In der Theorie und in der Werbung sieht alles ganz einfach aus: Lachende Menschen in schicken Schürzen stehen, mit leuchtend buntem Gemüse in der Hand, am Herd einer perfekt ausgestatteten Küche. Entspannt rühren sie mit Holzlöffeln in glänzenden Töpfen oder schneiden mit teuren Messern mageres Fleisch in mundgerechte Stücke. Die Zutaten sind natürlich alle frisch, bestimmt auch ökologisch angebaut, aus der Region und passen zur Jahreszeit. Es gibt keine Tomatensoßenspritzer an den Fliesen, kein dreckiges Geschirr stapelt sich im Spülbecken und selbstverständlich krabbeln auch keine quengelnden Kindergartenkinder zwischen den Beinen der Köch:innen herum. So schön kann selber kochen sein!
In der Praxis ist es leider ganz anders. Und das fängt schon damit an, dass man oft weder genug Zeit zum Einkaufen noch Lust aufs Kochen hat, weil der Alltag einfach stressig ist.
KR-Leserin Anna kennt das Problem. Sie hat öfter Stress und kann sich dann nicht ausgewogen ernähren. Deshalb fragt sie sich: Brauche ich vielleicht Nahrungsergänzungsmittel? So wie Anna geht es vielen Menschen: Sie sind unsicher, ob ihr Lebensstil ihrer Gesundheit schadet und möchten gerne ausgleichen, was sie vermeintlich falsch machen. Die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln (kurz: NEM) nutzen diese Unsicherheit, um ihre Mittel zu vermarkten. Sie werben etwa damit, dass bestimmte Vitamine dem Körper helfen können, besser mit Stress klarzukommen. Das klingt plausibel, heißt aber nicht, dass du weniger Stress hast oder gesünder wirst, wenn du NEM einnimmst. Es ist gar nicht so leicht herauszufinden, wann es sinnvoll ist, extra Portionen Vitamine, Mineralien und anderes zusätzlich zu nehmen.
Gleich vorweg: Zu NEM könnte man ein dickes Buch schreiben und hätte dann wahrscheinlich immer noch nicht alles gesagt. Aber es gibt ein paar Fragen, die dir bei der Entscheidung dafür oder dagegen helfen können.
Zuerst wäre zu klären, was NEM genau sind und wie eine ausgewogene Ernährung aussieht. Dann stellt sich die Frage, welche Folgen es hat, wenn du die empfohlenen Ernährungsregeln nicht einhalten kannst – für eine gewisse Zeit oder für länger. Auch wichtig: Welche Interessen haben eigentlich die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln? Und was ist mit dem Grundproblem, dem Stress?
Was sind Nahrungsergänzungsmittel?
NEM sind keine Medikamente, obwohl sie meistens als Tabletten oder Dragees angeboten werden. Rechtlich gelten sie als Lebensmittel. Sie enthalten Konzentrate von Nährstoffen, Mineralien oder anderen Stoffen, wie etwa sekundäre Pflanzenstoffe. Sekundäre Pflanzenstoffe sollen gesundheitsfördernde Wirkung haben. Die natürlichen Farbstoffe in Obst und Gemüse senken vermutlich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ob sie das auch tun, wenn man sie isoliert und hochkonzentriert zu sich nimmt, ist allerdings bisher nicht bewiesen. Da NEM keine Arzneimittel sind, sondern Lebensmittel, müssen sie genau so wenig behördlich zugelassen werden wie Butter oder Kakaopulver – die Hersteller müssen selbst prüfen, ob sie ihre Produkte verkaufen dürfen.
Das heißt: Keine offizielle Stelle prüft Nutzen und Risiken der Produkte, bevor sie auf den Markt kommen. Und das ist ein großes Problem, wie wir gleich sehen werden.
Bevor es weitergeht: Danke an alle, die mir bereits eine Frage zugeschickt haben. Hast du auch eine Frage? Mach hier mit bei meiner Umfrage!
Hersteller dürfen gesundheitsbezogene Aussagen zu ihren Produkten machen. Das sind sogenannte Health Claims. So dürfen sie zum Beispiel unter bestimmten Bedingungen schreiben: „Calcium trägt zu einer normalen Muskelfunktion bei“. Die EU erlaubt insgesamt 222 gesundheitsbezogene Aussagen für Vitamine und Mineralstoffe, die Verbraucherzentrale erklärt, was es mit dieser Liste auf sich hat: Es fehlen noch Regelungen zu anderen Stoffen, die als NEM verkauft werden, zum Beispiel eben Pflanzenextrakte.
Weil NEM rechtlich zu den Lebensmitteln zählen, darf Werbung für NEM keine Heilversprechen beinhalten. NEM sollen die Ernährung von gesunden Personen ergänzen. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) erklärt den Unterschied zwischen Lebens- und Arzneimitteln so:
Was genau ist eigentlich eine ausgewogene Ernährung?
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sagt: „Bei einer ausgewogenen Ernährung bekommt der Körper alle Nährstoffe, die er braucht.“ Über Ernährung wird inzwischen fast so kontrovers diskutiert wie über Politik – deshalb gibt es wohl keine Definition davon, was ausgewogen bedeutet, mit der alle einverstanden sind.
Die meisten können aber wahrscheinlich den 10 Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung im Grundsatz zustimmen. Sie basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Kurz zusammengefasst sagen sie: Man sollte sich überwiegend pflanzlich ernähren, die volle Vielfalt des Angebots ausnutzen, wenig Zucker und Salz verwenden und sich genügend Zeit zum Essen nehmen. Außerdem sollte man täglich Lebensmittel aus sieben Gruppen essen. Der Ernährungskreis der DGE zeigt, in welchem Verhältnis.
Diese Grundsätze sind dir bestimmt nicht neu. Trotzdem wirst du sie nicht immer befolgen, selbst wenn sie dich überzeugen. Ein stressiger Job, Zeitdruck, wenig Geld, emotionale Ausnahmezustände, moralische Bedenken, Feste und lustige Abende mit Freunden – all das liefert reichlich Gründe, von den Empfehlungen abzuweichen. Der schnelle Snack, das bequeme Fertigessen, Süßigkeiten und Chips zum Glas Wein oder dem Feierabendbier – ich brauche es nicht zu erklären: Das schlechte Gewissen isst ziemlich oft mit.
Auch wenn man sich gesund ernährt, kann Nährstoffmangel entstehen
Probleme entstehen dadurch nicht unbedingt. Solange sich Ungesundes in Maßen hält und nicht zur Regel wird. Wer jedoch kaum noch selbst kocht oder fast immer dasselbe, wer selten frisches Obst und Gemüse isst, wer das empfohlene Verhältnis der Lebensmittel ständig missachtet, kann in Schwierigkeiten kommen. In der Regel dauert es eine Zeitlang, bis der Körper rebelliert. Erst ein länger anhaltendes Über- oder Unterangebot von Nährstoffen hat Folgen.
Trotzdem lässt sich eine unausgewogene Ernährung nicht mit NEM ausgleichen. Darauf weist das BfR ausdrücklich hin: „Auf der anderen Seite kann eine einseitige, unausgewogene Ernährungsweise nicht durch Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln ausgeglichen werden.“
Allerdings ist es in bestimmten Fällen doch sinnvoll, gezielt Nährstoffe einzunehmen, zum Beispiel in der Schwangerschaft. Mediziner:innen empfehlen Schwangeren zusätzlich Folsäure einzunehmen, um bestimmte Fehlbildungen zu verhindern. Frauen, die eine starke Regelblutung haben, können Eisenmangel entwickeln. Davon sind auch Vegetarier:innen und Veganer:innen häufiger betroffen. Auch ihnen empfiehlt die Medizin, unter anderem Eisen zuzuführen.
Das Gemeine: Auch wenn man sich eigentlich gesund ernährt, kann Nährstoffmangel entstehen. Ein Beispiel dafür ist Jod. Der Jodgehalt von Nahrungsmitteln schwankt. Da der Boden in Bergregionen besonders jodarm ist, litten die meisten Menschen in diesen Gegenden bis vor hundert Jahren an starken Mangelerscheinungen. Sehr eindrücklich war das in der Schweiz, wo so viele Menschen Jodmangelerscheinungen hatten wie nirgendwo sonst auf der Welt. Nachdem Speisesalz (und Tierfutter) mit Jod versetzt wurde, verschwand das Problem – fast. Denn inzwischen nimmt Jodmangel in Deutschland wieder zu.
Einseitige Ernährung oder bestimmte Lebensumstände können also durchaus Nährstoffmangel auslösen, der zu gesundheitlichen Problemen führt. Häufiger als andere Altersgruppen betrifft das alte Menschen. Krankheiten führen häufiger zu einem Nährstoffmangel als schlechte Ernährung – nicht nur Essstörungen oder Süchte, sondern auch chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder belastende Behandlungen, wie zum Beispiel eine Chemotherapie. Manchmal spielen auch genetische Faktoren eine Rolle, zum Beispiel bei einem Vitamin-D-Mangel, den laut Robert-Koch-Institut circa 30 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben.
Die Folgen des Mangels können je nach Nährstoff sehr unterschiedlich sein. Bei Vitamin-D-Mangel kann es zu Depressionen, Muskelschwäche oder Knochenschmerzen kommen. Bei Eisenmangel zu Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel. Zu wenig Vitamin C kann anfällig für Infekte machen, zu wenig Vitamin A zu Sehstörungen oder Nachtblindheit führen und ein Vitamin-B-12-Mangel zu Gedächtnisschwäche und neuropsychologischen Symptomen, zum Beispiel Depressionen.
Das heißt aber nicht, dass eine zusätzliche Einnahme dieser Vitamine alle mit einem Mangel assoziierten Gesundheitsprobleme verhindert. Das ist ein häufiger Irrglaube, wie ich im Artikel Wie du falsche Gesundheitsexperten durchschaust erkläre. Diesen Fehlschluss nutzen die Hersteller von NEM schamlos für die Vermarktung aus.
Die Tricks der Hersteller
Influencer:innen, Werbung in Zeitschriften, falsche Ärzt:innen, Postwurfsendungen: Hersteller geben viel Geld aus, um ihre Mittel unter die Leute zu bringen. Dabei schüren sie häufig ganz gezielt die Furcht vor einem Nährstoffmangel.
Sie behaupten, dass unsere Lebensmittel wegen der Anbaumethoden der Landwirtschaft und den ausgelaugten Böden immer weniger Nährstoffe enthalten. Was stimmt: Moderne Züchtungen unserer Nutzpflanzen enthalten zum Teil weniger sekundäre Pflanzenstoffe als alte Sorten oder nehmen im Verhältnis weniger Mikronährstoffe aus den Böden auf. Die Qualität der Böden ist nicht zuletzt durch den Klimawandel gefährdet. Trotzdem ist die Behauptung verzerrend, auch, weil sich Messmethoden über die Jahrzehnte verändert haben und das reine Vergleichen von Zahlenwerten in die Irre führt, wie die Verbraucherzentrale erklärt. Deutschland ist kein Vitaminmangelland. Die EU verbietet eigentlich auch solche irreführende und angstmachende Werbung, wie die, dass selbst bei ausgewogener Ernährung Nährstoffmangel besteht (Artikel 7, Richtlinie 2002/46).
NEM bringen auch Risiken mit sich. Darüber schweigen die Hersteller in der Regel. Da NEM oft hoch konzentrierte und isolierte Nährstoffe enthalten, kann es zu Überdosierungen, Wechselwirkungen mit Medikamenten und Mangelerscheinungen bei anderen Nährstoffen kommen, weil deren Aufnahme gestört wird. In manchen Fällen erhöht sich dadurch das Risiko für Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Studien kommen sogar zu dem Ergebnis, dass die dauerhafte Einnahme von Vitamin A, E und Betacarotin das Leben eher verkürzt.
Manchmal bezieht sich ein erlaubter Health Claim aber gar nicht auf den groß geschriebenen Nährstoff auf der Verpackung, sondern auf einen anderen Inhaltsstoff. Dann wird zum Beispiel extra Vitamin C zugesetzt, um sagen zu können, dass das Produkt zu einer normalen Knorpelfunktion beiträgt, weil diese Aussage für den anderen enthaltenen Inhaltsstoff gerichtlich untersagt wurde. Doch die wohl skrupelloseste Praxis betrifft vor allem NEM, die im Internet angeboten werden: Oft enthalten sie potenziell gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe wie Viagra und andere Mittel gegen Erektionsstörungen. Wie oft das vorkommt, zeigt diese 96-seitige Datenbank.
Noch dazu arbeiten einige Hersteller mit ausbeuterischen Vertriebssystemen, in denen die (schein-)selbstständigen Verkäufer:innen unter Druck gesetzt werden. Fast ein Drittel des Jahresumsatzes (im Jahr 2022 betrug er 1,8 Milliarden Euro) beruht auf dem Direktvertrieb der Mittel. Die Verbraucherzentrale zählt noch mehr Tricks der Firmen auf.
Stress macht anfällig – für Manipulationen
Wer gestresst ist, so wie Anna, und kaum Zeit hat, sich gesund zu ernähren, bemerkt vielleicht irgendwann eine Reihe von diffusen Symptomen: Gereiztheit, Konzentrationsschwäche, Müdigkeit oder Schlaflosigkeit. Solche Beschwerden können direkte Folge einer Überlastung sein oder auf konkrete Gesundheitsprobleme hinweisen, vielleicht auch auf einen Nährstoffmangel. Wer den Symptomen auf den Grund gehen will, sollte zum Hausarzt gehen. Er oder sie kann die Symptome einordnen und gegebenenfalls nach einem Nährstoffmangel suchen (es kann allerdings sein, dass du die Tests selbst bezahlen musst).
Wenn dir NEM nicht ärztlich empfohlen wurden, du aber trotzdem mit dem Gedanken spielst, sie zu nehmen, weil es dir so wie Anna geht, stelle ich dir jetzt eine provokante Frage: Könnte es nicht sein, dass dich dein stressiges Leben dazu verführt, den Werbebotschaften der Hersteller zu glauben und nach vermeintlich einfachen Lösungen zu greifen?
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos.