossen, die vom Gazastreifen ins israelische Gebiet fliegen. Sie springt vom Rad, legt sich am Straßenrand nieder, die Arme über dem Kopf. Autos halten an, einige Fahrer stehen auf, legen sich neben sie, andere filmen die Raketen mit ihren Handys.
Ayas Telefon klingelt, es ist ihr Mann Omri. „Aya, es passiert etwas, ich weiß nicht, was es ist, aber du musst zurückkommen“, sagt er. Omri ist zuhause mit den Kindern. Aya springt wieder auf ihr Rad. Auf der Zufahrtsstraße des Kibbuz laufen ihr drei junge Arbeiter entgegen, die winken und etwas rufen, das sie nicht versteht. Sie kennt die Gesichter. Aya bremst ab.
Die drei Männer sind Hisham Alkarnawi und zwei seiner Kollegen aus dem Kibbuz-Speisesaal. Es sind Beduinen aus der nahegelegenen Stadt Rahat. Mehr als 200.000 Beduinen leben laut Schätzungen in Israel, die meisten in der Region der Negev-Wüste im Süden. Sie sind israelische Staatsbürger, Muslime und bilden eine Untergruppe der arabischen Minderheit im Land, die wiederum fast ein Viertel der zehn Millionen Menschen im Land ausmacht. Die Beduinen sind darin eine eigenständige ethnische Gruppe mit eigenem Lebensstil. „Die meisten identifizieren sich als Israelis, nicht als Palästinenser“, so Nati Jefet, der als Sprecher für die zivilgesellschaftliche Organisation RCUVN arbeitet, das die Beduinengemeinschaft der nicht anerkannten arabischen Dörfer in Israel vertritt.
Nur noch wenige Beduinen leben in Zelten, die meisten wohnen in Siedlungen, Gemeinden und Städten, oft unter schwierigen Bedingungen. Viele sind arm. Knapp ein Drittel wohnt in Dörfern, die nie vom Staat offiziell anerkannt wurden, oft ohne Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung oder medizinischer Versorgung. An vielen Stellen fehlen Bombenschutzräume oder andere Luftschutzsysteme. Unter den ersten gemeldeten Todesopfern des 7. Oktober sind vier Menschen aus einem Beduinendorf, in das eine aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete einschlug.
Aya und die drei Beduinen kennen sich zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens am Kibbuz-Eingang nur vom Sehen. Was Aya nicht weiß: Die drei sind kurz zuvor bereits in die Hände der Terroristen gefallen.
Sie haben Glück: Weil sie Araber sind, nehmen die Terroristen ihnen nur die Handys ab und lassen sie laufen. So kommt es, dass sie Aya warnen können.
„Ihr vier geht jetzt los und rettet meinen Sohn“
„Es sind Terroristen im Kibbuz! Sie schießen auf alle, auch Kinder!“, schreien die Männer. Aya weiß, dass sie die Warnung der drei ernst nehmen muss. Sie wirft ihr Fahrrad weg und beginnt zu rennen, in Richtung eines Bunkers in der Nähe, in dem sie sich verstecken will. Die Fahrradschuhe bremsen ihren Lauf, Aya reißt sie sich von den Füßen, rennt weiter. Einer der Männer läuft mit ihr mit, es ist Hisham. Sie kennen sich nicht, aber sie rennt mit ihm um ihr Leben. „Mit wem laufe ich gerade weg?“, denkt sie, „mit dem Feind? Mit jemandem, der flieht? Mit jemandem, der mich retten will?“ Dann ruft ihr Bruder an und sagt, dass ein Radfahrer erschossen wurde, auf genau der Straße, auf der sie fliehen will. Aya begreift, dass sie nicht weglaufen kann. Sie sind umzingelt.
Es ist 6.45 Uhr. In der rund 40 Kilometer entfernten Stadt Rahat ruft Hishams Vater seine erwachsenen Neffen zu sich. Er sagt: „Ihr vier geht jetzt los und rettet meinen Sohn.“ Hisham hat ihm von Ayas Handy geschrieben. Er liegt mit Aya hinter einer Reihe von Dornenbüschen an einem Feldweg im Versteck. Seinem Vater schickt er den Standort. Die vier Cousins steigen in einen Jeep und machen sich auf den Weg, um sie zu retten. Die Autofahrt von Rahat nach Be’eri dauert normalerweise vierzig Minuten. An diesem Tag brauchen sie mehrere Stunden.
Ein Teil der Tragödie des 7. Oktobers liegt darin, dass die israelische Armee viel zu lange braucht, um den Terroristen entgegenzutreten. Erst nach Stunden reagiert das überrumpelte Militär und schickt Truppen. In dieser Zeit können 2.500 Terroristen rund 1.200 Menschen abschlachten, die meisten von ihnen Zivilisten, und etwa 240 Menschen in den Gazastreifen entführen. Es wären noch mehr gewesen, wenn nicht andere Menschen geholfen hätten, unbewaffnet und unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Viele davon arabische Israelis, wie Hishams Cousins.
„Wenn er mich hätte töten wollen, hätte er es schon getan“
Wie dieser Artikel entstanden ist
Als Hishams Cousins sich dem Kibbuz nähern, rennen ihnen verzweifelte Männer und Frauen entgegen. Kurz zuvor sind sie noch zu Trance-Musik in den Sonnenaufgang getanzt, beim Supernova-Rave in Re’im, knapp acht Kilometer südlich von Be’eri. Bis die Terroristen kamen. 260 Partybesucher werden an diesem Tag ermordet. „Ich erinnere mich an die toten Körper, die ich auf den Straßen, in den Feldern gesehen habe. Das ist etwas, das man nicht vergessen kann“, wird einer der Cousins, Ismail Alkrenawi, später in Interviews sagen. „Es war wie das Ende der Welt.“
Für die Cousins ist klar, dass sie den Flüchtenden helfen müssen. Sie halten, öffnen die Türen des Jeeps, fahren sie weg von dem Blutbad. Sie geben ihnen Wasser und ihre Handys, damit sie ihre Familien anrufen können. Dann kehren sie um und sammeln weitere Flüchtende ein. Zwei oder drei Stunden sind sie so unterwegs, retten Dutzende Menschen. Immer wieder schreibt Ismail Nachrichten an Ayas Handy. „Es ist alles in Ordnung, wir sind in der Nähe, bald sind wir da.“
Während all dieser Zeit liegt Aya mit Hisham im Versteck. Die beiden rühren sich so wenig wie möglich, wagen kaum zu atmen. Nonstop hören sie Schüsse. „Wenn ich den Kopf hebe, bekomme ich eine Kugel ab“, denkt Aya. Sie trägt ihren Fahrradhelm, das Visier hat sie abgenommen, damit sich das Licht nicht darin spiegelt und ihre Position verrät. Sie denkt an ihre Kinder, ihren Mann und betet, dass die Terroristen nicht in ihr Haus eindringen; macht Atemübungen, um sich zu beruhigen. Hisham hat eine arabische Tastatur auf ihr Handy heruntergeladen und schreibt, Aya hat keine Ahnung, was.
Aya sagt sich: „Wenn er mich hätte töten wollen, hätte er es schon getan.“ Auf der Straße donnern die Terroristen vorbei, sie fahren Motorräder, Autos, Quads, Traktoren. Über ihnen fliegen Hubschrauber und Raketen, es riecht nach Rauch. Aya und Hisham spüren die starke Druckwelle einer Explosion. Die Terroristen haben eine Granate in einen Luftschutzraum in unmittelbarer Nähe geworfen. Der Raum war voller Menschen.
„Aya, sie sind hier, sie sind tatsächlich hier“
Auch Ismail und die Cousins hören die Schüsse. Sie fahren auf sie zu. Nicht nur die wild fliegenden Kugeln und Raketen sind für sie gefährlich, auch die Terroristen. Sie können sich nicht darauf verlassen, verschont zu werden. Für manche der Hamas-Angreifer macht es keinen Unterschied, ob sie auf Juden oder Araber treffen. Mindestens 26 arabische Israelis töten die Terroristen an diesem Tag, sieben entführen sie nach Gaza. Sie ermorden auch einen arabischen Sanitäter, Awad Darawsha, der sich weigert, die Verletzten auf dem Rave-Gelände zu verlassen. Er war 23 Jahre alt.
„Aya, sie sind hier, sie sind tatsächlich hier“, sagt Hisham. Es ist bereits Nachmittag, seit Stunden liegen sie hinter den Dornenbüschen. Die Cousins haben ein Foto ihres Standorts geschickt, der Jeep steht direkt neben ihnen. Aya und Hisham rennen zum Auto, steigen ein, fahren los. Die Beduinen haben bei der Flucht einen Vorteil, das Gelände und seine Wege sind ihnen sehr vertraut. Sie wissen genau, wie sie fahren müssen. Die Flucht führt sie an verlassenen und verbrannten Autos vorbei, an Ruinen ohne jedes Lebenszeichen. Der Horizont in Richtung Gaza ist voller Rauch.
Und dann wird es noch einmal gefährlich. Die israelische Armee ist mittlerweile im Gebiet, sie sucht das Gelände ab. Eine Truppe der Soldat:innen sieht einen Jeep mit arabisch aussehenden Insassen, er fährt auf sie zu. Sie richten ihre Waffen auf Aya, Hisham und seine Cousins. Die Flüchtenden halten, steigen aus dem Auto und brüllen „Nein, nein, nein, wir sind Israelis, nicht schießen, nicht schießen!” In einem Blog beschreibt Aya später, wie sie die Anspannung in den Augen der Soldat:innen gesehen hat. „Wenn jetzt einer schießt, schießen alle“, denkt Aya. Ismail denkt an seine Kinder, an seine Mutter. Vorsichtig nähern sich die Soldaten, fordern Ausweise. Ayas Beine geben nach, sie bricht zusammen. „Wann hört es endlich auf?“, schluchzt sie. Ein Soldat fragt Aya, ob sie eine Geisel sei. „Nein, sie haben mich nicht entführt“, antwortet Aya. „Ich komme aus Be’eri und diese Männer sind aus Rahat, sie haben mich gerettet.“
Engel, Helden, Seelenbrüder
Bis zum 7. Oktober 2023 galt der Kibbuz Be’eri als einer der schönsten Orte des Landes. Rund tausend Menschen lebten hier. Er liegt im westlichen Negev, einem Gebiet mit grünen Hügeln, Bäumen, weiten und offenen Flächen, Baumwoll-, Weizen- und Gerstenfeldern. Besucher schwärmten von den malerischen Sonnenuntergängen. Viele der Menschen in Be’eri und in den benachbarten Gemeinden sind keine Hardliner, sie wählen linke Parteien und wünschen sich den Rückzug Israels aus den besetzten Palästinensergebieten. Eine Familie aus dem Nachbarkibbuz Kfar Aza wollte in diesem Jahr wieder ein Fest organisieren, bei dem die Teilnehmenden Drachen mit Friedensbotschaften in Richtung der nahegelegenen Gaza-Grenze schickten. Die Familie gehört zu den 1.200 Menschen, die an diesem Tag gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden.
Auch Ayas Freund Lior, mit dem sie am 7. Oktober morgens Fahrrad fahren wollte, wird auf dem Rückweg nach Hause erschossen. Ayas Mann, ihre Kinder und ihre Eltern aber überleben. Ihr Bruder ist schwer verletzt, seine Frau tot, die Tochter hat Splitter in den Beinen, der Sohn wurde angeschossen und verblutete, während sie auf Hilfe warteten. Als letzten Wunsch bat er seinen Vater, ihn mit seinem Surfbrett zu begraben.
Hishams zwei Kollegen aus dem Kibbuz-Speisesaal überleben.
Nach dem Massaker drehen israelische Aktivist:innen eine Dokumentation über Ayas Rettung. Der siebenminütige Film wird am 3. November 2023 um 14.27 Uhr in den israelischen sozialen Medien hochgeladen und geht sofort viral. Innerhalb von 48 Stunden wird er zwei Millionen Mal angesehen. Über 3.000 Kommentare stehen darunter. Es sind vor allem Kommentare wie diese:
Ihr seid Engel, Helden, Seelenbrüder.
Sehr berührend.
Ich wünsche mir, dass wir alle gemeinsam einen neuen Weg einschlagen.
Es gibt Hoffnung.
In dem Film sitzen Ismail und die Cousins auf einem gestreiften Sofa und sollen erklären, warum sie am 7. Oktober stundenlang Menschen gerettet haben. „Wir sahen Menschen in Lebensgefahr“, sagt Ismail. „Unser Gewissen erlaubte es uns nicht, sie dort unter Beschuss zu lassen.“ Der Wirbel, den das Video erzeugt, ist ihm zu viel. Heute möchte er nicht mehr interviewt werden. Vielleicht hat er auch Angst. Ein weiterer Retter aus Rahat, Joseph Elziadna, erzählte der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth, dass er nach dem Massaker telefonisch und auf sozialen Medien Drohungen bekam, weil er Juden gerettet hat.
„In der Vergangenheit gab es viel Hetze gegen die Beduinen“, sagt Nati Jefet, „vor allem von den Rechten. Man bezeichnete sie als Diebe und Landräuber. Nachdem jetzt klar wird, wie viele Beduinen am 7. Oktober Helden waren, ändert sich dieses Bild.“
Die Liste arabisch-israelischer Held:innen dieses Tages, Beduinen und andere, wird länger, je mehr Zeit vergeht und je mehr Geschichten ans Licht kommen. Gerade erst ging die Geschichte von Masad Armilat durch die israelischen Medien, der an einer Tankstelle in der Nähe der Stadt Sderot arbeitete und vierzehn Menschen vor den Terroristen versteckte. Oder Amer Abu Sabila, der in das Auto eines getöteten Mannes sprang, um dessen Frau und beiden Töchter aus der Schusslinie der Hamas zu bewegen. Er und die Mutter starben, die Kinder überlebten. Oder Sleman Shlebe, ein Beduine aus dem nördlichen Negev, der mithilfe von Whatsapp in kurzer Zeit rund 600 Freiwillige zusammentrommelte. Sie bildeten Notfallteams, sammelten Überlebende ein und brachten sie in Krankenhäuser, suchten Vermisste.
Gleichzeitig sind viele arabische Israelis innerlich zerrissen, jetzt noch mehr als früher: Im Krieg ist es unmöglich, sich zwischen ihren jüdischen und arabischen Mitmenschen für eine Seite zu entscheiden. „Die Hamas ruft uns die ganze Zeit dazu auf, sie zu unterstützen. Aber wir werden uns nicht gegen unser Land wenden. Ebenso ist eine Menge Schmerz in uns wegen der Menschen in Gaza“, sagt der palästinensische Friedensaktivist und Israeli Thabet Abu Rass, der selbst Familie in Gaza hat. Regev Contes, der den Film über Ayas Rettung und Hishams Familie gedreht hat, glaubt dennoch, dass die Ereignisse der vergangenen Wochen jüdische und arabische Israelis eher zusammenschweißen werden. Eine Umfrage des Israel Democracy Institut, die am 10. November 2023 veröffentlicht worden ist, ergab, dass der Prozentsatz der jüdischen und arabischen Israelis, die sich dem Staat Israel und seinen Problemen zugehörig fühlen, mit 94 Prozent bzw. 70 Prozent den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht hat.
Am Nachmittag des Tages ihrer Rettung sitzt Aya Meydan in einem Bus. Sie wird nach Be’er Sheva evakuiert, einer Stadt rund 40 Straßenkilometer südöstlich von Be’eri. Ihr Handy klingelt. Es ist Hishams Familie. „Aya, schau aus dem Fenster“, sagen sie. „Da neben euch ist unser Auto. Wir bleiben bei dir, bis du in Be’er Sheva ankommst. Wir lassen dich nicht allein.”
Quellen zu Hishams und Ayas Geschichte:
- Video der NGO „Have You Seen The Horizon Lately“
- Video des israelischen TV-Kanals 13
- Blogeeintrag von Aya Meydan
- Times of Israel
- Ynet
- The Jewish Chronicle
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert