Barbara King: Es passierte, als ich im Krankenhaus war. Ich war schwer krebskrank, ein aggressiver, seltener Gebärmutterkrebs. Eine sechsstündige Operation lag hinter mir. Mein Mann und unser gemeinsames Kind waren bereits gegangen, ich war allein. Es war Nacht. Ich war an einen Katheter und diverse Maschinen angeschlossen. Manschetten, die sich immer wieder automatisch aufbliesen, drückten meine Beine zusammen, um Blutgerinnsel zu verhindern. Und wie ich so da lag, wurde ich plötzlich zu einer Bärin. Ich formuliere das bewusst so. Das war kein Traum und auch keine durch Drogen verursachte Halluzination. Ich fühlte, dass ich ein Bär war. Und zwar ein ganz bestimmter Bär.
Barbara King ist 67 Jahre alt, hat wallendes graues Haar und sitzt vor dem Foto eines Bergpanoramas. Sie spricht langsam und mit großem Ernst, als sie mir im Videomeeting davon erzählt, wie sie zum Bären wurde.
Es wäre leicht, King in eine Schublade zu stecken, wenn man diese Geschichte hört, ohne zu wissen, wer sie ist. Vielleicht in die einer verträumten Katzenlady – sie hat tatsächlich viele Katzen. Wie viele, ist mir nicht ganz klar, in ihrem Buch schreibt sie von neun, im Gespräch erwähnt sie fünf. Aber King ist Wissenschaftlerin, emeritierte Professorin des Fachbereichs Anthropologie am College of William & Mary, der zweitältesten Universität der Vereinigten Staaten. Zu Beginn ihrer Karriere hat sie an Pavianen in Kenia geforscht, später hat sie Emotionen und Intelligenz bei einer Vielzahl von Tierarten untersucht, Kraken, Tintenfischen, Schweinen, Delfinen, Menschenaffen. Wenn eine Frau wie Barbara King sagt, dass sie zum Bären wurde, sollte man hinhören.
Was für ein Bär waren Sie?
Ein sogenannter Gallebär. Ich hatte kurz vor meiner Operation dazu recherchiert. Das sind Bären, die in sehr kleinen Käfigen gehalten werden, in Vietnam zum Beispiel oder in China. Man schließt Katheter an sie an, um Gallensaft zu extrahieren. In diesen Ländern glaubt man, dass die Galle besondere Heilkräfte hat. Wissenschaftlich ist nichts davon nachgewiesen, aber die Bären leiden furchtbar. Sie können sich kaum bewegen und hängen über lange Zeiträume an diesen Maschinen. Die Geschichte dieser Bären verfolgte mich. So sehr, dass ich mich in dieser Nacht im Krankenhaus, angeschlossen an diese Maschinen, selbst wie ein Gallebär fühlte. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe es einfach gefühlt. Für mich war das eine transformative Erfahrung. Ich habe begriffen, dass die Patient:innenperspektive uns empathischer für das Leiden von Tieren wie Gallebären werden lassen kann.
Wahrscheinlich wurden einige der Medikamente, die Sie als Krebspatientin bekommen haben, allerdings an Tieren getestet.
Ja. Manchmal fragen mich die Leute: Wie kannst du dich für tierversuchsfreie Forschung einsetzen, wenn du selbst von Tierversuchen profitiert hast? Ich finde, dass man von Patient:innen niemals verlangen kann, sich schuldig zu fühlen, wenn sie lebensrettende Medikamente nehmen. Wenn zum Beispiel Herzpatient:innen Teile von Tierherzen transplantiert werden, sollten sie deswegen niemals ein schlechtes Gewissen haben müssen. Wenn ich Tierversuche für die Medizin kritisiere, geht es mir nicht um einzelne Patienten und individuelle Familienentscheidungen. Sondern um ein System, das früher sinnvoll war, als die Forschung begrenzte Möglichkeiten hatte und man Tiere verwenden musste, um Medikamente zu entwickeln. Heute haben wir viele andere Möglichkeiten.
Ich habe ein Interview mit Ihnen von vor etwa zehn Jahren gelesen. Damals sagten Sie: „Es ist eine sehr aufregende Zeit, um die Emotionen von Tieren zu untersuchen, denn in der Wissenschaft bewegt sich hier gerade viel.“ Was ist seitdem passiert? Was wissen wir heute über die Emotionen von Tieren?
Es gibt ein ganz neues Gebiet, das in dieser Zeit entstanden ist, die evolutionäre Thanatologie. Dabei geht es um die Frage, wie verschiedene Arten auf den Tod reagieren – und ein Teilbereich davon ist Trauer. In den letzten zehn Jahren wurde bei vielen Tieren glaubwürdig nachgewiesen, dass sie unter bestimmten Umständen Trauerreaktionen zeigen. 2013 ging ich noch davon aus, dass Menschenaffen wie Schimpansen oder Gorillas die einzigen Affenarten sind, die trauern. Heute gibt es glaubwürdige wissenschaftliche Berichte über andere Affenarten aus Afrika, Asien und Südamerika, die ebenfalls Trauerreaktionen zeigen. Das Gleiche gilt nach heutigem Stand für viele andere Tiere, etwa die schweineähnlichen Pekaris und die Giraffen. Die wichtigste Veränderung im letzten Jahrzehnt war aber, dass die Wissenschaft begonnen hat, sich mit dem Gefühlsleben einer ganzen Reihe von Tieren zu befassen. Nicht nur denen von Säugetieren, sondern auch von Vögeln oder Reptilien.
Warum ist gerade das Thema Trauer bei Tieren für Sie so interessant?
Das geht nicht nur mir so, es gibt bei vielen Menschen ein großes Interesse dafür. Als ich 2019 meinen TED-Vortrag über Trauer bei Tieren gehalten habe, wurde mir das klar. Nicht jede:r möchte über Gefühle bei Tieren nachdenken, beim Thema Trauer sind aber viele dazu bereit. Ich glaube, es liegt daran, dass Trauer aus Liebe entsteht. Das ist eine universelle Erfahrung für Menschen. Wir lieben, und wir wissen, dass wir geliebte Menschen in unserem Leben verlieren werden. Daher kann es ein echter Trost und eine echte Erleichterung sein zu wissen, dass wir nicht die einzigen Tiere auf diesem Planeten sind, die diesen Prozess durchmachen.
Warum tröstet Sie das?
Schon als Kind habe ich mich mit der Natur verbunden gefühlt, und in der Nähe von Tieren besonders wohl. Trauer ist nur eine weitere Dimension dieser Verbindung. Natürlich sind wir Menschen einzigartig in der Tierwelt, aber das gilt auch für Giraffen, Katzen oder Forellen. Laut der Evolutionstheorie ist jede Art in ihrer Weise einzigartig. Gleichzeitig haben wir auch viel gemeinsam. Bei der Forelle bin ich mir nicht so sicher, aber ich weiß, dass viele Tiere jeden Tag Gedanken verarbeiten, sich an Dinge erinnern und Emotionen erleben. Das gibt mir das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das so viel größer ist als unsere eigene Spezies. Für mich ist das nicht spirituell. Es ist nicht religiös. Es ist Natur.
Sie haben ein Buch über Trauer bei Tieren geschrieben und anschließend eines über die Gefühle von Nutztieren wie Schweinen, Hühner und Rindern. Die Reaktionen der Leser:innen auf beide Bücher waren sehr unterschiedlich, haben sie einmal vermerkt.
Da gibt es eine klare Diskrepanz. Menschen finden es immer aufregend, wenn sie von neuen Erkenntnissen darüber hören, wie Elefanten denken oder wie Schimpansen Gefühle zum Ausdruck bringen. Vor ein paar Monaten ging ein Video über eine Schimpansenmutter um die Welt, deren neugeborenes Kind dringend medizinisch versorgt werden musste. Man hat die beiden also für eineinhalb Tage getrennt. Anschließend brachten die Mitarbeiter des Zoos das neugeborene Schimpansenbaby in einer Decke in einen Raum, legten es dort ab und ließen die Mutter hinein. Die Mutter schaute sich erst etwas um und bemerkte dann, dass die Decke sich bewegte. Sie eilte herbei und hob das Baby auf. Man konnte eine Flut von Emotionen bei der Schimpansenmutter sehen, wie sie das Baby küsste und es im Arm hielt.
https://www.youtube.com/watch?v=9qnNjpp8mmg
Im Internet schreiben viele, dass sie weinen mussten, als sie das Video sahen.
Ja, und sie sprechen über die Gefühle der Mutter, sie benutzen dabei Worte wie „Erleichterung“, „Aufregung“ und „Liebe“. Aber wenn es um andere Säugetiere wie Schweine und Kühe geht, wollen die Menschen nichts über deren Gefühle wissen, weil sie diese Tiere essen. Es ist unangenehm zu wissen, dass das Schwein auf ihrem Teller einen guten oder einen schlechten Tag haben konnte und dass es leben wollte. Oder dass die Milchkuh, aus deren Milch ihre Eiscreme hergestellt wurde, leidet, weil sie von ihren Kälbern getrennt wird.
In jedem Betrieb, außer vielleicht den kleinsten Familienbetrieben, werden den Kühen nach der Geburt ihre Töchter und Söhne weggenommen, weil die Milch für die Menschen bestimmt ist. Wenn Sie Kühe in diesem Moment der Trennung beobachten, sind die Mütter verstört, sie laufen auf und ab und brüllen. Es gibt keinen großen Unterschied zu dem, was die Schimpansenmutter mit ihrem Baby durchgemacht hat.
Ich glaube, wir sind alle dazu erzogen worden, unterschiedlich über Tiere zu denken. Einerseits bewundern wir Tiere in freier Wildbahn, Schimpansen und Elefanten etwa, oder wir holen sie zu uns nach Hause wie Hunde und Katzen. Und dann gibt es die Tiere, die wir einfach benutzen – Nutztiere. Aber auch diese Tiere können trauern, fühlen und denken.
Ich kann verstehen, wenn man das nicht so genau wissen will. Ich bin Vegetarierin – und ich denke nicht so gerne darüber nach, wie Kühe von ihren Söhnen und Töchtern getrennt werden, damit ich Käse essen kann.
Ganz vegan ernähre ich mich auch nicht. Oft werde ich gefragt, warum. Ein Grund ist meine Krankheit. Mein Krebs wurde operiert, mit Chemotherapie und Bestrahlungen behandelt. Seitdem ist mein Verdauungssystem total durcheinander. Ich kann einfach nicht mehr alles essen. Aber das soll keine Ausrede sein. Es gibt Zeiten, in denen will ich einfach deswegen nicht pflanzlich essen, weil ich keine Lust dazu habe. Aber ich bemühe mich.
Ich will gerne Mitgefühl für Tiere haben, aber auch für mich selbst. Manchmal möchte ich mit den Kindern meiner Schwester einfach ein richtiges Sahneeis essen.
Ich will niemandem sagen, dass er die ganze Zeit 100 Prozent perfekt sein muss. Daran glaube ich nicht. Aber die Menschen, für die ich schreibe, können sich größtenteils aussuchen, was sie essen und was nicht. Das gilt nicht für alle. Ich bin biologische Anthropologin, daher muss ich global denken. Millionen von Menschen auf der Welt ernähren ihre Familien mit Proteinen aus dem Meer, aus der Fischerei. Oder von Hühnern, die sie in ihren eigenen Häusern und Höfen aufziehen, oder von Kuhmilch. Ich werde diesen Menschen, die oft in Armut leben, sicher nicht sagen, dass sie damit etwas falsch machen.
Wenn wir wollen, dass sich die Welt stärker pflanzlich ernährt, müssen wir alternative Proteine für alle verfügbar machen. Dabei geht es nicht nur um das Leiden von Tieren, sondern auch um die Klimakrise. Wir müssen uns in Richtung einer pflanzenbasierten Ernährung bewegen. Aber das sind enorm verwickelte und komplizierte Fragen. Es ist nicht so einfach, wie „wir müssen alle vegan werden“.
Die Expertin
Barbara J. King ist emeritierte Professorin für Anthropologie am College William & Mary. Sie lehrte dort von 1988 bis 2015 und hatte den Vorsitz der Fakultät für Anthropologie innehatte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Emotionen und Kognition bei Tieren, die Ethik unserer Beziehungen zu Tieren sowie die Evolutionsgeschichte von Sprache, Kultur und Religion. Sie ist Autorin von sieben Büchern, ihr TED-Vortrag über Tierliebe und -trauer wurde über 3 Millionen Mal angesehen.
Mir fällt oft auf, dass es gut ankommt, wenn man aus Gründen des Klimaschutzes auf Fleisch verzichtet. Will man aber aus ethischen Gründen oder aus Mitgefühl keine Tiere essen, gilt das als naiv oder sentimental.
Ich glaube, bei jüngeren Menschen ist das nicht mehr so. Trotzdem sagen immer noch Leute zu mir: „Warum sollte ich denn kein Fleisch essen? In der Tierwelt ist das doch ganz natürlich! Der Löwe tötet die Antilope. Die Eule jagt ein Kaninchen. Wo ist da der Unterschied?“ Ich glaube ja nicht, dass die Leute bereit wären, ihr Leben konsequent nach dieser Denkweise auszurichten und wie wilde Tiere im Freien zu leben, ohne medizinische Versorgung oder sonstigen Schutz. Gleichzeitig weiß ich als Anthropologin natürlich, dass sich unsere menschlichen Gehirne teilweise dank unseres Fleischkonsums entwickelt haben. Das war wichtig in unserer Evolution. Nur: Welches Gehirn haben wir damit heute? Hoffentlich eins, mit dem wir verstehen können, dass das Leben und unsere Umwelt heute anders sind. Wir sind nicht der Löwe, der die Antilope tötet, und wir sind nicht die Eule, die das Kaninchen jagt. Wir haben eine andere Art von Gehirn. Wir können Mitgefühl haben und uns auf unsere neue Umwelt einstellen.
An diesem Punkt des Gesprächs wird King von einer ihrer Katzen abgelenkt. Ich kann sie nicht sehen, aber es sei ein uralter Kater, sagt King, stolze 17 Jahre alt. Vielleicht ist es der Kater namens Nicholas Longtail, den sie in ihrem Buch erwähnt. Manchmal irre er verwirrt durchs Haus, dann müsse man ihm helfen, meint King. Sie macht eine Pause, lauscht dem Tier hinterher. Dann nickt sie kurz. Der Kater kommt klar. Wir können das Gespräch weiterführen.
Wie gehen Sie damit um, dass viele Leute sagen, es sei wissenschaftlich nicht korrekt, Tieren menschliche Gefühle wie Liebe, Trauer und Glück zuzuschreiben?
Sie sprechen von dem, was ich das A-Wort nenne, nämlich Anthropomorphismus.
Ja, genau.
Ist Ihnen aufgefallen, dass Sie in Ihrer Frage etwas sehr Interessantes gemacht haben? Sie haben mich gefragt, ob man menschliche Gefühle auf andere Tiere überträgt. Ah, aber Emotionen sind nicht menschlich! Sie gehören uns nicht. Genau an diesem Punkt müssen wir unsere Sprache und unsere Annahmen überdenken. Wenn wir sagen, dass es menschlich ist, sich zu freuen, zu trauern, sich zu fürchten oder zu lieben, dann machen wir uns natürlich Sorgen darüber, dass wir menschliche Gefühle projizieren. Aber wir können auch eine andere Perspektive einnehmen. Wenn wir das Gefühl von Trauer erforschen, müssen wir dafür ein Tier beobachten, das den Todesfall eines Gefährten oder Familienmitglieds erlebt hat. Es kann sichtbare Anzeichen für Trauer geben: etwa sozialen Rückzug, vielleicht verändert sich das Gesicht oder die Stimme, oder das Tier frisst oder schläft nicht mehr wie vorher. Der Schlüssel liegt darin, rigoros und genau in der Beobachtung zu sein, die Emotion klar zu definieren, und danach zu suchen, wo sie vorhanden ist und wo nicht. Nicht jedes Tier trauert. Aber Trauer ist kein menschliches Gefühl, sondern eines, das wir mit vielen Tieren teilen.
Schon einmal von Tahlequah gehört? Zu Beginn ihres TED-Vortrags erzählt die Anthropologin die Geschichte dieses Orca-Weibchens. Tahlequah gehört zur sogenannten J-Pod, einer Walschule vor der Küste des pazifischen Nordwestens, die schon lange wissenschaftlich beobachtet wird. Im Juli 2018 brachte Tahlequah ein Kalb zur Welt, das kurz nach der Geburt starb. Die Walmutter behielt das tote Baby über zwei Wochen lang bei sich und hielt es mit der Nase über Wasser, manchmal halfen ihr andere Wale dabei. Wenn der Körper des Babys nach unten sank, tauchte sie hinterher und holte es zu sich zurück. Dabei schwamm das Orca-Weibchen über 1.000 Meilen, teils gegen starke Strömungen. Erst nach 17 Tagen ließ Tahlequah den Körper des Babys los.
Orcas sind nicht die einzigen Wale, die sich so verhalten. In diesem Video sieht man eine Grindwal-Mutter, die ihr totes Baby nicht loslassen will, kommentiert von dem britischen Naturfilmer David Attenborough.
Ich habe vor diesem Interview meinem Mann erzählt, dass ich mit einer Wissenschaftlerin sprechen würde, die über Emotionen bei Tieren forscht. Er guckte entgeistert und fragte: „Warum brauchen wir überhaupt Wissenschaft dafür? Es ist doch offensichtlich, dass Tiere Gefühle haben, wenn man etwas Zeit mit ihnen verbringt.“
Ich finde es gut, was er gesagt hat, denn es stimmt ja. Wenn wir mit Tieren zusammenleben, sehen wir Emotionen und ihre Intelligenz. Aber als Wissenschaftler:innen können wir das nicht einfach so hinnehmen. Wir wollen sehen und verstehen, unter welchen Umständen diese Gefühle auftreten, bei welchen Arten, in welchen Populationen und bei welchen Individuen. Einmal sprach ich im Radio über Trauer bei Tieren. Eine Frau meldete sich und erzählte, dass sie früher zwei Hunde hatte. Als der eine starb, zeigte der andere keinerlei Anzeichen von Trauer. „Was stimmte nicht mit dem Hund?“, fragte sie. Genau das sollten wir vermeiden. Wir sollten ebenso wenig leugnen, dass Tiere Gefühle haben, wie davon ausgehen, dass sie sich alle gleich verhalten werden.
Ich habe diese Frau noch ein wenig zu ihrem Hund befragt. Und es stellte sich heraus, dass der überlebende Hund es liebte, das einzige Tier im Haus zu sein und zusätzliche Liebe und Aufmerksamkeit zu bekommen. Das kann ich verstehen. Warum sollten wir darauf bestehen, dass ein Tier sich auf eine bestimmte Weise verhält? Das ist stark von den Umständen abhängig. Bei Menschen übrigens auch. Ich kenne einige Leute, die mir erzählt haben, dass sie ihre verstorbene Mutter oder ihren verstorbenen Vater nicht betrauern, weil die keine guten Eltern waren.
Sie versuchen in ihrer Arbeit zu zeigen, wie sehr Tiere den Menschen ähneln, wie viele Emotionen wir gemeinsam haben. Können wir nur Lebewesen respektieren, die uns ähnlich sind?
Ich hoffe nicht. Um noch einmal kurz auf die Trauer zurückzukommen: Trauer drückt sich bei Tieren nicht unbedingt auf eine Weise aus, die wir als Menschen wiedererkennen. Bei manchen Tieren kann es zum Beispiel vorkommen, dass sie an einer Leiche herumzerren. Auch das scheint Teil einer Trauerreaktion zu sein.
Vor Kurzem habe ich einen Artikel über menschlichen Exzeptionalismus geschrieben. Dieser geht nicht nur davon aus, dass Menschen einzigartig sind, sondern dass wir auch die Besten sind. Wir stehen an der Spitze aller Tiere.
Eine ziemlich christliche Einstellung.
Oh, ja. Wenn wir uns aber wirbellose Tiere ansehen, Spinnen oder Tintenfische etwa, können wir von der Einstellung loskommen, dass Tiere genau dann besonders wertvoll sind, wenn sie uns ähneln. Manche Experimente zeigen, dass Spinnen ihr Netz wie eine Erweiterung ihres Körpers nutzen. Sie spüren durch ihren Körper, was mit ihrer Beute im Netz passiert. Das ähnelt der Art und Weise, wie wir Menschen mit unseren Computern denken. Wenn ich mich hinsetze, um zu schreiben, geschieht ein Teil meines Denkens, Schreibens und Verarbeitens durch den Computer.
Oder nehmen wir Oktopusse. Die sind ja zum Aushängeschild für Intelligenz in der Welt der Wirbellosen geworden und werden unter anderem in der Cambridge Declaration of Consciousness erwähnt. Aber ehrlich gesagt tappen wir immer noch im Dunkeln, wie Kraken die Welt wahrnehmen und verstehen. Sicher, sie können Werkzeuge benutzen, zum Beispiel eine Kokosnussschale, die sie in ein kleines Haus auf dem Meeresboden verwandeln. Wenn wir so etwas sehen, nicken wir und sagen: „Ja, das ist Werkzeuggebrauch.“ Aber wenn Oktopusse anfangen, Farbspiele über ihre Haut laufen zu lassen, rot zu blinken oder geisterhaft weiß zu werden, haben wir meist keine Ahnung, was in ihnen vor sich geht. Oktopusse denken außerdem nicht nur mit dem Kopf, ihre Neuronen sind über ihre Arme verteilt. Wie ist es, mit den Armen zu denken?
Das würde ich auch gerne wissen.
Ich hatte einmal die Gelegenheit, Zeit mit einem riesigen pazifischen Oktopus in einem Aquarium zu verbringen. Und nein, ich war nicht erfreut darüber, dass er in Gefangenschaft lebte. Der Oktopus kam an den Rand des Beckens und schlang seine Arme um meinen Körper. Ich wusste, dass es sich um eine intelligente Art der Kontaktaufnahme handelte. Aber ich konnte sie nicht verstehen. Weil seine sensorische Welt nicht mit der meinen vergleichbar ist.
Redaktion: Johannes Laubmeier, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert