Große Veränderungen beginnen manchmal mit kleinen Irritationen. Im Jahr 1988 begleitete der norwegische Soziologe Terje Rød-Larsen seine Frau Mona Juul auf einen Empfang in der norwegischen Botschaft in Kairo. Sie war Diplomatin im Dienst des skandinavischen Landes und solche Abende waren Teil des Arbeitsalltags. Bei diesem Empfang fiel Terje Rød-Larsen ein Mann auf: rundes Gesicht, braune Augen und ein breites Lächeln, das den Raum dominieren konnte.
Der Mann, der Larsen aufgefallen war, sah aus wie Yassir Arafat, der weltberühmte Palästinenserführer, der die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO leitete. Aber Arafat, also Yassir, ließ sich nirgendwo ohne das Kaki seiner Militäruniform und die schwarz-weißen Karos seines Kopftuchs blicken. Der Mann, der vor ihm stand, trug Anzug und Krawatte. Wer war das?
Larsen stellte sich ihm vor und tatsächlich: Es war ein Arafat, aber der Bruder Fathi, ein Arzt, der den palästinensischen roten Halbmond, eine Hilfsorganisation, gegründet hatte und nun den norwegischen Soziologen einlud, Feldstudien in den Palästinensergebieten durchzuführen. Larsen erforschte die Lebensbedingungen von Menschen auf der ganzen Welt.
So kam Larsen das erste Mal in den Nahen Osten und so begann an diesem Abend etwas, was später als „Oslo-Friedensprozess“ in die Geschichte einging. Denn Larsen und seine Frau waren es, die geheime Treffen zwischen Israelis und Palästinensern Anfang der 1990er Jahre organisiert hatten. Während in Washington die offiziellen Verhandlungen unter Schirmherrschaft der USA immer wieder ins Stocken gerieten, einigten sich fernab der Kameras eine palästinensische und eine israelische Delegation im direkten Gespräch auf Prinzipien, die in die Oslo-Abkommen mündeten. Das war damals eine Sensation.
Nie wieder waren die beiden Völker einem Frieden so nah wie zu dieser Zeit. Und seitdem waren sie nie so weit davon entfernt wie heute. Doch was damals auf der Dinnerparty einer norwegischen Botschaft begann, kann uns heute zeigen, wie Israel und Palästina in Frieden miteinander leben könnten. Denn nein, den Konflikt zu lösen, ist nicht aussichtslos. Er hat aber Eigenschaften, die eine dauerhafte Lösung deutlich schwerer machen als bei anderen Konflikten. Aus diesen Eigenschaften wiederum ergeben sich Bedingungen für einen Frieden. Und in diesem Essay werde ich euch zeigen, was diese Eigenschaften und Bedingungen sind. So viel vorweggenommen: Die Innenpolitik Israels und die Innenpolitik der Palästinenser ist der Schlüssel. Dort muss beginnen, was im Frieden enden kann.
Seit die palästinensische Hamas in einem Terrorangriff mehr als 1.200 Israelis getötet und weitere 250 in den Gaza-Streifen verschleppt hat, bombardiert die israelische Armee die Zwei-Millionen-Enklave am Mittelmeer und hat Ende Oktober eine Bodenoffensive in dem Küstenstreifen begonnen. Gleichzeitig greift die Hamas israelische Städte jeden Tag mit Raketen an. Es ist – das signalisieren Offizielle beider Seiten – nicht die Zeit zum Reden gekommen, sondern die Zeit zum Kämpfen.
Gerade an Frieden zu denken, ist schwer – aber es gibt einen guten Grund es zu tun
Allerdings hat der Hamas-Angriff die Frage nach dem zukünftigen Zusammenleben wieder in die Debatten geschoben. Dafür gibt es viele Beispiele, auch in Israel. Ein Video, das direkt nach den Anschlägen in Israel viral ging, bringt die Sache auf den Punkt. Darin sehen wir, wie die Umwelt-Ministerin Idit Silman, aus der Partei von Benjamin Netanjahu, von einem Krankenpfleger aus einem Krankenhaus geworfen wird. „Du hast dieses Land ruiniert, du hast die Verhandlungen ruiniert. Raus hier! Wir sind jetzt dran. Wir werden helfen. Rechts, Links, ein gemeinsames Volk. Ohne dich!“ Das sind Sätze wie Faustschläge.
Zugegeben: Es ist gerade schwer, an einen neuen Friedensprozess zu glauben. Doch das war es auch 1987, als der erste Aufstand der Palästinenser begann und kurz danach Terje Rød-Larsen in der norwegischen Botschaft von Kairo Fathi Arafat traf, einen Freund gewann und sich ein Tor zu einer Lösung öffnete.
Wer aber nicht weiß, wie die Bedingungen für Frieden aussehen, wird niemals einen Friedensprozess anstoßen können. Wer es weiß, erkennt Möglichkeiten, die anderen verborgen bleiben. Der israelische Ex-Justizminister Jossi Beilin, einer der Verhandler im Oslo-Prozess, sagte später: „Ich wurde von den vielen Gelegenheiten zum Frieden geplagt, die in der Vergangenheit verpasst worden waren. Ich hatte von ihnen erfahren, über sie unterrichtet, über sie geschrieben und mir geschworen, dass ich niemals eine solche Gelegenheit verstreichen lassen würde, sollte ich jemals in einer einflussreichen Position sein.“
Warum dieser Konflikt so vertrackt ist
Der Israel-Palästina-Konflikt gehört zu den vertracktesten der Welt, weil er Eigenschaften hat, die jede für sich ausreichen würde, um eine Lösung zu verhindern. Irgendjemand muss etwas verlieren, damit es zu einer Einigung kommen kann: Er ist ein Nullsummenspiel. Er strahlt weit über die Region hinaus: Der Konflikt ist globalisiert. Und die Konfliktparteien sind sehr verschieden.
Auf manchen Hügeln des Westjordanlandes schaut man nach links und sieht eine israelische Siedlung, schaut nach rechts und sieht die Mauer, schaut nach unten ins Tal und blickt auf die Dächer einer palästinensischen Stadt. Wer verhandelt, sucht normalerweise nach Lösungen, bei der beide Seiten gewinnen. Das ist hier, jedenfalls wenn wir nur eng auf das Territorium blicken, nahezu unmöglich. Und weil das Land, um das es geht, relativ klein, aber religiös aufgeladen ist, schmerzt jeder verlorene Quadratmeter umso mehr. Es ist einfach, mit einem Federstrich ein paar Hektar Wüste abzugeben. Aber es ist schwer, das Gleiche mit dem Ort zu tun, an dem der Prophet der eigenen Religion in den Himmel aufgefahren oder eine der Erzmütter Israels begraben sein soll.
Aber Land abgeben müssen beide Seiten, wenn es einen stabilen Frieden geben soll. Das zeigt ein Blick auf eine aktuelle Karte des Westjordanlandes.
Israel wird in potenziellen Verhandlungen über endgültige Grenzen vor allem grenznahe Siedlungen wie Beitar Illit und Modiʿin Illit annektieren wollen. Den Palästinensern wiederum wird es wichtig sein, ein möglichst großes zusammenhängendes Staatsgebiet zu bekommen, in dem der Gaza-Streifen und das Westjordanland verbunden sind.
Obwohl es um vergleichsweise wenig Landfläche geht, schaut wortwörtlich die halbe Welt genau hin. Knapp vier Milliarden Menschen glauben weltweit an Jahwe (Judentum), Allah (Islam) oder den christlichen Gott. Sie alle sitzen indirekt am Verhandlungstisch und mit ihnen Regierungen, die nicht nur Gebete in den Nahen Osten schicken, sondern auch Gelder und Waffen. Groß- und Mittelmächte wie die USA, EU, Saudi-Arabien oder Iran haben eigene Interessen und versuchen, diese auf dem Territorium von Israel und Palästina durchzusetzen. Jede Lösung muss mit oder gegen diese Mächte ausgehandelt werden. Ein Beispiel: Der Iran hat die radikalislamische Hamas jahrelang direkt unterstützt. Warum sollte er das nicht auch mit einer etwaigen Nachfolgeorganisation tun, wenn Israel es tatsächlich gelingen sollte, die Hamas entscheidend zu schwächen?
Ist diese Hürde genommen, bleibt die letzte und schwierigste: die innenpolitische. Sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft sind stark gespalten. Lange bevor „Polarisierung“ zur Zeitgeistdiagnose westlicher Gesellschaften wurde, dominierten gesellschaftlich, religiös und politisch extreme Parteien Teile der jeweiligen Politik.
Bei den Palästinensern waren es die rechtsextreme Hamas, beziehungsweise der Islamische Dschihad. In Israel sind es national-religiöse Gruppen, die im extremsten Fall zu politischen Morden (Attentat auf den israelischen Premierminister Yitzak Rabin) und auch zu Terrorismus griffen (Anschlag auf eine Moschee in Hebron 1994). Es müssen im Nahostkonflikt also zwei in sich bereits gegensätzliche und widersprüchliche Gruppen einen Frieden finden. Diese beiden Gruppen sind an sich aber nochmal sehr unterschiedlich: Israel ist ein Staat, Palästina ist es nach gängiger Definition nicht. Überall, wo die Palästinenser formell das Sagen haben, hat im Zweifel Israel die Gewalthoheit.
Nullsummenspiel, Globalisierung, Unterschiede zwischen den Konfliktparteien – zusammen ergeben diese Eigenschaften ein Knäuel, das sich umso fester zusammenzuziehen scheint, je mehr man an einem der Fäden zieht, um es aufzulösen. Ein Friedensprozess, der erfolgreich sein soll, muss dieses Knäuel entweder mit einem Schlag zertrennen oder in geduldiger Kleinarbeit Faden für Faden herauslösen. Alle Friedensversuche der Vergangenheit versuchten, die Fäden einzeln zu lösen. Vielleicht scheiterten auch deswegen alle Versuche.
Welche Lösung kommt? Das ist die falsche Frage
Wir nehmen mit: Welche Lösung zustande kommt, ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, wie diese Lösung zustande kommt. Vor allem in den Massenmedien aber dominiert die Frage nach der Art der Lösung. Es gibt so viele Artikel, die fragen, ob die „Zwei-Staaten-Lösung tot“ sei, dass sie ein eigenes journalistisches Untergenre bilden könnten. Dabei ist das die falsche Frage. Keine Lösung hat eine Chance, wenn sie nicht von den palästinensischen und israelischen Gesellschaften mitgetragen wird. Die richtige Frage ist: „Wie steht es um den Friedensprozess?“ Und der starb bereits 1996, als die Hamas mit Selbstmordanschlägen auf das Oslo-Abkommen reagierte und die Israelis daraufhin nicht den Oslo-Unterstützer Schimon Peres zum Ministerpräsidenten wählten, sondern Benjamin Netanjahu, der versprach „einen sicheren Frieden zu schaffen“. Nur wenige Monate nach Amtsantritt begann Netanjahu, neue Siedlungen im Westjordanland zu genehmigen. (In der Anmerkung findest du dennoch einen Überblick über Lösungsmodelle für einen Frieden.)
Der norwegische Soziologe Terje Rød-Larsen wusste, dass es darauf ankommt, wie sich Israelis und Palästinenser begegnen und richtete deswegen seine ganze Strategie danach aus. Als er Anfang der 1990er Jahre beide Seiten nach Oslo einlud, war der Zeitpunkt günstig für Verhandlungen. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) war Ende der 1980er Jahre die wichtigste politische Organisation der Palästinenser. Sie hatte unter Yassir Arafat im Zuge des ersten gewaltsamen Aufstandes (1. Intifada, 1987-1993) gelernt, dass sie zwar großen Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung hatte, aber selbst massenhafter bewaffneter Widerstand aussichtslos war. Sie brauchte einen neuen Weg.
Israel wiederum hatte sich nach der Besetzung des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes lange der Illusion hingegeben, dass es diese Besatzung durchziehen könne, ohne seine eigene Sicherheit und internationale Unterstützung, vor allem durch die USA, zu gefährden. Die erste Intifada veränderte das strategische Kalkül Israels und die Debatte im Land. Es entstand jeweils ein neuer innenpolitischer Konsens, womit eine der drei Eigenschaften, die diesen Konflikt so vertrackt machen, in ihrer Wirkung abgeschwächt wurde.
Aber auch eine zweite Eigenschaft erwies sich damals als nicht mehr ganz so mächtig: Die Globalisierung des Konfliktes schwächte sich für ein paar Jahre ab, weil das Ende des Kalten Krieges mit der Sowjetunion den USA mehr diplomatischen und strategischen Spielraum im Nahen Osten gab. Gleichzeitig kam es im Zuge des Kuwait-Krieges 1990-1991 zu einem diplomatischen Zerwürfnis zwischen den reichen Golf-Staaten und den Palästinensern, wodurch Länder wie Saudi-Arabien eher bereit waren, eine Friedenslösung zu unterstützen, die indirekt Israel anerkennt.
Was Oslo wirklich möglich machte
Diese Gemengelage öffnete ein Fenster für Verhandlungen, die Palästinenser und Israelis offiziell in Madrid und Washington zunächst vergebens führten und inoffiziell in Oslo zum Erfolg brachten. Das Vorgehen Larsens unterschied sich dabei deutlich vom Vorgehen der USA, die die offiziellen Verhandlungen begleiteten und eigene inhaltliche Vorstellungen hatten. „Larsen vertrat den Grundsatz, dass Vertrauen nur dann aufgebaut werden kann, wenn die Parteien ihre eigenen Probleme lösen. Ein Mediator sollte sich auf vertrauensbildende Maßnahmen konzentrieren und es vermeiden, sich mit dem Inhalt der Verhandlungen zu befassen“, schrieb die schwedische Politikwissenschaftlerin Karin Aggestam in einer Analyse der Strategie.
Parallel zu den offiziellen Verhandlungen baute Larsen deswegen einen diplomatischen Geheimkanal auf, der nur ein Ziel hatte: Vertrauen schaffen. Die wichtigste Bedingung: Alles musste geheim bleiben. Die offiziellen Verhandlungen kamen auch deswegen nicht voran, weil Verhandlungsinhalte durchgestochen wurden und für einen öffentlichen Aufschrei sorgten. Larsen nutzte sein Forschungsinstitut als Tarnung. Die ersten Treffen waren geheim, aber wären sie bekannt geworden, wären sie nur „Workshops“ gewesen. Vereinbarungen schrieben die Verhandler auf Instituts-Computern und druckten sie auf Instituts-Briefpapier aus. Im Zweifel hätte Larsen glaubhaft behaupten können, dass das alles nur interne Dokumente seines Instituts seien.
Für die israelische Seite verhandelten der Historiker Ron Pundak und Yair Hirschfeld, ein Wirtschaftsprofessor aus Haifa. Für die palästinensische Ahmed Qurei, besser bekannt als „Abu Ala“, der sich um die Finanzen der PLO kümmerte. Hirschfeld und Qurei hatten schon seit 1989 immer wieder Kontakt, sahen sich aber in Oslo zum ersten Mal persönlich. Nach eigener Aussage sagte Larsen den Männern: „Wenn Sie beide es schaffen wollen, zusammenzuleben, müssen Sie dieses Problem zwischen Ihnen lösen. Das Problem gehört Ihnen. Wenn Sie Hilfe von uns brauchen, bitten Sie uns darum. Wir können Geld, Häuser, Dienstleistungen anbieten – und wir können am Telefon vermitteln. Nach dem Mittagessen sollten Sie in den Besprechungsraum gehen und ich werde draußen auf Sie warten – es sei denn, Sie geraten in Handgreiflichkeiten.“
Zum Glück musste Larsen nie einschreiten. Die Männer verstanden sich gut und nach nur zwei Treffen hatten sie sich bereits auf grundlegende Prinzipien geeinigt, die wegweisend für die restlichen Verhandlungen wurden: Die Debatten sollten sich auf Inhalte, nicht auf Protokollfragen konzentrieren, dabei allerdings nach vorne schauen und nicht darüber debattieren, wem nach historischem Recht das Land gehörte. Die Ergebnisse sollten in die offiziellen Verhandlungen einfließen.
Larsens Geschick als Mediator und die Ernsthaftigkeit der Verhandler brachten diese Verhandlungen schließlich zum Erfolg und mündeten im Oslo-Abkommen, in dem sich beide Seiten zum ersten Mal offiziell anerkannten. „Der Oslo-Kanal war erfolgreich“, sagte Abu Ala später, „weil beide Partner ihn frei gewählt hatten“.
Die Bedingungen heute geben Anlass für vorsichtigen Optimismus
Gibt es heute so einen Kanal? Das ist unbekannt (und sollte es auch sein). Aber die Interessenslagen sind anders als 1989. Die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, hatte bislang kein Interesse an direkten Gesprächen, und die Fatah, die das Westjordanland kontrolliert, hat kaum noch Rückhalt in der dortigen Bevölkerung. Israel wiederum konnte die Anschlags-Serie der Hamas nach dem Oslo-Abkommen mit einer Mischung aus Mauerbau und anderen Repressionen beenden und sich bis zum 7. Oktober in Sicherheit wiegen. Es spricht also nicht viel dafür, dass gerade irgendwo auf der Welt israelische und palästinensische Verhandler vertrauensbildende Waldspaziergänge unternehmen, die den Weg für ein politisches Abkommen ebnen könnten. Im Gegenteil: Wenn der Oslo-Prozess der Maßstab ist, muss es mutmaßlich noch schlimmer kommen, ehe es besser wird. Wie während der ersten Intifada müssen die Konfliktparteien erkennen, dass sie in einer Sackgasse stecken.
Die Chance, dass sie das erkennen, steht inzwischen ganz gut. Das ist eine paradoxe Folge des Hamas-Angriffs und des Gaza-Kriegs. Denn alle Akteure sind strategisch gescheitert, jeder aber auf seine Weise.
Nehmen wir den Westen. Jeder kann jetzt sehen, was Analysten, Politiker und viele Menschen vor Ort schon seit mehr als einem Jahrzehnt sagen, aber noch nicht offizielle Haltung der EU und der USA ist: Der Friedensprozess von Oslo ist tot. Sein Ziel, eine Zwei-Staaten-Lösung, hat er nie erreicht.
Und heute, nach all den Beleidigungen, Verhaftungen, Anschlägen und Morden der letzten Jahrzehnte, ist die Situation vertrackter, als sie es Anfang der 1990er Jahre war, als die Oslo-Abkommen abgeschlossen wurden. Wer nach dem Mauerfall in Israel oder Palästina geboren wurde, kennt nichts anderes mehr als Konfrontation und Krieg. Wer davor geboren wurde und tatsächlich auf Frieden hoffte, wurde schwer enttäuscht.
64 Prozent der Palästinenser glauben, dass ihre Situation heute schlechter ist als vor der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens. Nur noch jeder Dritte Israeli hält eine friedliche Koexistenz mit einem palästinensischen Staat für möglich, vor zehn Jahren sagte das noch jeder zweite. In der israelischen Regierung sitzen Minister, die offen dafür werben, das Westjordanland, in dem drei Millionen Palästinenser leben, zu annektieren. Und der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, die es nur wegen der Oslo-Abkommen gibt, hat es bis heute nicht geschafft, den Terrorangriff der Hamas klar zu verurteilen. Die Behörde entfernte sogar wieder ein Statement von ihrer Webseite, in dem PLO-Präsident Mahmud Abbas sagte, dass die Hamas nicht das palästinensische Volk repräsentiere.
Von den vornehmen israelischen Wohngegenden in Jerusalem zum Verwaltungssitz der Palästinenser:innen in Ramallah sind es nur zwölf Kilometer Luftlinie. Aber dazwischen verläuft eine mentale Grenze, die in der tatsächlich vorhandenen neun Meter hohen Mauer, die beide Städte trennt, ihr stärkstes Symbol gefunden hat. Die internationale Gemeinschaft ist mit ihrer Oslo-Strategie gescheitert.
Gescheitert ist aber auch die derzeitige israelische Regierung. Benjamin Netanjahu konnte den Konflikt in seiner 17-jährigen Amtszeit nicht lösen. Das hatte er auch nicht vor – er wollte ihn nur mit niedriger Intensität verwalten. „Den Rasen mähen“ nannten Analysten so zynisch wie treffend die alle paar Jahre regelmäßig stattfindenden Bombardements von Hamas-Stellungen im Gaza-Streifen. Netanjahu setzte darauf, dass die Welt und vor allem die anderen arabischen Staaten, die sich jahrzehntelang als Schutzmächte der Palästinenser gerierten, den Konflikt langsam vergessen. Gleichzeitig ist noch immer unklar, was genau die Hamas mit ihrem Angriff bezweckte. Mittelfristig gibt es für die Palästinenser im Moment keinen realistischen Weg, ihr Ziel eines eigenen Staates zu erreichen.
Dass die Hamas und die israelische Regierung mit ihren bisherigen Strategien gescheitert sind, bedeutet: Es öffnet sich ein Fenster. Das allein reicht aber nicht, es müssen weitere Bedingungen erfüllt sein.
Was noch passieren muss, damit die Wahrscheinlichkeit eines neuen Friedensprozesses steigt
Die erste Bedingung ist, dass die Hamas in Gaza und die nationalreligiöse Regierung in Israel ihre Macht verlieren. Denn beide haben kein ernsthaftes Interesse an Verhandlungen. Bei Oslo war die erste Intifada der Katalysator für Verhandlungen; dieses Mal könnte es der Gaza-Krieg sein – wenn er mit der Entmachtung der Hamas in Gaza und dem Zerfall der regierenden nationalreligiösen Koalition endet. Denn diese hat alles getan, um direkte Verhandlungen mit Palästinensern zu vermeiden.
Der erste Satz im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung lautet: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel […] – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.“„Judäa und Samaria“ – das ist das komplette Westjordanland. Ihren Anspruch setzte die Regierung immer wieder durch. Sie unterstützte Siedler im Westjordanland militärisch und finanziell. Heute stehen auf dem Land, das nominell einmal Teil eines palästinensischen Staates sein soll, 250 Siedlungen und Außenposten. De facto gibt es also bereits eine Art Ein-Staaten-Realität.
Hat die Hamas die Kontrolle verloren und ist die aktuelle israelische Regierung zerbrochen oder abgewählt, sind aber nur eine von drei absolut grundlegenden Bedingungen für einen neuen Friedensprozess erfüllt. Die zweite Bedingung lautet: Auch die jeweiligen Völker müssen wollen. Lange vor dem Hamas-Terror waren die Zustimmungsraten für die Zwei-Staaten-Lösung allerdings auf historischen Tiefständen angelangt. Nur 33 Prozent der befragten Israelis und 34 Prozent der befragten Palästinenser sprachen sich dafür aus. Der niedrigste Wert seit Beginn der Erhebungen 2016.
Zum Vergleich: Für das Karfreitagsabkommen, das den Nordirland-Konflikt beendete, sprachen sich bis zu 75 Prozent der Menschen aus. Oft wird gesagt, dass der „politische Wille“ für eine Lösung fehle, geradeso, als käme es nur auf die Motivation einzelner Politiker:innen an. Aber politischer Wille beginnt in der Bevölkerung; nur von ihr könnten sich israelische und palästinensische Verhandler die Legitimation holen. Und nur dort würde auch die Kraft erwachsen, den Terror der Extremen zu entmachten. Nach dem Karfreitagsabkommen gab es auch in Nordirland noch weitere Anschläge, die allerdings politisch komplett folgenlos blieben. Die Mehrheit hatte sich bereits entschieden. Das steht im starken Gegensatz zu den Anschlägen, die den Oslo-Friedensprozess zügig wieder beendeten.
Was war für Oslo noch nötig? Das geopolitische Timing hat gepasst. Das ist die dritte Bedingung, die auch jetzt für einen Frieden notwendig ist. Die Groß- und Regionalmächte arbeiteten entweder aktiv für eine Lösung oder waren zumindest nicht dagegen. Die Situation ist heute ähnlich: Im Jahr 2020 schlossen vier arabische Staaten Normalisierungsabkommen mit Israel ab; Verhandlungen mit Saudi-Arabien liefen bis zum Hamas-Terror am 7. Oktober und könnten danach wieder aufgenommen werden. Auf der anderen Seite ist die Lage deutlich komplizierter als noch 1993. Ein echtes Friedensabkommen müsste auch von nicht-staatlichen Akteuren wie der libanesischen Hisbollah und vor allem auch vom Iran mitgetragen werden, der Schutzmacht und Förderer einer ganzen Reihe von israelfeindlichen Milizen ist. Die iranische Regierung zieht allerdings aus ihrem Israelhass wichtige politische Legitimation.
Zu Ende gedacht – vierte Bedingung – bedeutet all das, dass es nicht reichen wird, wenn Israelis und Palästinenser ein Abkommen unterzeichnen. Es reicht nicht, einzelne Fäden über Jahrzehnte aus dem Knäuel zu lösen; es muss mit einem Schlag getrennt werden. Der Iran, Saudi-Arabien, die libanesische Miliz Hisbollah, die jemenitischen Huthis und andere für den Konflikt wichtige arabische Staaten wie Jordanien und Ägypten müssten mit am Tisch sitzen. In vielen Aspekten ähnelt der Nahostkonflikt dem Nordirland-Konflikt, bei dem zwei Regierungen und acht nichtstaatliche Gruppen ein Abkommen aushandelten, das anschließend in zwei Volksabstimmungen den Bürgern vorgelegt wurde.
Das große Friedensabkommen
Inzwischen, 30 Jahre nach den ersten geheimen Verhandlungen, sieht das auch der Norweger Terje Rød-Larsen so. Es brauche nun einen „grand bargain“, einen großen regionalen Kompromiss, wie er der emiratischen Zeitung The National sagte.
Rød-Larsens These wird unterstützt durch das, was wir heute über den Oslo-Prozess wissen. Die Friedensforscherin Hilde Henriksen Waage schrieb 15 Jahre nach den ersten Treffen: „Letztendlich sind die Ergebnisse, die von einem schwachen Vermittler erzielt werden können, nicht besser, als die starke Partei es zulassen wird.“
Der Oslo-Prozess versuchte, Vertrauen zu schaffen und war darin auch erfolgreich. Aber alle Abmachungen fielen zügig in sich zusammen, weil Israel als Staat so stark und die Palästinenser ohne Staat so schwach sind und dieses Ungleichgewicht nie aufgehoben werden konnte. „Das Problem bei diesem gesamten Ansatz ist, dass es nicht um Vertrauen geht, sondern um Macht. Der Mediationsprozess verschleiert diese Realität“, schreibt Waage.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger