Das Entsetzen über das Massaker der Hamas war noch nicht abgeklungen, da setzte schon die mediale Empörung ein. Denn einige Personen aus dem linken und progressiven Spektrum tun sich schwer, die Taten der Terrororganisation Hamas zu verurteilen oder rechtfertigen das Massaker am 7. Oktober sogar als berechtigten Widerstand.
Beispiele für das Haltungssproblem der Linken gibt es unzählige: Eine „Black Lives Matter“-Gruppe aus Chicago postete das Bild eines Gleitschirmfliegers mit Palästina-Flagge, dazu die Beschriftung „I stand with Palestine“. Der Gleitschirmflieger ist eine Anspielung darauf, wie die Hamas-Terroristen auf israelisches Gebiet eingedrungen sind. Eine Studierendengruppe der Harvard University veröffentlichte einen offenen Brief, der dem „israelischen Regime“ die alleinige Schuld an dem Massaker gibt. Das Schreiben wurde vom „Harvard Undergraduate Palestine Solidarity Committee“ verfasst und von 33 anderen Studierendengruppen unterschrieben. Der Instagram-Account von „Fridays for Future International“ postete ein Statement, das Israel als Apartheidstaat bezeichnet und Israelis einen Genozid an Palästinenser:innen vorwirft. Kein Wort von der Hamas. Die französisch-israelische Intellektuelle Eva Illouz schrieb in der Süddeutschen Zeitung: „Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen.“
Kurzer Disclaimer: Natürlich ist es nicht antisemitisch, Mitgefühl mit den Zivilist:innen von Gaza zu haben. Die Lage dort ist katastrophal: Tausende sind unter der Bombardierung Israels gestorben, es fehlt an sauberem Wasser, Essen und Medikamenten. Weil der Gazastreifen abgeriegelt ist, können die Menschen nicht fliehen. Und nein, es ist auch nicht per se antisemitisch, die Regierung Israels zu kritisieren.
Das Problem ist, dass einige Linke ihr Mitgefühl für Palästinenser:innen äußern und Israel anklagen – aber kein Wort zu den Gräueltaten der Hamas verlieren. Die eine Linke gibt es natürlich nicht, aber eine Bubble von Menschen aus Europa und den USA, die sich im Internet oft gegen Ungleichheit, Rassismus oder das Patriarchat ausspricht. Sie würde man im politischen Spektrum eher links einordnen. Das sind zwar Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, aber gerade in dieser Bubble ist es verbreitet, die Taten der Hamas zu verschweigen und Israel einen „Genozid“ an Palästinenser:innen vorzuwerfen.
Für mich ist das, gelinde gesagt, schwer zu verstehen. Und dieses Unverständnis reicht schon länger zurück. Ich schreibe viel über die Ukraine und Russland, auch in diesem Konflikt ist mir aufgefallen: Menschen aus der linken Bubble halten oft an bestimmten Vorstellungen fest, auch wenn diese Vorstellungen sich nicht auf reale Konflikte übertragen lassen. Das führt dazu, dass sie sich nicht mehr auf die Seite leidender Menschen stellen – Hauptsache, sie müssen ihr Weltbild nicht anpassen. Diese Vorstellungen lassen sich auf zwei Punkte herunterbrechen.
Der Westen ist das Feindbild
Westlicher Imperialismus und Kolonialismus sind ein typisches Feindbild für viele Linke. Natürlich gibt es westlichen Imperialismus und er hat schon viel Schaden angerichtet. Er hat indigene Lebensformen rund um den Globus zerstört, westliche Mächte raubten Rohstoffe und versklavten die Bevölkerung. Das hat Folgen bis heute.
Der Israel-Palästina-Konflikt ist hochkompliziert und reicht weit zurück. In der Zeit des Ersten Weltkriegs versprach Großbritannien als Kolonialmacht sowohl Araber:innen als auch Jüd:innen dasselbe Territorium. Doch viele Linke scheinen die imperiale Gewalt in Israel und Palästina von damals schlimmer zu finden als das Massaker, das die Hamas am 7. Oktober 2023 anrichtete. So muss man es jedenfalls verstehen, wenn man Videos wie dieses hier auf Tiktok sieht. Es wurde mehr als fünf Millionen Mal angesehen, der Sound mehr als 300-mal für andere Videos verwendet. Darin malt sich eine Frau die Flagge Palästinas auf das Gesicht, während sie ein Lied über die Geschichte der Region singt. Es geht um das Osmanische Reich, um Großbritannien und die Diskriminierung von Palästineser:innen – doch kein Wort über den Holocaust oder das Massaker der Hamas am 7. Oktober.
Das Video ist eines von unzähligen, das den gesamten Konflikt auf die Behauptung herunterbricht, Israel habe Palästina kolonisiert. Auch in dem Instagram-Post von „Fridays for Future International“ steht: „Kolonialisten unterstützen nach wie vor Kolonialisten. Ein Beispiel dafür ist die militärische Unterstützung Israels durch die imperialistischen USA.“ Gewalt, die Jüd:innen widerfährt, spielt in dieser Argumentation keine Rolle. Auch nicht, dass viele Jüd:innen wegen der nationalsozialistischen Verfolgung in Europa schon vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina auswanderten.
Ein prominentes Beispiel an dieser Stelle ist Judith Butler, Philosophin und eine der bekanntesten Linken der USA. Sie sagte 2006, man müsse die Hamas als soziale Bewegung begreifen, die Teil einer globalen Linken sei. Zugegeben, diese Aussage ist ziemlich lange her. Aber Butler ist eine ziemlich einflussreiche Denkerin, deren Ideen in linken akademischen Kreisen große Wirkung haben. Inzwischen hat Butler die Gewalt der Hamas verurteilt, aber gleichzeitig in einem Aufsatz sehr wortreich erklärt, dass es bei dem Konflikt in Wahrheit nur um die palästinensische Befreiung von kolonialer Herrschaft gehe.
Wie stark das Feindbild Westen für viele Linke wirkt, ist mir besonders nach Russlands Angriff auf die Ukraine aufgefallen. In linken Kreisen ist Sowjetsymbolik oft weit verbreitet: Flaggen mit Hammer und Sichel oder Leninbüsten findet man in Berliner Eckkneipen und an den Wänden von Fachschaftsräumen in Universitäten. Einige Linke haben also noch immer eine positive Einstellung zur Sowjetunion und zu Russland, das sie als Nachfolgestaat der Sowjetunion begreifen. Wer gegen den Westen ist, muss irgendwie für Russland sein, so die sehr verkürzte Denkweise. Dabei ignorieren sie, dass Russland ebenfalls imperialistisch ist – und das nicht erst, seit es die Ukraine überfallen hat, sondern seit Jahrhunderten.
Die Ukraine sieht sich in einem antikolonialen Befreiungskampf, selbst ukrainische Anarchist:innen kämpfen in der Armee gegen Russland. Antikolonialer Befreiungskampf – das ist ein ur-linkes Thema. Aber westliche Linke sind so damit beschäftigt, den Westen zu kritisieren, dass sie vergessen, denjenigen zuzuhören, die unter den „Gegnern“ des Westens leiden. Zum Beispiel ist die Partei Die Linke klar gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Linke teilen die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte ein, auch wenn das nicht immer passt
Die sogenannte Critical Race Theory ist ein Theorieansatz, der davon ausgeht, dass Rassismus in der Gesellschaft verankert ist. Rassistische Handlungen sind demnach nicht unbedingt explizit, etwa wenn eine Person of Color aufgrund ihrer Hautfarbe beleidigt wird. In der Critical Race Theory geht man von strukturellem Rassismus aus, der dazu führt, dass People of Color benachteiligt werden, wenn auch unbewusst. Zum Beispiel, wenn sie bei gleicher Qualifikation seltener zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden oder eine schlechtere medizinische Versorgung erhalten. Versteht mich nicht falsch, ich lehne diese Ideen nicht ab. Struktureller Rassismus ist ein Problem, auch in Deutschland.
Die Krux ist, dass viele Linke die Konzepte der Critical Race Theory auf die ganze Welt übertragen, auch wenn das nicht immer passt. In dieser Vorstellung sind Palästinenser:innen immer die Unterdrückten, weil sie People of Color sind. Und jüdische Israelis automatisch Unterdrücker, weil sie Weiß sind.
Die Realität ist viel komplizierter: Erstens sind Jüd:innen nicht automatisch Weiß, zum Beispiel gibt es auch Schwarze äthiopische Juden oder Mizrahi Jüd:innen in Israel, die aus dem Nahen Osten kommen und demnach genauso People of Color sein müssten wie Palästinenser:innen. Zweitens berücksichtigen sie oft nicht die Verfolgung, der jüdische Menschen aufgrund ihres Jüdischseins ausgesetzt sind. Allein nach der Attacke der Hamas registrierte die Polizei in Deutschland innerhalb von zwei Wochen mehr als 200 antisemitische Straftaten: Unter anderem verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge und beschmierten Häuser, in denen Jüd:innen leben, mit einem Davidstern. Auch in Dagestan, einer muslimisch geprägten Region in Russland, kam es kürzlich zu antisemitischen Krawallen: Ein Mob stürmte einen Flughafen, weil dort eine Maschine aus Tel Aviv gelandet war. Die wütende Menge war auf der Suche nach Jüd:innen.
Sich mit den Unterdrückten zu verbünden, das müsste eigentlich auch bedeuten, sich mit Jüd:innen zu verbünden. Doch in so manch linker Vorstellung sind Jüd:innen nunmal Weiß und können deshalb nicht unterdrückt sein. In diesem Tiktok-Video zum Beispiel, das mehr als 8.000 Likes hat, kommentiert ein User: „It’s all about white supremacy.“
Ähnlich ist es beim russischen Krieg gegen die Ukraine. Es ist ein Vernichtungskrieg, der die ukrainische Sprache und Kultur wahlweise als minderwertig ansieht oder die Existenz einer ukrainischen Nation vollständig leugnet. Aber machen deshalb Linke weltweit den ukrainischen Widerstand zu ihrem Thema? Fehlanzeige.
Europäische und amerikanische Linke schaffen es nicht, israelischen oder ukrainischen Linken zuzuhören
Die von mir beschriebenen Denkmuster zu verstehen, ist das eine. Aber was ich wirklich nicht begreife, ist, warum Linke aus Europa und den USA den Linken aus Israel oder der Ukraine nicht zuhören. Die ukrainische linke Organisation „Sozialnyj Ruch“ schrieb schon im Mai 2022, dass Linke aus anderen Ländern Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen sollten. Sie müssten erkennen, „dass eine Front gegen den Imperialismus ohne bewaffneten Widerstand unmöglich ist.“
Auch israelische Linke bemerken in einem offenen Brief einen „beunruhigenden Trend in der politischen Kultur der globalen Linken.“ Die mehr als 50 Unterzeichner:innen des Briefes, hauptsächlich Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen, schreiben: „Es besteht kein Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterdrückung und Besatzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“
Westliche Linke schmücken sich gerne damit, nicht-westliche Stimmen wahrzunehmen. Jetzt wäre die Gelegenheit ihren linken Mitstreiter:innen aus Israel und der Ukraine zuzuhören.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger