Drei Hamas-Anhänger geben eine Pressekonferenz. Sie sind vermummt und tragen grüne Stirnbänder.

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„Die Hamas existiert in Gaza, aber auch in Doha und Beirut“

Islamwissenschaftler Reinhard Schulze über die Herkunft, Ideologie und Geschichte der Hamas – und warum Israel ihren Aufbau unterstützte.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

Am 07. Oktober 2023 töteten Terroristen der Hamas (auf Deutsch: Islamische Widerstandsbewegung) mindestens 1300 Menschen in Israel. Reinhard Schulze war von 1995 bis 2018 Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Sein Buch „Die Geschichte der Islamischen Welt” gilt heute als Standardwerk und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Mir hat er im Interview erzählt, welche Rolle Israel bei der Hamas-Gründung spielte, welcher Ideologie sie anhängt, wann es mal eine Annäherung zwischen beiden Seiten gab und welche Rolle die Hamas im politischen Leben Gazas spielt.


Herr Schulze, der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 war das größte Massaker an jüdischen Menschen seit der Shoah. Jetzt will Israel die Gruppe vernichten. Was kaum bekannt ist: In den späten 1970er Jahren unterstützte Israel den Aufbau einiger Vorgängerorganisationen der heutigen Hamas. Wie kam es damals dazu?

Nachdem Israel 1967 Gaza und das Westjordanland besetzt hatte, hatte das Land großes Interesse daran, mit zivilen Institutionen vor Ort zu kooperieren. Die Besatzung sollte kein rein militärisches Projekt sein. Dazu brauchte Israel Kooperationspartner. In der damaligen politischen Szene in Gaza waren die aber nicht zu erwarten. Deshalb orientierte sich Israel stärker an der entstehenden islamischen Öffentlichkeit und an den bestehenden islamischen Wohlfahrtsverbänden, die eine relativ starke Funktion in der Zivilgesellschaft hatten.

Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO unter dem Vorsitz von Yassir Arafat dominierte damals die politische Szene Palästinas. Israel wollte also ein Gegengewicht zu dieser Gruppe aufbauen?

Ein Portrait von Yasser Arafat

Yasser Arafat Picture-Alliance / Photoshot | -

Ja, die israelische Politik wollte sich auf diese Art und Weise einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung sichern – gegenüber den nicht-religiösen nationalistischen Gruppierungen und Parteien, die bis dahin die arabische Öffentlichkeit im Westjordanland und Gaza bestimmt hatten.

Viele der Vorgängerorganisationen der späteren Hamas waren damals in den Stadtvierteln sehr aktiv, zum Beispiel um die Moscheen herum. Dort gründete sich eine Art Solidaritätsnetzwerk. Israel erschien es sinnvoll, mit Solidaritätsnetzwerken zu kooperieren, weil sie die Effekte der israelischen Besatzung abzufedern vermochten. Zumindest war das die Hoffnung.

Aus diesem zivilgesellschaftlichen Kontext heraus gründete sich dann die Hamas?

Der genaue Gründungsmoment der Hamas ist unbekannt. Er lag zwischen 1986 und 1988. Manche sagen, die Gründung hinge unmittelbar mit der ersten Intifada, dem ersten palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzung, zusammen. Andere sagen, es hätte schon vorher Ansätze gegeben, die unterschiedlichen islamischen Wohlfahrtsverbände und Vereinigungen in eine islamische Widerstandsbewegung umzuorganisieren, die den bewaffneten Kampf zum politischen Programm machte.

Lassen Sie uns über dieses politische Programm sprechen. Wie würden Sie das zusammenfassen?

Die ursprüngliche Idee von Hamas-Gründer Ahmed Yassin und anderen war es, eine Widerstandsbewegung aufzubauen, die Israel und die besetzten Gebiete in ein islamisches Stiftungsland namens Palästina transformieren sollte.

Was heißt, ein Stiftungsland aufzubauen?

Palästina sollte zu einer Art Allgemeingut für die gesamte islamische Welt werden, ein transnationales islamisches Projekt. Das hat aber schon sehr früh nicht geklappt, sodass sich das politische Programm der Hamas immer stärker an islamisch-nationalistischen Positionen orientierte. Da merkte man die Tradition der Muslimbrüder, einer islamistischen Organisation, die im ganzen arabischen Raum verbreitet ist. Diese stehen politisch stark rechts und arbeiten sehr stark mit nationalistischen Parolen, die dann religiös unterfüttert werden. In diese Richtung hat sich die Hamas um 1988, 1989 entwickelt. Die ursprüngliche Idee, so etwas wie ein transnationales Palästina unter islamischer Oberhoheit zu begründen, ist sehr schnell verschwunden.

Wie unterscheidet die Hamas sich von der anderen großen palästinensischen Partei Fatah, der auch der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas angehört?

Fatah sieht sich immer noch als eine Art links-nationalistische Befreiungsbewegung an. Das ist heute mehr Fiktion als eine wirkliche Anknüpfung an die Traditionen der 60er oder 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Aber Fatah hat den Anspruch, eine interkonfessionelle, nationalistische Organisation zu sein. Das heißt, sie will auch die christliche und religiös indifferente Bevölkerung repräsentieren.

Die Hamas hingegen ist eine eindeutig religiös-nationalistische Organisation. Sie steht im politischen Spektrum weit rechts. Inzwischen könnte man schon sagen: im rechtsextremen Lager.

Im Dezember 1987 begann die erste Intifada (arabisch für Erhebung). War das der Moment der Radikalisierung der Hamas?

Die Hamas hat sich eher in Abgrenzung zur ersten Intifada radikalisiert. Die erste Intifada zeichnete sich dadurch aus, dass organisierte Militanz nicht so sehr im Vordergrund stand. Es war ein Aufstand, der relativ unabhängig von politischen Autoritäten erfolgte. Dieser Aufstand ging von der palästinensischen Zivilgesellschaft aus. Ihr Widerstand richtete sich nicht nur gegen die israelischen Besatzungsbehörden, sondern auch gegen alteingesessene palästinensische Autoritäten. Gegen Bestechung und Korruption. Später haben die Hamas und andere Gruppen sich dann sehr stark gegen diese zivilgesellschaftliche Politik gewendet und gesagt: Der islamische Nationalismus soll im Vordergrund stehen.

Eine Gruppe Palästinenser steht am Eingang zu einem Dorf. Sie halten eine palästinensische Fahne hoch.

Palästinensische Demonstranten und israelische Soldaten liefern sich am 14. Dezember 1987 vor dem Flüchtlingslager Nuseirat im Gazastreifen eine Straßenschlacht. Am 8. Dezember 1987 begann die Erste Intifada und damit der gewaltsame der Aufstand der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten. picture-alliance / dpa | AFP

Die Hamas-Gründungscharta vom 18. August 1988 erklärt unter anderem den Dschihad zur individuellen Pflicht und Juden zu Kriegstreibern. Wie wichtig ist Antisemitismus für die Ideologie der Hamas?

Klassischer Antisemitismus spielt für die Hamas eine bedeutende Rolle. Dieser Antisemitismus wurde zunächst im Kontext der Hamas-Debatten politisiert. Das heißt, der Antisemitismus richtete sich zunächst weniger gegen das Judentum in der Welt, sondern vor allem gegen das Judentum in Israel. Er erklärte die israelischen Juden zum primären Feind.

Die Gründungscharta enthält auch Elemente der antisemitischen Verschwörungserzählung der Protokolle der Weisen von Zion. Die Juden seien Drahtzieher einer vermeintlichen Weltverschwörung, heißt es. Wie fand eine solche Verschwörungserzählung, die damals schon lange als Fälschung bekannt war, ihren Weg in die Gründungsdokumente einer islamistischen Terrororganisation?

Die Gründungscharta der Hamas bedient in fast schon klassischer Weise das Narrativ, dass es so etwas wie eine Weltverschwörung des Kolonialismus gäbe. Das heißt, dass es getragen vom Judentum eine Weltverschwörung der Kolonialmächte gäbe, um palästinensisches Gebiet zu besetzen. Das ist eine Kombination aus Weltverschwörungs- und Weltjudentumsnarrativen auf der einen Seite und Kolonialismusnarrativen und kolonialen Erfahrungen auf der anderen Seite. Beide Seiten verschmolzen in der Hamas-Charta.

Wie hat sich der Antisemitismus der Hamas in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt?

Nachdem er sich eine Zeit lang sehr stark auf Israel bezogen hatte, rückte ab 1998 wieder der klassische Antisemitismus in den Vordergrund.

Die Erzählung einer jüdischen Weltverschwörung?

Genau, plötzlich wurde wieder von der Weltfront des Judentums gesprochen. Die islamische Opposition in Gaza und im Westjordanland verknüpfte den Kampf gegen Israel mit einem „Kampf gegen das Weltjudentum”, gegen Amerika, gegen den Westen. Das ganze Thema wurde wieder aus dem nationalen Kontext herausgelöst.

Palästinensischer Jugendlicher mit Molotow-Cocktails

Gewalt auf den Straßen in Gaza und dem Westjordanland: Während der Zweiten Intifada kommt es im Oktober 2000 immer wieder zu gewaltsamen Clashes zwischen der palästinensischen Zivilbevölkerung und der israelischen Armee. Hier hält eine Junge selbstgebaute Molotow-Cocktails in die Luft. picture-alliance / dpa | Fayez_Nureldine

Antisemitismus, Anti-Imperialismus, Feindbild westliche Welt: Ist das die Klammer, die die Hamas mit anderen Organisationen wie der libanesischen Hisbollah, dem Islamischen Staat (“Daesh”) oder Al Kaida zusammenhält?

Da würde ich ein bisschen zurückhaltend sein. Das ist etwas, was Iran sich wünscht und seit Jahren versucht, propagandistisch durchzusetzen. Aber eine solche gleichförmige Achse des Widerstandes gegen den Westen existiert nicht. Vereinigungen wie der Islamische Staat oder auch Al Kaida betonen innerkonfessionelle Differenzen teilweise sehr viel stärker als ihre Differenz zum Judentum.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat immer versucht, die Hamas unter Kontrolle zu halten. Jetzt will er sie vernichten. War die Hamas jemals ein möglicher Ansprechpartner für Israel?

Schwierig zu sagen. Vielleicht 2005, 2006 oder sogar noch 2007, als die Hamas sich in Gaza politisch durchgesetzt hat. Damals hätte sie ein politischer Ansprechpartner für die israelische Regierung werden können. Es gab zum Beispiel eine Erklärung, dass eine implizite Anerkennung des Staates Israel theoretisch möglich sei. Das wurde offensichtlich innerhalb der Hamas diskutiert.

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Warum wurde daraus nichts?

Das hatte unter anderem mit der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit 2006 und weiteren Geiselnahmen durch die Hamas und der kleineren Terrorgrupppe Islamischer Dschihad zu tun – und entsprechenden politischen Debatten, die darum entstanden. Gleichzeitig hing das auch damit zusammen, dass sich die Rechtsnationalisten in Israel so stark von Rechtsnationalisten in der islamischen Öffentlichkeit in Gaza abgrenzen mussten, dass ein Austausch diplomatischer Natur gar nicht vorstellbar war.

Israels Rechtsnationalisten sind in den letzten Jahren noch weiter nach rechts gerückt. Der aktuelle Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist ein bekennender Anhänger des Massenmörders Baruch Goldstein. Dieser ermordete 1994 in Hebron 29 betende Muslime. Gibt es da überhaupt Interesse an Dialog?

Unter den jetzigen Bedingungen wird sich die aktuelle Regierung eine Politik des Dialogs wahrscheinlich gar nicht leisten können. Um seine Neuordnung der Rechtsstaatlichkeit durchsetzen zu können, muss Netanjahu mit den rechtsradikalen Kräften kooperieren.

Sie meinen die sogenannte Justizreform, mit der die Regierung Netanjahus die Gewaltenteilung in Israel de facto abschaffen würde?

Genau. Itamar Ben-Gvir und andere aus dem rechtsradikalen Lager sind außerdem sehr stark daran interessiert, die Situation jetzt für sich zu nutzen. Sie wollen eine Entscheidung über die Zukunft Israels in den besetzten Gebieten herbeiführen. Das betrifft also nicht nur Gaza.

Die rechtsradikale Seite leitet aus der aktuellen Situation eine Debatte über die Frage ab, wie die Annexion des Westjordanlandes erfolgen könnte und welche Konsequenzen das für die Bevölkerung vor Ort haben müsste. Das heißt: Netanjahu muss sich jetzt entscheiden: Soll er sich an dieser rechtsradikalen Politik orientieren? Oder mit den liberalen, linkszionistischen oder gar linksnationalen Kräften kooperieren, um die aktuelle Krise zu bewältigen? Es ist nicht klar, in welche Richtung er das Schiff innenpolitisch steuern wird.

Die Hamas ist eine islamistische Terrororganisation, aber als politische Partei regiert sie auch in Gaza. Wie viel Unterstützung hat sie in der Bevölkerung?

Das kann man nicht sagen. Es gibt immer wieder den Versuch, das in Umfragen zu erheben. Dann heißt es zum Beispiel, ein großer Teil oder 40 Prozent der Bevölkerung in Gaza stünde hinter der Hamas. Aber all diese Zahlen sind empirisch nicht abgesichert und sollten vergessen werden.

Orientierung bietet die Struktur, mit der die Hamas Politik macht. Sie hat die staatlichen Organe in Gaza übernommen und auf ein Mindestmaß zurückgeschnitten, sodass so etwas wie Staatlichkeit gerade noch funktioniert. Das ist aber kaum ausreichend, sodass sich in Gaza neben dem Hamas-Staat noch eine Art zivilgesellschaftliche Organisation entwickelt hat, die von der Hamas unabhängig ist. Diese reicht vom Tierschutz bis zu Kliniken. Diese zivilgesellschaftliche Organisation garantiert die Weiterexistenz der Gesellschaft und organisiert sich ebenfalls in einer Art Solidaritätsnetzwerk. Ohne sie droht das ganz große Chaos. Wie stark und politisch diese Zivilgesellschaft ist, das ist aber sehr umstritten.

Weiß man, wie viele Menschen ungefähr dem militärischen Arm der Hamas in Gaza angehören?

Das weiß man ziemlich genau. Die Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, verfügen über 15.000 bis 20.000 Kämpfer. Das entspricht etwa einem Viertel der gesamten Mitglieder der Organisation. Die Hamas existiert nicht nur in Gaza, sondern auch in Damaskus, Doha, Beirut und Kairo. Es gibt eine Auslandsorganisation mit eigener Struktur. Die wird in jedem Fall überleben. Wenn Israel in Gaza die politischen und militärischen Strukturen der Hamas zerschlägt, bedeutet das nicht zwangsläufig das Aus der Organisation selbst.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Die Hamas existiert in Gaza, aber auch in Doha und Beirut“

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