Seit neun Jahren schreibe ich von montags bis freitags jeden Tag die Morgenpost. Dort fasse ich die drei wichtigsten Nachrichtenthemen des Tages so zusammen, dass du für den Smalltalk in der Kaffeeküche bei der Arbeit gewappnet bist. Noch nie hat in unserem News-Überblick ein Thema so viele Zuschriften von Leser:innen ausgelöst wie der Terrorakt vom 7. Oktober und die seitdem laufenden kriegerischen Handlungen im Nahen Osten. Bevor ich erkläre, wie ich mit euren Fragen umgehe, ist hier noch einmal eine kleine Zusammenfassung der bisherigen Geschehnisse – bitte nicht überspringen, denn sie sind schon ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig die Berichterstattung ist.
Aktueller Auslöser und verheerende Folgen: Ein Terrorakt mit mehr als tausend Toten
Im Mittelpunkt steht der Konflikt zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas im Süden des Landes. Hamas-Kämpfer verübten Hunderte brutale Morde auch an Frauen, alten Menschen und Kindern. 1.200 Menschen starben laut israelischen Angaben. Zudem nahm die Hamas rund 240 Geiseln.
Israel antwortet auf diese Taten mit großer Härte und greift viele Ziele in Gaza mit Raketen und Bodentruppen an. Laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza, das der Hamas unterstellt ist, starben in den ersten vier Wochen bis Anfang November etwa 10.000 Menschen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass darunter auch 3.500 Kinder waren. Israel legitimiert die Angriffe damit, die Hamas-Terrorstrukturen zerstören und die Geiseln befreien zu wollen.
Dass so viele Zivilist:innen unter den Opfern sind, liegt aus Sicht Israels daran, dass die Hamas Gazas Bevölkerung als menschliches Schutzschild benutze. Tatsächlich aber haben die rund zwei Millionen Menschen, die in dem schmalen Küstenstreifen mit sehr hoher Bevölkerungsdichte wohnen, angesichts geschlossener Grenzen kaum Möglichkeiten, den Angriffen zu entkommen. In der ersten Woche seit Grenzöffnung nach Ägypten konnten gerade einmal 2.000 Menschen das Land verlassen, die allermeisten hatten einen ausländischen Pass.
Indes bleibt die humanitäre Lage in Gaza katastrophal. Hilfslieferungen mit Lebensmitteln und Medikamenten kommen viel zu wenige nach Gaza durch: Laut UNRWA, einer Hilfsmission der Vereinten Nationen, schaffen es täglich rund 30 Lastwagen, vor dem Krieg sollen es rund 500 pro Tag gewesen sein.
Wie Informationslage und komplizierte Hintergründe die Berichterstattung extrem erschweren
Wie kompliziert die Berichterstattung über den Krieg ist, zeigt sich allein an diesen vier Absätzen. Ich versuche darin, mittels Quellenverweisen Informationen einzuordnen sowie generell transparent darzulegen, woher meine Informationen stammen. Vermutlich gibt es trotzdem Leser:innen, die an meiner Auswahl Kritik üben würden – auch wenn ich versucht habe, die Absätze so neutral wie möglich zu schreiben.
Die vier Abschnitte sind zudem schon recht lang, definitiv zu lang für den Platz, der in einer typischen Morgenpost für ein Thema vorgesehen ist. Dabei enthalten sie noch nicht einmal tagesaktuelle Entwicklungen oder historische Einordnungen zur Geschichte des Konflikts.
Und so ergeben sich vier Anforderungen, die gerade bei diesem Thema besonders hoch sind: Jeder Abschnitt soll ausgewogen, aktuell, kontextuell eingeordnet und trotzdem kurz sein. Eure Zuschriften zeigen mir, dass ihr findet, dass mir das nicht immer gelingt.
Was in euren Zuschriften zum Konflikt steht
Euren Mails zufolge bewerte ich den Konflikt zu einseitig. Dabei schreibt ihr häufiger, dass ich zu pro-israelisch sei und zu selten auf das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza oder die historischen Hintergründe der Lage in Gaza eingehe. Vor allem an Tagen, an denen ich eher über die Lage der Geiseln oder Entscheidungen der Netanjahu-Regierung schreibe, kommen Nachfragen, warum ich Gaza nicht auch erwähne.
Auf diese Frage gibt es eine kurze und eine etwas längere Antwort, zuerst die kurze. Sie hat mit der schon erwähnten Platzfrage zu tun.
Ich glaube nicht, dass ich jeden Tag alle vier Anforderungen umfassend erfüllen kann und erlaube mir deshalb Abwechslung. An einem Tag betone ich eher die Entwicklungen in Israel und zu dessen Regierung, am anderen Tag geht es detailliert um die humanitäre Lage in Gaza oder die hohe Zahl der Opfer dort. Die Mails beschäftigen sich dann jeweils damit, warum ich die andere Seite auslasse – in der Kürze weiß ich mir aber kaum anders zu helfen.
Dieser Ansatz „Monoperspektive an einem einzelnen Tag, pluralistisch über mehrere Tage hinweg“ scheint nicht zu funktionieren. Das verstehe ich, schließlich kann ich nicht erwarten, dass alle Leser:innen immer die zurückliegenden Tage im Kopf haben. Eine andere Lösung weiß ich aber nicht.
Warum vor allem zu Beginn die israelische Perspektive mehr Raum bekam: Nachrichtenwertfaktoren
Über diese knappe „Platz!“-Antwort hinaus gibt es noch eine etwas komplexere Antwort darauf, warum ich so berichte, wie ich es tue.
Ich persönlich habe keine stark ausgeprägte Haltung zu diesem Konflikt. Das ist für mich anders als zum Beispiel bei Donald Trump oder der AfD, wo ich aufgrund von eigenem Erleben oder einer für mich klareren Informationslage das Gefühl habe, dass ich deutlicher Stellung beziehen kann. Ich bin in allererster Linie verzweifelt, was die Komplexität und Härte dieses Konflikts angeht und wie religiöse und teilweise rechtsextreme Führer ihn ausnutzen, um seit Jahrzehnten unvorstellbares Leid unter Zivilist:innen zu rechtfertigen – zuletzt ausgelöst durch brutalste und barbarische Terrorakte der Hamas.
Ich will vor allem die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung beider Seiten darstellen. Ich möchte dabei auch herausarbeiten, dass große Teile der jeweiligen Bevölkerungen nicht für das radikale oder terroristische Auftreten ihrer politisch-militärischen Führung verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage stelle ich mir die nächste Frage: Welche Ereignisse haben einen höheren Nachrichtenwert und aus welchem Blickwinkel schreibe ich über sie?
Und so kam es vor allem zu Beginn der aktuellen Krise zur stärkeren Gewichtung der israelischen Sichtweise. Ich möchte das mit zwei klassischen Nachrichtenwertfaktoren erklären, die ich auf der Journalistenschule gelernt habe. Sie sind nicht perfekt und gelten in der Medienforschung teils als überholt, aber werden noch heute in vielen Redaktionen herangezogen.
Diese Faktoren gehen vor allem auf zwei Norweger zurück, die eigentlich Friedensforscher waren, Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge. Sie fragten sich in den 1960er Jahren, warum in norwegischen Medien so unterschiedlich über den Kongo, Kuba und Zypern berichtet wurde und leiteten daraus zwölf Kriterien ab, die aus ihrer Sicht bestimmten, ob über ein Ereignis berichtet wurde. Je mehr dieser Faktoren erfüllt seien, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis in der Zeitung lande, so ihr Gedanke.
Warum ich nach dem 7. Oktober vermehrt über die israelische Perspektive berichtet habe, kann man mit drei dieser Faktoren gut erklären:
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Überraschung / Neuigkeit: Wenn etwas Neues und Überraschendes passiert, dann steht das eher in der Zeitung. „Hund beißt Mann“ ist keine Schlagzeile, aber „Mann beißt Hund“ schon. Die Lage der Palästinenser ist leider seit Jahrzehnten eine traurige Realität, an die wir uns gewöhnt haben oder die wir bewusst ignorieren wollen. Dass aber die „freien“ Israelis überfallen werden, ist neu. Das brutale Vorgehen gegen einzelne Personen in der Zivilbevölkerung auch. Zudem gab es schnell Augenzeugenberichte und teils sogar Bilder und Videos.
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Bedeutsamkeit / Nähe: Tendenziell ist uns das Alltagsleben in Israel vertrauter, das Land ist uns näher als der Alltag in Gaza. Sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Terroristen ein Open-Air-Konzert stürmen, fällt uns vergleichsweise leicht. Sich auszumalen, wie es ist, in einer überfüllten Stadt (die medial auch noch sehr oft grau dargestellt ist) unter Trümmern zu stecken, fällt uns schwerer. Nähe kann aber auch Nähe in der Organisation der Gesellschaft heißen. Auch da sind uns die demokratischen Strukturen Israels näher als die komplett von Terroristen gekaperte Führung Gazas, auch wenn Netanjahu ein Rechtsextremer ist.
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Bezug zu „Elite-Nationen“: Galtung und Ruge benennen auch noch den Faktor „Bezug zu Elite-Nationen“. Er beschreibt, dass Ereignisse, die geopolitisch mächtige Länder betreffen, einen höheren Nachrichtenwert haben. Auch unter diesem Gesichtspunkt dürfte Israel für viele wichtiger sein als die Palästinensischen Gebiete.
Mit diesen Faktoren lässt sich auch erklären, warum seit Jahrzehnten über 3.000 Menschen berichtet wird, die in zwei New Yorker Bürotürmen starben, aber wir so gut wie nie über Tausende Tote in den Flüchtlingscamps der Rohingya, aus dem Sudan oder im Jemen nachdenken.
Heute gelten die Nachrichtenwertkriterien zwar oft als überholt, weil sie so tun, als entscheide ausschließlich das Ereignis über seine Veröffentlichung. Das lässt außer Acht, dass Redaktionen keine politisch neutralen Orte sind, dass Journalist:innen mit Vorbehalten berichten und westliche Medien einen eurozentristischen Blick auf die Welt haben. Es gibt inzwischen auch einige modernere Erklärmodelle. Zum Beispiel kann man mit dem Konzept des „Framing“ erklären, dass Ereignisse es eher in die Nachrichten schaffen, wenn sie einen bestimmten Deutungsrahmen erfüllen. Nichtsdestotrotz wird behelfsweise in vielen Redaktionen immer noch oft mit Galtungs und Ruges Kriterien oder sehr ähnlichen Begriffen argumentiert.
Durch die Wahl von Terror als Mittel verlor die Hamas das Recht, gehört zu werden …
Wichtig ist für mich aber auch die Ausgangslage des aktuellen Konflikts: Mir liegt daran, immer wieder zu unterstreichen, dass der Auslöser der aktuellen Situation ein brutaler und sehr konkreter Terrorakt gegen Hunderte, eigentlich Tausende Zivilist:innen war. Ja, es gab gleichzeitig über Jahrzehnte viele Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und anderen Teilen Palästinas durch Israel. Aber ich finde es als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft wichtig, diesen Auslöser immer wieder deutlich zu benennen und klarzumachen: Wenn jemand einen solchen Terror verübt, dann verwirkt er das Recht, dass wir seine Argumente beleuchten. Es ist wie bei Amokläufern, die ein Manifest hinterlassen – auch das klopfen wir hinterher nicht darauf ab, ob darin möglicherweise korrekte Argumente enthalten sind.
… die Zivilbevölkerung in Gaza hat aber weiterhin das Recht, gehört zu werden
Dazu steht aber nicht im Widerspruch, immer wieder auch die Folgen für die Zivilbevölkerung in Gaza zu benennen und das mache ich in der Morgenpost ausführlich. Bei aller Kürze versuche ich, nicht alle Israelis oder alle Palästinenser in einen Topf zu werfen und mit ihrer Führung gleichzusetzen oder an irgendeiner Stelle die zwei Millionen in Gaza lebenden Menschen pauschal für ihre Lage verantwortlich zu machen. Eine kritische Begleitung Israels findet meines Erachtens nach und nach statt und sie nimmt zu, je länger Israel Tausende Zivilist:innen in Gaza tötet.
Ich denke, dass sich die Berichterstattung in den kommenden Wochen auch weiter kritisch mit israelischer Brutalität gegen Zivilist:innen auseinandersetzen wird, auch wenn es sich um einen international anerkannten Staat mit einer demokratisch gewählten Regierung handelt. Es wird Aufgabe der Medien sein, weiter zu beleuchten, wo das Land diese Aussage bricht. Schon jetzt bestehen angesichts der sehr hohen zivilen Opferzahlen Zweifel daran, ob mit dem Angriff auf Gaza wirklich nur die dortigen Terrorstrukturen ausgehebelt werden sollen.
Das Thema bleibt stärker im Fluss als andere
Diese Übersicht ist nun lang geworden, ich hoffe, sie zeigt, wie sehr ich (und wir alle bei Krautreporter und in vielen anderen Medienhäusern) um die Auswahl und den Ton unserer Berichterstattung ringen.
Der Krieg in Israel und Gaza beschäftigt auch uns auf vielen verschiedenen und teils auch persönlichen Ebenen. Grundsätzliche demokratisch-gesellschaftliche Überzeugungen zu Terror treffen auf fließende und sich verändernde Bewertungen und Einordnungen. Je länger die Kampfhandlungen dauern, desto kritischer wird Israel betrachtet werden.
Ich freue mich auf eure Gedanken zu diesem aktuellen Arbeitsstand. Ich hoffe, dass ich auf viele eurer Aspekte und Bedenken eingehen konnte. Und ich hoffe, der Text hier zeigt, wie sehr uns eure Meinungen beschäftigen und dass wir sie in unsere Abwägungen einbeziehen.
Redaktion: Franziska Schindler, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos