Ein altes Familienfoto von einem Vater mit seinen beiden Kindern. Sie befinden sich auf einem Boot und angeln.

Symbolbild: Les Anderson/Unsplash, enchanted media

Leben und Lieben

Protokoll: „Noch heute fällt es mir schwer, mir selbst zu verzeihen“

Sechs KR-Mitglieder erzählen, wie es ist, den Kontakt zur Familie abzubrechen – oder verlassen zu werden. Es sind Geschichten von Schuldgefühlen und Liebe, Wut und innerem Frieden.

Profilbild von Franziska Schindler

Ich wollte darüber schreiben, wie es ist, den Kontakt zu einem oder mehreren Familienmitgliedern abzubrechen: Wie schafft man das? Wann weiß man, dass es der richtige Zeitpunkt ist? Und darüber, wie es ist, wenn der Kontakt zu einem selbst abgebrochen wird: Wie geht man damit um? Als ich meinen Aufruf an euch Mitglieder geschickt habe, ahnte ich nicht, wie viele berührende Mails ich von euch bekommen würde. Ihr habt mich sofort überzeugt, dass ich anstatt einer Reportage lieber mehr Platz für eure Erfahrungen schaffen sollte, in Form von Protokollen. Am liebsten hätte ich alle Geschichten aufgeschrieben, aber es waren zu viele. Hier lest ihr nun eine Auswahl. Großen Dank an alle, die mir geschrieben haben – vor allem an die, deren Geschichte ich nicht aufschreiben konnte.


„Meine Mutter hat keinen Ton von sich gegeben“

Anna, 50 Jahre

„Das ist meine Tochter Christiane, und das ist Anna“, so stellte meine Mutter meine Schwester und mich vor. Christiane durfte langes Haar und Spangen darin tragen, ich bekam einen Topfschnitt. Christiane wechselte ständig ihre Studienfächer. Ich wollte die gute Tochter sein und machte eine Ausbildung – und sollte dann noch die Eskapaden meiner Schwester mitfinanzieren. Christiane war toll und liebenswert, mich hat meine Mutter nicht ein einziges Mal umarmt. In Situationen, die sich zum Umarmen anboten, machte meine Mutter sich ganz steif und klopfte mir auf den Rücken, wie man es bei einem Hund tut. Sie selbst war Kriegskind, wurde emotional und körperlich vernachlässigt. So hat sie es dann auch bei mir getan.

Ich hatte nicht geplant, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Es ist einfach so passiert. Mit Ende 30 war ich fast ein Jahr lang schwer krank. Meine Mutter meldete sich kein einziges Mal. Als ich sie einige Monate später anrief, behauptete sie, dass sie meine Krankheit gespürt habe und mich nicht stören wollte.

Als sie im gleichen Gespräch anfing, sich zu beschweren, dass sich ja nie jemand um sie kümmere, ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Ich habe ihr alles Mögliche an den Kopf geworfen: Dass es doch totaler Bullshit sei zu sagen: „Ich wusste, dass du krank bist“, denn eine Mutter, die das wisse, würde anrufen und sich sorgen. Dass es mich ankotze, wenn sie wieder behauptet, immer für uns dagewesen zu sein. Wer hat mich denn ins Bett gebracht, mit mir Zähne geputzt, mir Gutenachtgeschichten vorgelesen, mir meine Schulbrote geschmiert, mich am ersten Schultag zur Schule gebracht, meine Hausaufgaben kontrolliert, mir eine Schultüte geschenkt? Niemand!

Sie hat mir in meinem Leben noch kein einziges Mal gesagt, dass sie mich gern mag, geschweige denn, dass sie mich lieb hat. Ich habe ihr dann auch noch erklärt, dass ich jetzt endlich akzeptiere, keine liebevolle, fürsorgliche Mutter zu haben, dass es so etwas für mich eben nicht gibt. Und auch nie gegeben hat.

Meine Mutter hat keinen Ton von sich gegeben. Ich legte wutentbrannt auf. Ich war so voller Adrenalin, dass ich erstmal eine Zigarette rauchen musste, um runterzukommen. In dem Moment wusste ich noch nicht, dass dieses Gespräch unser letztes gewesen sein sollte. Aber ich beschloss, dass ich erstmal abwarte, bis sie sich meldet. Sie meldete sich nie wieder. Mehr als zehn Jahre haben wir nun nicht mehr voneinander gehört.

In den Tagen nach dem Telefonat spürte ich eine Ruhe in mir, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Als ob ein Knoten geplatzt sei. Da war so ein innerer Frieden, den ich bis heute in mir habe. Ich konnte endlich verstehen, warum ich so neurotisch bin, warum ich bei Kinderspielen nie „glücklich sein“ spielen konnte, warum ich mir Männer aussuchte, die mich auf Distanz hielten. Ich konnte mich endlich selbst verstehen.

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Der Cut mit meiner Mutter war auch der Anfang für mein neues Leben. Ich hörte auf, Typen zu daten, die mir nicht guttaten. Ich lernte meinen Mann kennen. Er musste sich ganz schön anstrengen, bis ich verstanden habe, dass er es ernst meint. Jetzt ist mein Leben einfach so schön. Weil ich früher nie glücklich war, weiß ich jeden Tag so sehr zu schätzen. Ich hätte auch mit zwanzig mit einer Nadel im Arm im Rinnstein enden können. Stattdessen habe ich letztes Jahr geheiratet. Ich sage meinem Mann jeden Tag, wie sehr ich ihn liebe, und er sagt es mir auch.


„Ich habe Angst, meinen Kindern zu viel Trauma mitzugeben“

Liz, 33 Jahre

Ich bin mit einem narzisstischen, manipulativen Vater als Einzelkind aufgewachsen. Was im Alltag so aussah: Bei meinem Konfirmationsgottesdienst habe ich Geige gespielt. Ein Ton war scheinbar falsch. Mein Vater hielt mir das den ganzen Tag über vor. Als ich am Ende heulte, hieß es dann: „Du bist jetzt dreizehn, da darf dir sowas nichts ausmachen.“ Oder beim Abi, nach der Zeugnisverleihung: Wir sitzen beim Italiener, ich bestelle mir einen Cappuccino mit Zucker. In Anwesenheit meines damaligen Freundes und seiner Eltern erklärt mir mein Vater, dass ja alle anderen Mädchen bei der Feier hübscher und schlanker gewesen seien als ich.

Wenn du so einem abwertenden Verhalten als Kind und Jugendliche konstant ausgesetzt bist, macht es dich kaputt. Meine Mutter hat es damals nicht geschafft, mich vor ihm zu schützen. Immerhin hat sie sich getrennt, als ich elf Jahre alt war. Ich sollte dann alle zwei Wochenenden zu ihm zu Besuch gehen. Das war natürlich schrecklich für mich, weil ich ihm an diesen Wochenenden komplett ausgeliefert war, 48 Stunden am Stück. Wenn ich nicht zu ihm gehe, mache er sie fertig, hat meine Mutter damals einmal zu mir gesagt, und dass sie nicht mehr könne.

Den Kontakt abgebrochen habe ich erst viele Jahre später, als mein Vater meinem damals einjährigen Kind zuschrieb, „unerfreulich“ und „unleidlich“ zu sein – auch ich hatte mir ja immer schon anhören müssen, dass ich ein unerfreuliches Kind gewesen sei. Für mich war das damals eine schreckliche Aussage. Und in jenem Moment, als er dasselbe Urteil über mein Kind fällte, fiel der Groschen endlich: Seine konstanten Abwertungen hatten nie an mir gelegen – nichts lag an mir. Wenn er dasselbe auch heute noch mit einem einjährigen Kind macht, das noch nicht einmal einen kompletten Satz bilden kann, liegt es nur an ihm. Und es wird nicht aufhören, weder bei mir noch bei meinen Kindern.

Meine Mutter erkennt an, dass sie damals Fehler gemacht hat. Über manche Situationen mit meinem Vater können wir heute zusammen lachen. Zum Beispiel, wenn er im Urlaub den ganzen Tag rumgemäkelt hat, weil wir das falsche Restaurant ausgesucht haben. Dann sind wir einfach froh, dass diese Zeit hinter uns liegt. Meine Mutter hat mich auch komplett darin unterstützt, den Kontakt zu ihm abzubrechen.

Noch heute fällt es mir schwer, mir selbst zu verzeihen, wenn ich Fehler gemacht habe. Mich als guten, liebenswerten Menschen wahrzunehmen. Aber es wird besser! Mit meinen Kindern gehe ich nicht immer so um, wie ich es gerne tun würde. Meine Kinder sind ein, vier und fünf Jahre alt. Es kommt vor, dass ich sie anschreie. Das ist auf jeden Fall ein von meinem Vater erlerntes Verhalten, was ich als Erziehungsperson reproduziere. Natürlich fühle ich mich danach fürchterlich, so will ich nicht sein. Und ich habe Angst, ihnen zu viel Trauma mitzugeben.

Wenn ich unfair zu meinen Kindern bin, entschuldige ich mich. Ich habe das Gefühl, dass diese offene und ehrliche Kommunikation mit ihnen über meine eigenen Fehler funktioniert. Meine älteste Tochter meinte neulich zu mir: „Mama, wenn du sauer bist, dann musst du auch mal durchatmen, so wie ich.“ Da konnte ich ihr nur Recht geben. Dann sagte sie noch: „Ich hab dich immer lieb, auch wenn du mal blöd bist.“ Das ist wahnsinnig heilsam.


„Sie schrie weiter und weiter, während ich meine Tasche packte“

Theo, 28 Jahre

Mit vierzehn habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich schwul bin. Sie hat es abgetan: Ich könne das in meinem Alter noch gar nicht einschätzen und solle erstmal ein paar Mädels daten. So jung und unsicher wie ich war, habe ich ihr nicht widersprochen und das Thema die nächsten Jahre über nie wieder angesprochen.

Mit achtzehn lernte ich meinen ersten Freund übers Internet kennen und fing an, ihn heimlich zu treffen. Wenn man sich gerade frisch verliebt hat und sich die ganze Zeit verstecken muss, ist das natürlich ziemlich belastend für eine Beziehung. Ich wusste, dass ich mit meiner Mutter sprechen muss. Mein Vater hatte meine Mutter, mich und meine Schwester verlassen, als ich drei Jahre alt war, deswegen konnte ich mich vor ihm gar nicht outen.

An einem Abend also saßen meine Mutter und ich dann beide vor dem Fernseher, ich mit wahnsinniger Angst. Irgendwann habe ich mich überwunden: „Mama, ich hab jetzt doch jemand gefunden, ich stehe auf Männer.“ Es klang erstmal so, als würde sie das ziemlich emotionslos hinnehmen. Sie hat gar nicht richtig darauf reagiert. Aber als meine Schwester später nach Hause kam, habe ich gehört, wie sie mit ihr im Wohnzimmer über mich gelästert hat, nach dem Motto: Auf welchem Trip ist der denn?

Ich habe damals ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten gemacht, bis 16 Uhr ging die Arbeit. Bis 18 Uhr durfte ich meinen Freund treffen, danach war Schluss. Meistens schickte meine Mutter aber schon viel früher eine Whatsapp-Nachricht, dass ich bitte pünktlich zum Abendessen zu Hause sein sollte. Ein einziges Mal hat sie mir erlaubt, bei ihm zu übernachten. Aber auch an diesem Tag schrieb sie mir permanent per Whatsapp, dass ich pünktlich zum Abendessen zu Hause sein soll.

Als ich am anderen Morgen nach Hause kam, gab es einen Riesenstress. Scheinbar konnte sie doch nicht damit leben, dass ich diese eine Nacht bei ihm geschlafen hatte. Sie hat mich nur noch angeschrien. Als ich hoch in mein Zimmer wollte, rannte sie mir hinterher und verpasste mir eine saftige Ohrfeige, so richtig mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie schrie weiter und weiter, während ich meine Tasche packte, meinen Freund anrief und ihn bat, mich sofort abzuholen. Er konnte mich kaum verstehen, weil sie mich so laut anschrie. Auf dem Weg nach draußen meinte meine Schwester dann noch zu mir, dass ich meine ganze Familie mit meinem Schwulsein kaputt machen würde und was Oma und Opa wohl dazu sagen würden.

Mit einer einzigen Tasche voller Klamotten zog ich an diesem Tag von zu Hause aus. Zum Glück waren da mein Freund und seine Eltern. Sie nahmen mich wie einen zweiten Sohn bei sich auf. Und brachten mir alles bei, was ich zu Hause nicht gelernt hatte: mit Geld umgehen, Wäsche waschen, kochen. In den darauffolgenden Wochen kamen noch andere Sachen raus, zum Beispiel, dass meine Mutter eine Software auf meinem Handy installiert hatte, um meine Nachrichten zu lesen. Sie hatte das den Leuten in meinem Musikverein voller Stolz erzählt. Niemand von all diesen Leuten hielt es für nötig, mich davon in Kenntnis zu setzen. Das stürzte mich in die nächste Krise, weil ich nun gar nicht mehr wusste: Wem kann ich überhaupt vertrauen?

Zehn Jahre ist mein Auszug jetzt her. Mit meinem damaligen Freund bin ich nicht mehr zusammen, aber für seine Unterstützung in dieser Zeit werde ich ihm für immer dankbar sein. Mit meiner Mutter und meiner Schwester habe ich seitdem nicht mehr gesprochen. In dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war ich nie wieder. Nur ein einziges Mal bin ich meiner Mutter und Schwester in der Stadt über den Weg gelaufen. Beim 60. Hochzeitstag meiner Großeltern, und bei deren Beerdigung habe ich sie auch nochmal gesehen. Aber nur aus der Ferne, ich saß zum Glück mit meiner Tante und meinem Onkel am Tisch. Meine Großeltern hatten übrigens überhaupt kein Problem damit, dass ich schwul bin. Bei ihren Geburtstagen haben sie mich und meinen Freund immer ganz selbstverständlich bei ihren Freunden vorgestellt: „Das ist Theo, und das ist sein Partner Lukas.“


„Inzwischen habe ich keinen Groll mehr in mir“

Lotte, 55 Jahre

Ob ich es schaffe, den Kontakt abzubrechen, war für mich nicht die Frage. Eher, was ich tun muss, damit es mir gut geht. Mit 21 war ich schwer krank, mir wurde eine Niere transplantiert. In der Folge entwickelten sich bei mir verschiedene psychische Erkrankungen, darunter eine Angststörung und eine Depression. Ich war gezwungen, mich mit mir auseinanderzusetzen. Mir anzuschauen, was mir guttut und was nicht, um wieder gesund zu werden. Meine Familie tut mir nicht gut.

Ich war ein ungewolltes Kind und das wurde mir in meiner Kindheit auch so gesagt. Wenn meine Eltern Stress hatten, hieß es, dass die beiden nur wegen mir geheiratet hätten. In meiner Jugend erklärte meine Mutter mir dann, dass ich dumm, dick und hässlich sei. Das hat sich so durchgezogen: Ich sei schuld, weil meine Mutter eigentlich Karriere machen wollte. Dabei kann ich sie zumindest in den ersten Jahren gar nicht so sehr gestört haben, denn bis ich drei Jahre alt wurde, wohnte ich bei meinen Großeltern und war nur von Samstagmorgen bis Sonntagnachmittag bei meinen Eltern.

Ich habe den Kontakt sukzessive reduziert. So schwierig war das nicht, weil meine Eltern sich auch nicht besonders um den Kontakt zu mir bemüht haben. Und wenn meine Mutter mich anrief, hagelte es sowieso nur Vorwürfe: Warum ich an diesem und jenem Tag nicht zu Besuch gekommen bin. Dass ich meinen Vater lieber gehabt hätte als sie. Solche Dinge.

Vor sieben Jahren hatte ich wieder eine schwere Depression und war in der Klinik. Da gab es auch ein Gespräch, zu dem man Familienmitglieder dazuholen konnte. Ich habe meine Mutter eingeladen. Wir sollten uns dann beieinander für Dinge entschuldigen, die in der Vergangenheit vorgefallen sind. Meine Mutter konnte das nicht. Nach jeder Entschuldigung kam ein Aber. Als die Therapeutin mich am Ende des Gesprächs fragte, was ich mir wünsche, war plötzlich so eine Klarheit in mir: Keinen Kontakt zu haben, wäre am besten für mich.

Inzwischen habe ich keinen Groll mehr in mir. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Mensch aufgrund seiner Erfahrungen zu dem wird, der er ist. Auch meine Eltern. Aber bei mir liegt eben die Freiheit zu entscheiden, ob ich mir diesen Kontakt, der so schlecht für mich ist, weiterhin antun will. Ich schreibe meinen Eltern zum Geburtstag und zu Weihnachten. Das macht mir nichts aus, weil ich emotional gar nicht mehr involviert bin. Es ist so, als wenn man aus Gewohnheit den Nachbarn grüßt.


„Letztlich konnte ich seine Entscheidung nicht nachvollziehen“

Leonie, 49 Jahre

Als Familie wurden wir von meinem Bruder plötzlich verlassen. Für vier Jahre verschwand er komplett. Ich war damals 34 Jahre alt, er 32. Seine Entscheidung traf meine Eltern, meinen anderen Bruder und auch mich vollkommen unvorbereitet. Einen konkreten Auslöser gab es nicht. Wir wussten nicht, wo er hingegangen war. Er wurde vermisst gemeldet, ohne Ergebnis. Wir warteten und warteten, sorgten uns und bangten, hofften, wurden müde, wollten aufgeben, stellten uns quälende Fragen über das Warum. Das ist nun ungefähr 15 Jahre her.

Mein jüngster Bruder hat schwere Depressionen. Ich glaube auch, dass er sich mit uns beiden älteren Geschwistern verglichen hat. Uns sind die Dinge immer leichtgefallen, das Abi zum Beispiel. Für ihn war es so viel schwerer, er musste mehr kämpfen. Wahrscheinlich fühlte er sich von uns als Familie nicht verstanden und irgendwie überflüssig. Aber hätte es kein milderes Mittel gegeben, um etwas auszudrücken? Warum musste er uns etwas so Zerstörerisches antun?

So ein Kontaktabbruch produziert auf allen Seiten immenses Leid. Niemand verlässt leichtfertig seine Herkunftsfamilie. Es muss sehr viel passieren, bevor man einen so heftigen Schritt geht. Ich stehe nicht auf der Seite der Person, die verlässt – ich wurde verlassen und kenne deswegen nur die Perspektive der Person, die zurückbleibt. Ich habe oft versucht, mich in meinen Bruder hineinzuversetzen, aber letztlich konnte ich seine Entscheidung nicht nachvollziehen.

Ich bemühte mich, der zornigen Stimme in mir eine wohlwollende entgegenzusetzen. Mich innerlich noch nicht von ihm zu verabschieden, sondern die Beziehung aufrechtzuerhalten. Und mir vor Augen zu führen, dass es ihm mit der aktuellen Situation wahrscheinlich schlechter geht als mir. Ich habe in der Zeit der Trennung auch gelernt, dass wir Menschen unseren Gedanken keinesfalls komplett ausgeliefert sind. Wir können sie füttern, aber wir können auch welche zur Seite schieben. Das habe ich versucht, wenn Trauer oder Angst in mir aufkamen. Es brachte ja nichts, ständig darum zu kreisen, wo er ist und wie es ihm geht. Davon kommt er auch nicht zurück.

Nach vier Jahren Funkstille ging ich ahnungslos zum Briefkasten, öffnete ihn, fand eine Postkarte, drehte sie um – und erkannte sofort seine Schrift. Es begann ein mehrmonatiger, sehr vorsichtiger Annäherungsprozess mit Postkarten. Nach vielen Monaten eine Handynummer. Und dann das erste schwere Telefonat. Stück für Stück bauten wir wieder eine vertrauensvollere Beziehung auf. Einige Zeit gab es so etwas wie Normalität, aber die Jahre seines Verschwindens blieben eine Blackbox, über die er nicht gerne redet. Heute empfinde ich beides: Die Verletzungen von damals kann ich nicht vergessen – und ich habe diese Jahre verarbeitet und bin an der Krise gewachsen.


„Ein tiefes Gefühl von Schuld bin ich fast mein ganzes Erwachsenenleben nicht losgeworden“

Fabian, 50 Jahre

Mein Vater lebt in einer Welt, in der er meint, dass Menschen ihr Leben an ihm ausrichten müssten. Lange Zeit habe ich nicht verstanden, dass er eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. Als ich mit Mitte zwanzig begonnen habe, Besuche zu Hause zu meiden, kam das einem Kontaktabbruch gleich. Trotzdem wusste ich: Das reicht nicht, um mich zu schützen. Meine Frau und ich haben deswegen über die Jahre ein ausgeklügeltes System erarbeitet: Alle Mails, die er mir schickt, werden an sie weitergeleitet. Seine Nummer habe ich geblockt. Meine Ärzte, bei denen er hinter mir herumspioniert hat, wissen, dass sie keine Auskunft geben dürfen.

Alles, was ich als Kind und Jugendlicher getan habe, hat mein Vater in Relation zu sich gesetzt: Wenn ich in der Schule gut war, dann lag es daran, dass ich sein Sohn bin. Wenn ich Gitarre üben wollte, was nicht Teil seines Plans für mich war, wurde ich niedergemacht. Bis heute hat er den Namen meiner Frau nie ausgesprochen, er mag sie nicht. Wir sind seit 25 Jahren ein Paar.

Ich habe mich meinem Vater nie untergeordnet. Narzissten reagieren darauf, indem sie versuchen, dich zu brechen. Ich hab das auch schriftlich von ihm: Wenn ich mich nicht an seine Regeln halte, müsse er leider mein Leben zerstören, hat er mir mal geschrieben. Über diese und andere schriftliche Äußerungen von ihm bin ich fast froh, denn die meisten Abwertungen mir gegenüber sind im Eins-zu-Eins-Kontakt passiert. So aber habe ich Beweise – auch gegenüber meiner Mutter, die mir bis heute erklären will, dass an Konflikten immer zwei beteiligt sind und ich halt gelassener sein sollte.

Ich bin inzwischen fünfzig Jahre alt. Ein tiefes Gefühl von Schuld, weil ich seine Erwartungen nicht erfülle, bin ich fast mein ganzes Erwachsenenleben nicht losgeworden. Bis vor fünf Jahren, da kam es zum großen Knall: Mein Vater verlangte, dass ich wieder bei ihm leben und mich entschuldigen solle. Wofür, das konnte er mir nicht erklären. Ich habe mich geweigert. Ich konnte zu der Zeit in Kilometern abzählen, wie nah ich mich an meinen Heimatort wagen kann, bevor ich eine Panikattacke bekomme. Ich habe aus meiner Kindheit eine Angststörung und eine Posttraumatische Belastungsstörung mitgenommen. Ein enger Kontakt zu meinem Vater ist also nicht nur eine Frage des Wollens, es geht einfach nicht.

Meinen Vater hat das so verärgert, dass er mich verstoßen hat. Er hat organisiert, dass ich enterbt werde. Ich darf nicht zu Besuch kommen, ich darf nicht wissen, wie es ihm geht, er sorgt dafür, dass niemand mir sagen wird, was mit ihm und meiner Mutter ist, zum Beispiel, falls sie mal ins Krankenhaus müssten. Ich darf nicht wissen, ob sie leben oder tot sind, wo sie begraben werden. Das hat er mir per Mail geschrieben. Der endgültige Bruch kam also von beiden Seiten.

Meine Mutter ruft mich gelegentlich heimlich an, er darf das aber nicht mitbekommen, weswegen ich sie auch nicht anrufen darf. Manchmal versucht sie es alle zwei Wochen, zum Beispiel, wenn sie ihn zum Arzt gebracht hat und dann im Auto sitzt. Manchmal vergeht ein halbes Jahr zwischen ihren Anrufen. Wenn ich ihre Nummer auf dem Display sehe, weiß ich: Entweder ich geh jetzt dran, oder ich höre möglicherweise sehr lange nichts von ihr. Eigentlich dient dieser Kontakt nur dazu, dass sie das Gefühl einer Verbindung zu mir hat. Denn umgekehrt gibt es ja für mich keine Verlässlichkeit, sie erreichen zu können. In manchen Phasen tut sie mir furchtbar leid. In anderen bin ich wütend, dass sie mich als Kind nicht ein einziges Mal vor diesem Mann geschützt hat. Ich bin doch ihr Sohn.

Mir geht es inzwischen so viel besser als noch zu jener Zeit, in der ich noch Kontakt zu meinem Vater hatte. Panikattacken kann ich jetzt abwehren. Und ich arbeite mit Erfolg daran, dass mein Gefühl zu mir selbst nicht mehr von ihm bestimmt wird.


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Anmerkung: Alle Namen der Menschen, die im Text vorkommen, sind geändert, um ihre Anonymität zu wahren.

„Noch heute fällt es mir schwer, mir selbst zu verzeihen“

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