Ein kleines Boot mit Geflüchteten auf dem Meer ist umringt von Politiker:innen: Olaf Scholz, Christian Lindner, Ricarda Lang, Markus Söder, Alice Weidel und Friedrich Merz.

NurPhoto, Ronny Hartmann, Carsten Koall, Pool, Leonhard Simon, Sascha Schuermann, Johannes Simon/Getty Images

Politik und Macht

Kommentar: Migration ist wirklich nicht unser größtes Problem

Ja, es fliehen momentan viele Menschen nach Deutschland. Das Problem sind aber diejenigen, die das Debattenklima vergiften. Und eine SPD, die sich verzockt.

Profilbild von Franziska Schindler

Deutschland diskutiert mal wieder über Migration, und das auf eine Art, die mich gruselt. Man könnte darüber sprechen, wie die psychische Versorgung der Menschen ist, die jetzt in Deutschland ankommen (schlecht). Man könnte sich auch fragen, warum die Aufnahmekapazitäten nach 2016 so stark zurückgebaut wurden, dass viele Kommunen jetzt überlastet sind. Stattdessen sprechen wir über Clanfamilien, Obergrenzen und Zahnersatz. Das verbindende Narrativ: Die Migrant:innen sind das Problem, Abschottung die Lösung.

Die jüngste Verschärfung des deutschen Migrationsrechts begann am vergangenen Mittwoch. Im Kabinett beschloss die Ampel Maßnahmen, um Geflüchtete schneller abzuschieben. Noch vor einigen Monaten hätte es wahrscheinlich zumindest von den Grünen lautstarken Protest gegeben. Nun verteidigte Vizekanzler Robert Habeck die Maßnahmen als „harten, aber notwendigen“ Schritt.

Die Geräuschlosigkeit, mit der das Kabinett den Gesetzentwurf billigen konnte, steht symptomatisch für die Entwicklung der letzten Monate. Wir sind Zeug:innen einer rasanten Diskursverschiebung geworden. Vor allem die SPD hofft wohl, damit Wähler:innen zurückzuholen. Die Strategie wird nicht funktionieren, aber ihre Folgen werden bleiben.

Ja, es kommen mehr Geflüchtete nach Deutschland als in den vergangenen Jahren. 2022 erreichte die Nettozuwanderung mit 1,46 Millionen Zuzügen den höchsten Wert seit Beginn der Erhebung 1950. Das lag vor allem an rund einer Million Geflüchteten aus der Ukraine. Auch aus Syrien, Afghanistan und der Türkei suchten mehr Menschen Schutz in Deutschland als in den Vorjahren, insgesamt rund 170.000 im vergangenen Jahr. Sie flohen aus Ländern, in denen Bürgerkrieg herrscht, Oppositionelle verfolgt werden oder Frauenrechte massiv unterdrückt werden.

Die Politik macht populistische Vorschläge und verschiebt so den Diskurs

Aber das interessiert in der Debatte meist nicht, und auch andere Fakten werden außer Acht gelassen. Dass Kommunen Sachleistungen für Geflüchtete, wie von Union und FDP gefordert, allein schon wegen des bürokratischen Aufwands zurückweisen – dahingestellt. Ob die geplanten Befugnisse der Polizei, die ihr das neue Abschiebegesetz zugestehen soll, verfassungsgemäß sind – weitgehend irrelevant.

Der Populismus paart sich mit Kommunikationschaos. Pünktlich zum hessischen Landtagswahlkampf machte ein Papier aus dem Bundesinnenministerium die Runde. Ihm zufolge sollten Angehörige von Menschen, die der organisierten Kriminalität zugerechnet werden, aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit abgeschoben werden. Innenministerin Nancy Faeser brauchte Tage, um die Fehlinterpretation zu revidieren. Als Olaf Scholz sich Anfang Oktober von der staatlichen Finanzierung ziviler Seenotrettung distanzierte, stellte das Auswärtige Amt erst im Nachgang klar, dass die Gelder weiterfließen. Woher kennen wir nochmal die Strategie des Vorpreschens, um anschließend zurückzurudern, man habe es ja gar nicht so gemeint? Genau, von der AfD.

Wie schnell die Diskursverschiebung ging, hat auch manche Grüne kalt erwischt: Als deren Vorsitzende Ricarda Lang mehr Rückführungsabkommen für schnellere Abschiebungen forderte, regte sich in der Partei zumindest ein bisschen Widerstand. Aber auch nicht so viel, dass die Basis der Spitze ernsthaft etwas entgegenzusetzen hatte.

Aus der verschobenen Debatte wird handfeste Politik

Die Bundesregierung lässt der Diskursverschiebung Taten folgen, hier nur ein paar Beispiele: Mit Joachim Stamp wurde ein Sonderbevollmächtigter eingesetzt, der mit einzelnen Ländern über Abkommen zur Rücknahme von Geflüchteten verhandeln soll. Eine der ersten Vereinbarungen ist Medienberichten zufolge, wenn auch inoffiziell, mit dem Irak geschlossen worden. Der erste Abschiebeflug startete Ende September.

Mehr zum Thema

In diesen Zusammenhang fällt wohl auch die Entscheidung der Bundesregierung, Jesid:innen künftig in den Irak abzuschieben. Im Januar hatte der Bundestag die systematischen Gräueltaten an der Volksgruppe noch als Genozid eingestuft. Im März erklärte das Bundesinnenministerium, dass die Rückkehr in den früheren Verfolgerstaat nicht zumutbar sei. Nun hat Faeser ihre Position wohl geändert. Indes sind Dutzende im Protest gegen die Abschiebungen in den vergangenen Wochen in den Hungerstreik getreten.

Die Abschottung der Europäischen Union trägt Deutschland ohne Rücksicht auf Menschenrechtsverletzungen mit. Zum Beispiel beim geplanten Migrationsabkommen mit Tunesien. Im Juli hatte die EU die Absichtserklärung unterzeichnet, nun müssen die Mitgliedsstaaten noch zustimmen. Nur Tage später demonstrierte die tunesische Regierung, wie Grenzmanagement für sie funktioniert: Menschenrechtsorganisationen berichteten, dass Hunderte Migrant:innen in der Wüste an der Grenze zu Libyen ausgesetzt wurden, Hilfsorganisationen und libysche Grenzschützer retteten sie vor dem Tod.

Ob mit dem neuesten Gesetzentwurf der Bundesregierung tatsächlich deutlich mehr Menschen abgeschoben werden, bleibt abzuwarten. Fest steht aber, dass sich das Leben aller Menschen in den Sammelunterkünften verändern wird. Wenn die Polizei für eine Abschiebung künftig zahlreiche Zimmer einer Unterkunft betreten darf, sind beängstigende nächtliche Durchsuchungen vorprogrammiert.

Die Strategie der Ampelregierung geht nicht auf

Die Bundesregierung will demonstrieren: Der Staat greift durch. Ein Statement an die, deren Stimmen die Ampel, vor allem aber die SPD, über die vergangenen Monate verloren hat. Dabei sitzen die Befürworter:innen der Populismusstrategie in der SPD einem doppelten Irrtum auf. Die Partei schätzt ihre Wähler:innen falsch ein. Und sie zieht die falschen Schlüsse daraus, wie sie die Wähler:innen zurückholen kann.

Noch immer hält sich das Narrativ, dass die SPD vor allem unter den klassischen Arbeiter:innen an Stimmen verloren habe, weil sie ihrer Wählerschaft bei Themen wie Migration und Klima zu progressiv sei. Nur hat die Sozialdemokratie in Deutschland viele Stimmen aus der klassischen Arbeiterschaft schon mit der Agenda 2010 verloren. Viele von ihnen haben ganz aufgehört zu wählen, einige sind zur Linken oder später zur AfD gewandert.

Deswegen besteht die Wählerschaft heutzutage ohnehin nur noch zu einem kleineren Teil aus dem Arbeitermilieu. Zu einem weit größeren Teil wird die SPD von einer urbanen, progressiven Mittelschicht gewählt – und hat deswegen in den vergangenen Jahren Stimmen an Linke und Grüne verloren. Wenn sie nun weiter ihren flüchtlingsfeindlichen Kurs fährt, wird sich das voraussichtlich fortsetzen.

Aus der Wahlforschung weiß man zudem, dass Wähler:innen ihre Stimme der Partei geben, der sie die höchste Kompetenz im für sie wichtigsten Themenfeld zuschreiben – logisch. Wäre für mich wahlentscheidend, dass die Bundesregierung eine Obergrenze für Geflüchtete einführt, würde ich meine Stimme der CDU geben, aber sicher nicht der SPD oder den Grünen. In meinem Glauben an die Notwendigkeit einer Obergrenze würde es mich aber bestärken, wenn plötzlich auch Grüne und SPD davon sprechen, dass Migrant:innen das Problem seien.

Damit kommen wir zur dritten Fehleinschätzung, die im politischen und medialen Diskurs immer wieder auftaucht. Wir befinden uns nicht mehr in den Neunzigerjahren, als man mit dem sogenannten Asylkompromiss am rechtskonservativen Rand nach Stimmen fischen konnte. Die AfD zu wählen, ist kein Tabu mehr, für enttäuschte Konservative ist sie eine echte Alternative. Die Normalisierung rechtsextremer Positionen in der Parteienlandschaft hat sich längst vollzogen.

Die Diskursverschiebung und ihre Folgen werden bleiben

Kaum etwas spricht dafür, dass die Ampel durch ihren Rechtsruck Wählerstimmen hinzugewinnen kann. Das Leben der Menschen, die von ihrer Politik betroffen sind, wird sie trotzdem verändern, zum Negativen. Es gibt eine Reihe von Dingen, die ich in die Kategorie „größtes Problem unserer Zeit“ zählen würde. Die Klimakrise zum Beispiel. Den Pflegenotstand, der sich mit der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren dramatisch verschärfen wird. Der Fach- und Arbeitskräftemangel, die hohe Inflation und die daraus resultierenden sozialen Notlagen. Geflüchtete sind es jedenfalls nicht. Eher die, die mit Migrations-Symbolpolitik von den eigentlichen Problemen ablenken.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

Migration ist wirklich nicht unser größtes Problem

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App