Hinweis: Dieser Text enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt.
Ein eigenes Land, in dem Kurd:innen nicht verfolgt werden. Das malte sich die kurdisch-türkische Schriftstellerin Meral Şimşek in ihrer Kurzgeschichte „Arzela“ aus. Der Traum währte nicht lang. Im Januar 2021, kurz nach Veröffentlichung der Geschichte, wurde Şimşek in der Türkei wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ und der Verbreitung „terroristischer Propaganda“ angeklagt. Ihr drohten bis zu 15 Jahre Haft. Şimşek beschloss zu fliehen.
Am 29. Juni 2021 überquerte sie den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros und nahm in der Morgendämmerung ein Video auf. „Wir sind auf griechischem Boden“, sagt sie darin. Şimşek wollte in Griechenland Asyl beantragen. Doch dazu kam es nicht.
Was stattdessen passierte, schildert sie so: In der griechischen Kleinstadt Ferres greift die Polizei sie und ihre syrische Begleiterin auf. Später führen die Polizisten die beiden auf die Straße. Dort zwingen sie sie dazu, ihre Kleidung auszuziehen. Anschließend steckt eine Polizistin ihr die Hand in Vagina und Anus. Mitten auf der Straße. Die anderen Polizisten schauen zu. Nach ihr ist ihre Begleiterin dran. Mit denselben Plastikhandschuhen. Anschließend werden die beiden an eine Gruppe maskierter Männer übergeben und in die Türkei zurückgeschickt. „Es ging darum, uns zu erniedrigen“, sagt Şimşek über die erzwungene Nacktheit und die Genitaldurchsuchung. Ihre Schilderungen lassen sich nicht verifizieren, doch sie decken sich mit ähnlichen Berichten anderer Geflüchteter.
Im Frühjahr 2023 kritisierte das Anti-Folter-Komitee des Europarats die zahlreichen Misshandlungen und Demütigungen während illegaler Zurückweisungen, sogenannter Pushbacks, an den EU-Grenzen. Geflüchteten würden „in manchen Fällen komplett nackt“ über die Grenze zurückgetrieben, heißt es in dem Bericht. Das Border Violence Monitoring Network, ein Zusammenschluss aus Nichtregierungsorganisationen, hat ähnliche Vorfälle beobachtet. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht schreibt auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) über Fälle, in denen Geflüchtete von erzwungenen Entkleidungen, sowie übergriffigen Körperkontrollen und Genitaldurchsuchungen durch mutmaßliche Grenzschützer berichten – vor anderen Menschen, teilweise mit denselben Handschuhen und durch Männer an Frauen.
Krautreporter hat mit Betroffenen, Anwält:innen, Psychologinnen und Nichtregierungsorganisationen gesprochen, sowie interne Frontex-Dokumente eingesehen. Das Bild, das sich ergibt, weist darauf hin, dass mutmaßliche EU-Grenzschützer und ihre Handlanger sexualisierte Erniedrigungen in Griechenland einsetzen, um Geflüchtete abzuschrecken – und sich gleichzeitig selbst zu bereichern.
„Es war solch eine Demütigung“
Ein Vormittag Mitte Juli, auf Korfu in Griechenland. Die Insel liegt keine drei Flugstunden von Deutschland entfernt und ist bei Urlauber:innen beliebt für ihre malerischen Strände und das leckere Essen. In einem abgedunkelten Apartment reibt sich Clémentine Ngono am Waschbecken die Augen. „Spätschicht“, erklärt sie. Ngono, die eigentlich anders heißt, arbeitet den Sommer über im Hotel nebenan als Zimmermädchen. Mit einem Kopfnicken bittet sie in den Innenhof: ein Tisch, zwei verstaubte Plastikstühle, in der Ferne die olivgrünen Hügel der Insel.
Hinter der Recherche
Diese Recherche ist Teil eines größeren Projekts über sexualisierte Gewalt gegen Geflüchtete. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen Helena Rodriguez Gómez aus Spanien und Sandra Abdelbaki aus Libanon haben wir von April bis August in Marokko, Serbien, Bulgarien und Griechenland recherchiert. Und zwar zu sexualisierten Übergriffen durch mutmaßliche Grenzschützer, aber auch zu sexualisierter Gewalt durch Schmuggler und erzwungene Schwangerschaften. Für diesen Text war ich dreieinhalb Wochen in Griechenland: auf Lesbos, Samos, Korfu und in Athen. Gleichzeitig haben wir mit über 100 Organisationen, Anwält:innen und Aktivist:innen gesprochen und konnten per Informationsfreiheitsanfrage interne Dokumente von Frontex einsehen.
Ngono, 25, wurde in Kamerun geboren. Eigentlich hatte sie nie vor, nach Europa zu kommen, sagt sie. Sie sah ihre Zukunft in ihrer Heimat, träumte davon, Ärztin zu werden. Alles änderte sich, als sie zehn Jahre alt war. Ngono sollte zu ihrem Onkel ziehen. Sie sei jetzt eine Frau, hieß es. Seine Frau. Ngono verstand, dass sie zwangsverheiratet wurde. Kurz darauf begannen die Vergewaltigungen.
Es folgen Monate voller Gewalt. Nach etwa einem Jahr gelingt Ngono die Flucht. Später lernt sie einen neuen Mann kennen, die beiden fliehen in die Türkei. Am frühen Morgen des 15. September 2021 steigen sie, gemeinsam mit ihrem sechs Monate alten Sohn und einer Gruppe Flüchtender in der Nähe der Stadt Kusadasi in ein graues Schlauchboot. Gegen sieben Uhr erreichen sie die griechische Insel Samos. Fotos und Standortdaten belegen das.
Etwa eine Stunde nachdem sie die Insel erreicht haben, wird ein Großteil der Gruppe gefasst und auf ein Schnellboot der griechischen Küstenwache geladen. Von dem, was mutmaßlich im Anschluss geschah, erzählt Ngono mit stockender Stimme.
„Dort saßen wir“, sagt sie und deutet auf den Boden. Der kleine Hinterhof auf Korfu, wo sie ihre Geschichte erzählt, wird jetzt zum Boot der griechischen Küstenwache, vom Typ Lambro 57. Auf dem Deck: 28 Menschen in Kauerhaltung, zusammengepfercht und eingeschüchtert.
Maskierte Männer hätten die Gruppe angeschrien und gedroht, sagt Ngongo – und einen nach dem anderen dazu gezwungen, aufzustehen und sich auszuziehen. Vor allen anderen. Unter Androhung von weiterer Gewalt. Anschließend habe einer der Männer die Geflüchteten durchsucht, auch die Genitalien. Manche hätten sich geweigert, sagt Ngono. Denen hätten die Männer die Kleidung zerschnitten. Sie formt mit ihrer Hand eine Schere und fährt ihre Hüfte entlang.
Ngono hatte Angst. Als sie an der Reihe war, habe sie versucht, sich zu wehren. Die Männer schlugen sie und drohten mit weiterer Gewalt. „Also habe ich mir selbst meine Hose runtergezogen“, sagt sie. „Ich wollte es nicht, aber ich musste mich bücken.“ Ngono presst Zeige- und Mittelfinger zusammen und deutet auf ihren Unterleib. „So hat er seine Hand in meine Vagina gesteckt“, sagt sie. „Und in den Anus.“ Dieselben Plastikhandschuhe habe er auch bei anderen verwendet.
Während der Misshandlungen hätten die Männer immer wieder geschrien: „Kommst du hierher nochmal zurück?“ Auch sämtliche Wertsachen seien der Gruppe gestohlen worden: Handys, Bargeld, Kopfhörer. So auch Ngono. Sie hatte 500 Euro im Intimbereich versteckt. Als die Männer fertig waren, setzten sie die Gruppe auf aufblasbaren Rettungsinseln auf dem Mittelmeer aus. Das sind manövrierunfähige Flöße aus Gummi. Die Türkische Küstenwache rettete sie.
Im März 2022 erstattete Ngono Anzeige. In der Anklageschrift beschreibt sie die erzwungene Körper- und Genitaldurchsuchung als „extrem übergriffig und eine Verletzung meiner sexuellen Freiheit und damit auch meiner Persönlichkeit.“ Auf Korfu wiederholt Ngono mehrfach: „Es war solch eine Demütigung.“
Anwältin Ioanna Begiazi: „Vor allem von Frauen hören wir, dass es sehr häufig zu Genital-Durchsuchungen kommt“
Samos, eine griechische Insel, 633 Kilometer Luftlinie von Korfu entfernt. Boote der griechischen Küstenwache schaukeln im Hafen, die Türkei liegt in Sichtweite. Anwältin Ioanna Begiazi öffnet die Tür ihres Büros in der Altstadt von Vathy, einer Kleinstadt im Osten der Insel.
Begiazi vertritt regelmäßig Betroffene von illegalen Pushbacks. „Vor allem von Frauen hören wir, dass es sehr häufig zu Genital-Durchsuchungen kommt“, sagt sie. Aber auch Männer seien betroffen. „Es ist eine Form der Demütigung und Abschreckung“, sagt Begiazi. Eine sexualisierte Erniedrigung, die Menschen davon abhalten solle, den Grenzübertritt noch einmal zu versuchen.
Sie erklärt, dass Leibesvisitationen an sich in Griechenland nicht verboten seien. Aber es müsse einen ernsten und gut begründeten Anlass für einen solchen Eingriff geben. Schwerwiegende Indizien für Verbrechen zum Beispiel. Doch selbst wenn die vorlägen, gebe es zahlreiche Vorschriften. Leibesvisitationen müssten Hygienevorschriften beachten. Sie müssten die Persönlichkeitsrechte und die Menschenwürde des Einzelnen respektieren. Und sie müssten in einer geschützten Umgebung stattfinden, die die Intimsphäre der Betroffenen achtet. Also nicht vor anderen Personen. Nicht von Männern an Frauen. Nicht unter Anwendung physischer Gewalt. Und nicht mit denselben Handschuhen.
Von ähnlichen Vorfällen berichten aber auch weitere Geflüchtete.
„Sie haben unsere Brüste angefasst, uns vollständig durchsucht“
Eine von ihnen soll hier Amira Haddad heißen. Sie ist 43 Jahre alt, kommt aus Syrien und erzählt, dass sie am 10. Oktober 2022 gemeinsam mit anderen Geflüchteten den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros überquerte und in Richtung der griechischen Stadt Tychero lief. Dort habe die Polizei sie gefasst, sagt sie. Eine Frau in Militärkleidung habe sie entkleidet, die Hose heruntergezogen und ihren Körper durchsucht. Währenddessen hätten die männlichen Polizisten zugeschaut. Später habe die Polizei die Gruppe zurück an die Grenze gebracht und an eine Gruppe Arabisch und Griechisch sprechender Männer übergeben.
Dass die griechische Polizei Geflüchtete als Handlanger für illegale Pushbacks einsetzt, ist durch Recherchen des Spiegel belegt. Solche Handlanger, in Zusammenarbeit mit griechischen Grenzschützern in Militärkleidung, zwingen Haddad und den Rest der Gruppe erneut dazu, sich auszuziehen. „Sie haben unsere Brüste angefasst und uns vollständig durchsucht“, sagt Haddad. Einige Männer hätten die Körper- und Genitaldurchsuchungen kommentiert: „Sexy.“
Liyana Çınar, die in Wirklichkeit anders heißt, erging es ähnlich. Im Juni 2023 überquerte die irakische Kurdin nach eigenen Angaben mit weiteren Geflüchteten die Evros-Grenze und erreichte die griechische Grenzstadt Serres. Dort sei sie von Polizisten aufgegriffen und an eine Gruppe maskierter Männer übergeben worden, sagt sie. Diese Männer hätten sie dazu gezwungen, Unterhose und BH auszuziehen. Sie habe sich gewehrt und einem Mann auf die Hand geschlagen. „Er schrie mich an, nahm mein Geld und durchsuchte mich“, sagt Çınar. „Sie durchsuchten uns Frauen am ganzen Körper, vor den Augen der Männer.“
Weder das griechische Innenministerium noch das Ministerium für Einwanderung und Asyl wollten auf Fragen zu den Vorfällen antworten. Die griechische Küstenwache erklärte auf Anfrage, dass „die operative Praxis der griechischen Behörden derartige Methoden nicht beinhaltet“, da sie unter anderem gegen Artikel 257 der griechischen Strafprozessordnung verstoßen. Die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex wiederum erklärte, ihr seien „eine Handvoll solcher Fälle in Griechenland und Bulgarien bekannt.“
Interne Berichte: Was weiß Frontex?
Krautreporter konnte per Informationsfreiheitsanfrage mehrere interne Berichte des Frontex-Grundrechtsbeauftragten einsehen, die entsprechende Schilderungen enthalten. So heißt es in einem sogenannten Serious Incident Report (SIR) mit der Nummer 10142/2018 vom 18. November 2018, eine Gruppe von Geflüchteten sei durch den Fluss zurück über die Grenze getrieben worden, „nachdem die Männer nackt ausgezogen und geschlagen worden waren.“
In einem anderen Bericht mit der Nummer 13400/2022 geht es um eine Reihe von Pushbacks durch griechische Behörden im Juli und August 2022. Betroffene berichteten Frontex-Mitarbeitern, in Haft seien sie „entkleidet und durchsucht worden.“
Der Serious Incident Report 15314/2022 vom 30. Mai 2023 wiederum schildert mehrere Pushbacks über den Evros-Fluss durch die griechischen Behörden. „Polizeibeamte nahmen den Migranten die Kleidung, das Geld, die Mobiltelefone und alle persönlichen Gegenstände ab und ließen sie nur in ihrer Unterwäsche zurück“, heißt es darin. Später hätten die Beamten laut einem Betroffenen die Geflüchteten zunächst bedroht und anschließend nackt zurück über die Grenze in die Türkei geschickt. Frontex selbst schätzt die Aussagen in dem Bericht als „relativ glaubwürdig“ ein, sowie als „außergewöhnlich detailliert“ und „konsistent in Bezug auf Standorte und Zeitabläufe.“
Ein Verstoß gegen das Folterverbot der EU-Menschenrechtskonvention?
„Das ist eine Methode, um die Leute abzuschrecken“, sagt der Menschenrechtsanwalt Nikola Kovačević. Er glaubt, dass diese Art von sexualisierten Körper- und Genitaldurchsuchungen gegen das Verbot von „Folter, erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung“ verstoßen.
Dieses Verbot ist unter anderem in der EU-Menschenrechtskonvention und in der UN-Antifolterkonvention festgeschrieben. Demnach gilt „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“ als Folter. Bei „unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“ handelt es sich um Fälle, die der Folter ähneln, aber weniger schwerwiegend sind.
„Unmenschliche und erniedrigende Behandlung richtet sich gegen die menschliche Würde“, erklärt Kovačević. „Das heißt: Man beraubt einen Menschen seiner Würde, man zwingt diese Person niederzuknien, man spuckt auf sie, man entkleidet sie, man schafft eine Situation, in der sich diese Person minderwertig fühlt.“
Die Grenzen zwischen den verschiedenen Tatbeständen seien manchmal fließend, sagt er. Doch sie hätten rechtlich eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie sind absolut. „Das heißt, es gibt rechtlich keine denkbaren Umstände, die es rechtfertigen, einer hilflosen Person Schmerz und Leid zuzufügen“, sagt Kovačević.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte 2001, dass Leibesvisitationen in manchen Fällen gerechtfertigt sein können, wenn sie zum Beispiel Straftaten verhindern. Erzwungenes Entkleiden und Genitaldurchsuchungen, die Betroffene „mit Gefühlen der Angst und der Minderwertigkeit“ zurücklassen und „erniedrigen und entwürdigen“ können, seien jedoch ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Urteil zu sexualisierten Körper- oder Genitaldurchsuchungen im Kontext sogenannter Pushbacks an den EU-Grenzen gibt es allerdings noch nicht.
„Es braucht Leute, die den Mut haben zu sprechen“
Zurück auf Korfu. Die Terrasse ist inzwischen schattenfrei, die Sonne steht hoch. Clémentine Ngono steht auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut auf die Uhr. Sie ist erschöpft, sagt sie. Die Spätschicht, die Sorgen um ihren Sohn, die offenen Rechnungen, die Schuldgefühle, die räumliche Trennung von ihrem Mann, der in Athen lebt. Vergangenheit und Gegenwart zehren an ihrer Kraft.
Der 15. September 2021 geht Ngono bis heute nicht aus dem Kopf. Eigentlich rede sie nicht gerne über das Erlebte, sagt Ngono. Doch wichtiger sei ihr, dass so etwas anderen nicht auch passiere. „Es braucht Leute, die den Mut haben zu sprechen“, sagt sie. Sonst werde sich nichts ändern. Die Arbeit als Zimmermädchen lenke sie ab, sagt sie. Und stricken, das sei beruhigend. Das habe sie von ihrer Mutter gelernt, mit der sie sich immer gut verstand. Noch wichtiger sei ihr aber die Unterstützung ihrer Mitbewohnerin, ebenfalls aus Kamerun. Auch sie arbeitet im Hotel nebenan. Auch sie ist Mutter. Und für Clémentine gibt es nichts Schöneres, als an einem freien Tag gemeinsam mit den Kindern am Strand oder durch die Stadt zu spazieren.
Mitarbeit: Charlotte Glorieux, Ihab Al-Rawi, Serdar Vardar
Transparenzhinweis: Diese Recherche wurde von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) unterstützt.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert