Mehr Geld, weniger Papierkram, netterer Umgang: Das neue Bürgergeld sollte alles besser machen als Hartz IV. Arbeitsminister Hubertus Heil nannte es sogar „die größte Sozialreform seit 20 Jahren.“ Offiziell trat das Bürgergeld zwar schon im Januar in Kraft, viele Änderungen gelten aber erst seit wenigen Monaten.
Wie groß ist diese Reform wirklich? Oder handelt es sich bloß um große Versprechen? Wer das herausfinden will, muss sich mit Wortungetümen wie „Eingliederungsvereinbarung“ herumschlagen, es geht um Coachings und Sanktionen. Ich habe recherchiert, was sich im Bürgergeld tatsächlich verbessert hat – und warum diese Änderungen gerade auf der Kippe stehen.
Arbeitssuchende müssen nicht mehr jeden beliebigen Job annehmen
Ein Meilenstein ist die Aufhebung des Vermittlungsvorrangs. Klingt sperrig und kompliziert, ist aber ganz einfach. Bisher sollten die Beziehenden möglichst schnell eine Arbeit finden. Ob sich die Person in dem vermittelten Job wohlfühlte oder ob er zur Qualifikation passte, war zweitrangig – obwohl das wichtig ist, damit die Menschen den neuen Job nicht direkt wieder hinschmeißen. So konnte im Extremfall eine arbeitslose Violinistin an der Supermarktkasse enden. Im Bürgergeld soll so etwas nicht mehr passieren. „Dadurch ist eine nachhaltige Vermittlung möglich“, sagt Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Im Bürgergeld ist es wichtiger, sich weiterzubilden, als direkt eine neue Arbeit zu finden. Das zeigt der von der Ampel geschaffene Slogan „Ausbildung vor Aushilfsjob“. Gemeint ist neben Schulungen und Kursen, dass die Arbeitssuchenden einen Berufsabschluss nachholen. Das war bisher zeitlich auf zwei Jahre begrenzt, im Bürgergeld wurde die Dauer auf drei Jahre ausgeweitet.
Das ist auch notwendig, denn rund zwei von drei Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Und wer eine Ausbildung abgeschlossen hat, verdient mehr Geld. „Manchen Menschen ist nicht bewusst, dass eine Ausbildung etwas Gutes ist. Sie haben wenig Vertrauen darauf, dass sich Bildung lohnt“, sagt Walwei. Oftmals fehlten innerhalb der Familie und des Freundeskreises die Vorbilder, die zeigen, dass es sich finanziell lohnt, Fachkraft zu sein.
Dafür gibt die Bundesregierung Geld aus: Wer eine Weiterbildung macht, bekommt monatlich 150 Euro und bei erfolgreichem Abschluss eine Prämie. Das gilt auch für andere Schulungen und Kurse, die nicht unbedingt zu einer Anstellung führen, wie etwa ein Sprachkurs oder ein Workshop, in dem die Grundrechenarten wiederholt werden. Dafür gibt es den sogenannten Bürgergeldbonus – eine monatliche Zahlung in Höhe von 75 Euro.
Auch der Umgang mit Personen, die Bürgergeld beziehen, hat sich geändert. „Die Gespräche zwischen Jobcentern und Bürgergeldbeziehenden sollen mehr auf Augenhöhe und mit Respekt stattfinden“, sagt Walwei. Bisher wurde bei jedem Schreiben gedroht, die Bezüge zu kürzen, wenn die betroffene Person nicht pünktlich zu einem Termin mit dem Jobcenter erscheint oder ein Jobangebot ablehnt. Jetzt herrscht ein freundlicherer Ton.
Wer Bürgergeld bezieht, bekommt ein Coaching
Früher hieß es Eingliederungsvereinbarung, heute heißt es Kooperationsplan. Dieser Plan ist wie ein roter Faden für die Zeit, in der Jobcenter und Bürgergeldbeziehende zusammenarbeiten. Darin wird festgehalten, welche Maßnahmen oder Weiterbildungen die Betroffenen machen möchten. Ziel des Kooperationsplans ist es, dass die Menschen wieder Arbeit finden. Aber betreibt die Ampel-Regierung hier nicht Schönfärberei? Nach dem Motto „Neuer Name, gleicher Inhalt“?
Christian Ludwig von der Bundesagentur für Arbeit meint dazu: „Das ist eine bessere Möglichkeit, mit den Menschen gemeinsam zu planen. Da können beide Seiten, besonders aber die Bürgergeldbeziehenden aktiv mitwirken.“ Die im Kooperationsplan festgehaltenen Ziele sind nicht rechtlich bindend. Es droht also keine Leistungsminderung, falls sie nicht eingehalten werden. Das sei besser für die Zusammenarbeit und das Klima in den Gesprächen, so Ludwig.
Das wird auch beim Thema Coaching deutlich. Das klingt auf den ersten Blick nach überteuerten Coaches auf Instagram. Doch beim Bürgergeld-Coaching handelt es sich nicht um Abzocke. Im Gegenteil: Das Coaching bekommt eine zentrale Rolle, bei dem an den Stärken und Schwächen der Beziehenden gearbeitet wird. Die Betreuung geht über die finanziellen Sorgen hinaus, es werden auch persönliche Probleme in den Blick genommen. „Das Coaching hat großes Potential, weil viel stärker auf das Individuum und dessen Bedürfnisse eingegangen werden kann“, sagt Walwei. Besonders, da das Coaching im Bürgergeld zum Standard gehört und keine seltene Ausnahme ist wie bei Hartz IV.
Die Bürokratie ist teilweise weniger geworden
Weniger Bürokratie – das war eines der zentralen Versprechen des Bürgergeldes. Doch es ist schwer zu beurteilen, ob das wirklich gelungen ist. Viele Änderungen gelten erst seit Juli dieses Jahres und die Ämter sind noch mit der Umstellung auf das neue System beschäftigt. Was die Digitalisierung angeht, hat Corona längst überfällige Schritte eingeleitet. Telefonanrufe und Videocalls gehören mittlerweile zum Alltag. Außerdem gibt es Online-Plattformen, wo Dokumente hochgeladen werden können. Das spart zumindest manche Gänge zum Amt.
Eine große Entlastung ist die Bagatellgrenze für Rückforderungen. Das ist zum Beispiel wichtig, wenn jemand Aufstocker ist, also arbeiten geht, aber zusätzlich Sozialleistungen bezieht, weil das Geld sonst nicht reicht. Bisher war es so: Wenn eine Person in einem Monat mehr Lohn erhielt, reduzierte sich die Höhe der Sozialleistung und das Amt forderte das zu viel gezahlte Geld zurück. Das war ziemlich viel Aufwand, obwohl es oft nur um kleine Beträge ging. Im Bürgergeld liegt die Bagatellgrenze bei 50 Euro. Das Amt wird erst aktiv, wenn der Betrag, den es zurückhaben will, über dieser Grenze liegt. „Das ist eine große Entlastung für uns und wir sparen viel Verwaltungsaufwand“, erklärt Ludwig.
Außerdem gilt im ersten Jahr eine sogenannte Karenzzeit fürs Wohnen und für das Vermögen. Das bedeutet, dass in dieser Zeit die Kosten für die Wohnung übernommen werden, ohne Überprüfung, ob zum Beispiel die Miete angemessen ist. Dadurch sollen sich Betroffene besser auf die Jobsuche konzentrieren können, anstatt auf Wohnungssuche zu gehen.
An den Sanktionen hat sich kaum was geändert
Damit kommen wir zu Friedrich Merz und wie die Union es geschafft hat, viele progressive Änderungen des Bürgergeldes auszumerzen. Denn während der Bundestag dem ersten Gesetzesentwurf zugestimmt hatte, gab es im Bundesrat keine Mehrheit dafür. Im Bundesrat sind die Landesregierungen der Bundesländer vertreten. Und dort lehnten allen voran die unionsgeführten Länder den Bürgergeldentwurf ab. Es folgten viele Gespräche, in denen die Ampel-Regierung auf die Union zugegangen ist.
Von diesen Kompromissen waren auch die umstrittenen Sanktionen betroffen. Die Ampel-Regierung hatte zunächst geplant, im ersten halben Jahr fast gar nicht zu sanktionieren. Jetzt können doch bis zu 30 Prozent des Bürgergeldes einbehalten werden. Anders ausgedrückt: Im schlimmsten Fall muss eine arbeitslose Person mit 351 Euro im Monat auskommen.
Die Union feiert das als Festhalten am Grundsatz „Fördern und Fordern“. Dabei ist umstritten, ob Sanktionen wirklich wirken. Diese Studie zum Beispiel zeigt, dass Sanktionen nicht dazu führen, dass Menschen schneller Arbeit finden. Stattdessen fördern sie soziale Isolation und erhöhen den ohnehin schon vorhandenen psychischen Druck weiter. „Die abgemilderten Sanktionen sind ein ganz vernünftiger Weg und eine Verbesserung“, sagt Walwei. Grundsätzlich mache es aber wenig Sinn, ins Existenzminimum einzugreifen. „Ziel muss es sein, die Leute nachhaltig in eine Arbeit zu vermitteln. Mit Sanktionen allein kommen wir hier nicht weiter“, sagt Walwei.
Bald könnte es kein Geld mehr geben
Doch die Finanzierung dieser Maßnahmen steht auf der Kippe. Denn im kommenden Haushalt sind Kürzungen für den Bereich geplant. „Das macht uns Sorgen. Es wäre schlimm, wenn wir Angebote nicht machen können, die wichtig und richtig für die Menschen sind, weil kein Geld dafür da ist“, meint Ludwig. Ohne die benötigten Mittel bringen auch alle guten Vorsätze und Ideen des Bürgergeldes nichts.
Ähnlich sieht es mit der Erhöhung des Regelsatzes, der gestiegenen Freibeträge und neuen Zuverdienstregelungen aus: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Oder anders: SPD und Grüne sind willig, aber FDP und Union dagegen. Denn anstatt die Änderungen so anzupassen, dass bei den Beziehenden tatsächlich viel ankommt, werden finanziell kosmetische Anpassungen vorgenommen. Zwar gibt es 50 Euro mehr im Monat, aber das gleicht aktuell nicht einmal die Inflation aus.
Handelt es sich also um die „größte Sozialreform seit 20 Jahren“, wie Arbeitsminister Heil sagte? Walwei formuliert das vorsichtiger und spricht von einer „etwas größeren Sozialreform“. Wie viel die Bürgergeldbeziehenden davon tatsächlich profitieren, hängt davon ab, ob sich die SPD gegenüber der FDP und Finanzminister Christian Lindner durchsetzen kann. „Das Finanzministerium ist für den Bundeshaushalt verantwortlich und wir setzen auf das parlamentarische Verfahren im Herbst“, sagt Ludwig. Dann wird der Vorschlag des Finanzministers nämlich im Bundestag diskutiert und die Abgeordneten können Änderungen vorschlagen. Am Ende entscheidet die Mehrheit im Bundestag und Bundesrat darüber, welcher Haushaltsentwurf verabschiedet wird. So groß die Worte auch waren, mit denen die Regierung das Bürgergeld angekündigt hat, so still und leise könnten die Verbesserungen wieder verschwinden.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert