Die Grausamkeit ist überall. Wer Nachrichten verfolgt, kann ihr nicht entfliehen. In Israel oder der Ukraine, aber auch in Deutschland passieren täglich erschütternde Gewalttaten. Immer häufiger filmen und fotografieren die Täter:innen ihre Verbrechen und nur kurze Zeit später sehen wir das auf Instagram, Tiktok oder Twitch. Immer wieder frage ich mich: Wer sind die Menschen, die sowas tun? Sind sie einfach krank? Sind das wirklich Menschen?
Diesen Buchauszug hat Isolde Ruhdorfer ausgewählt
Stanislav Aseyev sagt: Ja, sind sie. Und wir machen es ihnen zu einfach, wenn wir sie einfach als Psychopath:innen abstempeln. Denn die Täter:innen führen ein normales Leben, mitten unter uns. Aber er als Journalist kann sie dazu bringen, sich ihrer schrecklichen Taten bewusst zu werden.
Aseyev ist Ukrainer, 2017 verhafteten ihn russische Kräfte in Donezk im Donbass, wegen seiner pro-ukrainischen Berichterstattung. Damals führte Russland bereits einen verdeckten Krieg in der Ostukraine. Aseyev verbrachte zweieinhalb Jahre in Gefangenschaft, den Großteil davon in der „Isolation“, einem Donezker Foltergefängnis mit der Adresse Heller Weg 3.
Dort quält und erniedrigt die „Administration“ die Insass:innen. Um nicht den Verstand zu verlieren, schreibt Aseyev, wo und wann er kann: auf Papierfetzen und Papierresten, mit einem heimlich ergatterten Bleistiftstummel. Durch einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine kommt er Ende 2019 frei und schreibt ein Buch über die „Isolation“. Darüber, wie Stunden, Monate und Jahre in Gefangenschaft vergehen, über Hass und Angst und die Psychologie der folternden Menschen.
Ich möchte nicht, dass wir das Etikett „Sadist“ zu voreilig denjenigen anhängen, die die Menschen in der Isolation erniedrigen. Zweifellos verdient es der Großteil von ihnen und es sind klassische Psychopathen und Sadisten, die nicht zu Empathie gegenüber fremdem Leiden in der Lage sind. Genau die Unfähigkeit, Mitgefühl für fremden Schmerz zu empfinden, gab diesen Leuten die Möglichkeit, jahrelang rund um die Uhr Menschen zu foltern, danach von der Schicht zu ihren Familien heimzukehren, außerhalb der Mauern der Isolation ein vollkommen normales Leben zu führen – und am nächsten Tag wieder zu foltern.
Interessanterweise äußerte sich über diesen Typ Menschen einmal sehr treffend einer derjenigen, der mich in Donezk festgenommen hatten, als er mich am zweiten Tag nach der Folter für ein erneutes Verhör aus dem Keller holte. Auf meine damals noch naive Frage „Was machen Sie hier mit den Leuten?“ lächelte dieser Mensch und antwortete: „Denkst du etwa, ein normaler Mensch kann einen Draht an einem Penis anlegen, jemanden vier Stunden am Stück foltern und dann zu seiner Ehefrau zurückkehren und ruhig zu Abend essen? Ich zum Beispiel kann es nicht. Deswegen haben wir spezielle Leute, die dazu in der Lage sind. Irgendwer muss auch diese Arbeit machen.“ Dieser Mann folterte mich tatsächlich nicht eigenhändig, er schlug nur mit dem Gummiknüppel zu; er war allerdings bei meiner Folter dabei und achtete aufmerksam auf die Antworten.
Das Etikett „Psychopath“ ist keine Erklärung
Und doch ist „Sadist“ und „Psychopath“ nicht die Antwort auf die Frage. Ich meine damit, dass wir nicht von Menschen sprechen, die wegen ihrer Geistesstörung und Aggressionen hinter gepolsterten weißen Wänden vor der Gesellschaft weggeschlossen wären. Nein, wir reden von Menschen, die vor diesem Krieg über dieselben Straßen liefen wie wir, in derselben Schlange nach Brot anstanden oder uns vielleicht zufällig im öffentlichen Nahverkehr mit der Schulter angerempelt haben. Von Menschen, die auch jetzt über diese Straßen laufen, ohne Sturmhauben, und nicht erkennen lassen, dass sie gestern jemanden gefoltert haben.
Deswegen erklärt das Etikett „Psychopath“ die Situation nicht und stellt das Etikett „Mensch“ in Frage. Sind das Menschen? Zweifellos ja. Genau die Offensichtlichkeit der Antwort erschreckt, von der man sich nicht mit einer Hinweistafel „Er ist ein Psychopath“ abgrenzen kann.
Folter hat nichts mit Politik oder Ansichten zu tun. Es geschieht mit allen – einfach so
Im Verlauf unserer Geschichte existierten und existieren Hunderte solcher Isolationen auf der ganzen Welt, wo unbegrenzte Macht auf sehr engem Raum den einen die Möglichkeit gibt, sich am Leid der anderen zu ergötzen. Und hierbei geht es nicht um Politik oder Ansichten. Es hat nichts Politisches, die Insassen einiger Zellen aufstehen und stundenlang sowjetische Lieder singen zu lassen, während gegenüber jemand gefoltert wird. Warum macht man das? Damit die Gefangenen die Schreie nicht hören? Sollte es nicht klar gewesen sein, dass sie jemandem elektrischen Strom durch den Körper jagen? Das ist absurd. Sobald jeder von uns hörte, wie in der ersten Zelle mit dem Singen von Liedern begonnen wurde, wussten wir, dass sie jetzt jemanden foltern würden.
Der Effekt war gegenteilig: Jedes Lied brachte den Reflex der Angst mit sich und die Administration kalkulierte genau mit diesem Effekt. Das geschah nicht wegen der „Staatssicherheit“, aufgrund der Merkmale Nationalität oder Religion; das geschah mit Militärangehörigen, LKW-Fahrern, Geschäftsmännern und Ärzten – das geschah mit allen. Einfach so.
Ein anderes Beispiel. Ein Mensch wurde über Stunden gefoltert, wonach er alles unterschrieb, was von ihm gefordert worden war. Das war jedoch zu wenig. Nach der Folter führten sie den jungen Mann in die Zelle, zogen ihn nackt aus und schalteten Musik auf dem Handy ein, zu der er vor einer Videokamera für die Administration tanzen musste.
Hier ist die Rede von der Natur des Menschen selbst, so es eine solche überhaupt gibt. Erkennen diese Menschen, dass sie eine Grenze überschritten haben? Ich bin davon überzeugt. Es ist eine Sache, zu foltern und zu erniedrigen, und eine ganz andere, sich selbst in diesem Spiegel der Folter zu sehen und zu verstehen, wie du gehandelt hast.
In meinem Blick sah er sich selbst
Ich führe ein kurioses Beispiel an. Buchstäblich ein paar Wochen vor meiner Verlegung aus der Isolation ins Donezker Gefängnis wurden wir vom morgendlichen Hofgang zurück in die Zelle geführt. Ungefähr zehn Leute kamen zurück und die Tür wurde uns von genau demjenigen geöffnet, der ein Jahr zuvor meine Manuskripte eingezogen und einige recht zurückhaltende kurze Essays über die Isolation gelesen hatte, in denen es um die Psychologie der Gefängniswachen und der Gefangenen ging. Von uns ganzen zehn – und unter uns waren auch ehemalige ukrainische Soldaten, denen gegenüber diese Menschen einen besonderen Hass empfinden mussten – wandte dieser Mensch sich nur an mich: „Aseyev! Wann muss ich dich hier endlich nicht mehr sehen?“
Warum rief ausgerechnet ich, ein Journalist, bei ihm Gereiztheit hervor? Für mich ist die Antwort offensichtlich: In meinem Blick sah er sich selbst. Nachdem er auf diesen Blättern meine Gedanken darüber gelesen hatte, spiegelte er sich selbst darin jedes Mal wider, wenn sich unsere Blicke trafen. Er verstand, was genau ich über ihn und seine „Arbeit“ dachte, sogar wenn ich schwieg.
Nur dieser Blick hält uns von Grausamkeit ab
Natürlich ist hier nicht die Rede von Gewissensbissen oder etwas Ähnlichem. Wenn das möglich gewesen wäre, hätte sich die Isolation selbst für die Administration in Folter verwandelt. Eher kann man von einem sozialen Spiegeleffekt sprechen, wenn – wie Sartre schrieb – der Mensch sein „Ich“ lediglich im Blick des Anderen entdeckt. Nur im bewussten Blick dessen, den man foltert, kann man sich selbst in der Qualität des Folterknechts entdecken. Nicht in den Schreien, dem Stöhnen, dem Flehen – an solche Dinge sind diese Menschen gewöhnt. Aggression ruft genau ein solcher „Spiegel“ hervor, so als würden Sie plötzlich bemerken, dass Ihre ganze Kleidung schmutzig ist.
Deswegen also können Psychopathie und Neigung zum Sadismus diesen Menschen nicht die Freiheit nehmen, aus der die Verantwortung für diese Taten geboren wird, ausgelöst einzig durch einen ruhigen Blick auf sie. Darin verbirgt sich aber auch der Grund, weswegen man sie nicht als Reaktion foltern darf. Nicht die moralische Seite, nicht die Verantwortung vor Gott oder dem Gesetz – sondern vor allem dieser Blick, der sofort verschwinden wird, muss uns davon abhalten.
Stanislav Aseyev widmet jedes Kapitel seines Buches einem bestimmten Thema: Wie sich Angst anfühlt, wie die Zeit in Gefangenschaft vergeht, wie ihn Hunger und Folter verändert haben. Er schreibt auch über die Zeit nach seiner Freilassung und wie schwierig es für ihn war, in ein normales Leben zurückzufinden. Eindrücklich und mit analytischer Ruhe beschreibt er diese erschütternden Ereignisse. Das Buch ist ein Zeitzeugnis. Und ein philosophisches Werk über Menschlichkeit und Grausamkeit. „Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019“ ist 2021 im Ibidem Verlag erschienen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger