Ein junger Mann hält ein Schild vor dem Kanlzeramt. Darauf steht: „Open humanitarian corridor, save people“-

Lukas Stratmann

Politik und Macht

Interview: „Ich werde nicht weglaufen und sagen, dass ich Pazifist bin“

Der staatenlose Aktivist Arshak Makichyan stellt sich gegen Diktaturen, die Klimakrise und Kriege, oftmals allein. Ein Gespräch über Erschöpfung und das Ende friedlichen Prostests.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Erst kämpfte er gegen die Klimakatastrophe, dann gegen Krieg: Arshak Makichyan, 29, ist einer der bekanntesten Aktivist:innen des russischsprachigen Raums. Als er ein Jahr alt war, floh seine Familie mit ihm aus Armenien nach Russland. Dort studierte Arshak Geige am Moskauer Konservatorium. Bekannt wurde er 2019 als „Moskaus einsamer Klimademonstrant“. Monatelang demonstrierte er alleine, nur mit einem Pappschild in der Hand. Ähnlich wie Greta Thunberg, mit der er später gemeinsam auftrat.

Als Russland die Ukraine angriff, demonstrierte Arshak gegen den Krieg. Auch, als das immer gefährlicher wurde. Schließlich floh er nach Berlin, wo ihn die schockierende Nachricht erreichte: Russische Behörden entzogen ihm und seiner Familie die russische Staatsbürgerschaft. Offiziell wegen eines Formfehlers, wahrscheinlicher ist aber, dass sie Arshak für seinen Antikriegsaktivismus bestrafen wollten. Jetzt ist Arshak staatenlos und kann Deutschland nicht verlassen.

Seit Monaten versucht er, auf die Situation in Bergkarabach aufmerksam zu machen. Ende September griff Aserbaidschan an und brachte Bergkarabach unter seine Kontrolle. Die Hintergründe habe ich in diesem Artikel erklärt. Ich habe nun Arshak getroffen und ihn gefragt, was als Nächstes passieren könnte. Er erklärt, wieso er Zeichen eines Genozids sieht, was Deutschland jetzt tun kann und was wirkungsvoller Aktivismus mit Geige-Spielen gemeinsam hat.


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Aserbaidschan hat gesiegt und die de facto unabhängige Republik Bergkarabach hat sich offiziell aufgelöst. Fast alle Armenier:innen sind aus Bergkarabach geflohen. Es scheint alles entschieden zu sein. Wofür kämpfst du noch?

Es war die richtige Entscheidung, dass die Menschen nach Armenien geflohen sind, denn Menschenleben sind das Wichtigste. Aber die Vertreibung dieser Menschen ist eine Tragödie. Und die Probleme sind damit nicht vorbei. Mehr als 100.000 Menschen haben alles verloren und Armenien ist ein armes Land. Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, diesen Menschen zu helfen.

Was passiert mit den Häusern und Besitztümern, die die Menschen in Bergkarabach zurückgelassen haben?

Alles wird zerstört werden. Ich weiß das, denn im 20. Jahrhundert sind meine Groß- und Urgroßeltern aus Nachitschewan geflohen, einer Region, die Josef Stalin der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschlagen hat. Jetzt lebt dort kein einziger Armenier mehr und das kulturelle Erbe wurde zerstört. In Arzach gibt es viele wichtige Dinge für die armenische Kultur, zum Beispiel alte Kirchen. Ich will dafür kämpfen, dass das nicht verloren geht.

Du sprichst von Arzach, nicht Bergkarabach.

Arzach ist der armenische Name für die Region. Anfang der 1990er Jahre erklärte sich die Bevölkerung in einem Referendum für unabhängig, auch wenn die internationale Gemeinschaft das nicht anerkannt hatte. 2017 gab sich die de facto unabhängige Republik den Namen Arzach.

Als du ein Jahr alt warst, flohen deine Eltern mit dir aus Armenien nach Russland. Jetzt bist du in Deutschland und kannst vorerst weder nach Armenien noch nach Russland. Wie hat das dein Leben beeinflusst?

Ich bin daran gewöhnt. Ich habe mich nie irgendwo zu Hause gefühlt. Das passiert Armeniern die ganze Zeit. Meine Groß- und Urgroßeltern wurden aus Nachitschewan vertrieben, meine Eltern zogen von Armenien nach Russland. Dann wurde ihnen meinetwegen die Staatsbürgerschaft entzogen. Ein Teil meiner Familie lebt jetzt wieder in Armenien, ein Teil noch in Russland. Es ist ein schreckliches Gefühl, dass meine Familie wegen meines Aktivismus leidet. Wenn in deiner Familie und von deinen Vorfahren alle schon einmal deportiert wurden, hast du die Einstellung, dass du nie ein stabiles Leben aufbauen kannst.

Ein Dreivierteljahr blockierte Aserbaidschan die einzige Zufahrtsstraße nach Bergkarabach. Es fehlte an Essen und Medikamenten. Jetzt sind kaum noch Armenier:innen in Bergkarabach zurückgeblieben. Du warnst deshalb vor einer „Fortsetzung des Genozids“. Was meinst du damit?

1915 gab es einen Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich. Aber das beschränkte sich nicht nur auf dieses Jahr. Es gab danach immer wieder Pogrome an Armeniern, zum Beispiel 1990 in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Die Blockade, die wir in den vergangenen Monaten gesehen haben, war eine andere Art von Genozid. Zwar hat Aserbaidschan niemanden direkt umgebracht, aber den Hunger als Waffe benutzt. Ein ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat in einem Bericht geschrieben, dass es sich um einen Genozid handelt. Und das Lemkin Institut, eine Organisation für Genozidprävention, hat ebenfalls erklärt, dass es Anzeichen eines Genozids sieht.

Die Menschen von Bergkarabach konnten größtenteils fliehen.

Das heißt nicht, dass alles in Ordnung ist. Es geht um das Recht von 100.000 Menschen, auf einem Territorium zu leben, wo ihre Vorfahren seit Tausenden Jahren leben. Sie haben praktisch alles verloren, außer ihr Leben. Im Osmanischen Reich gab es armenische Städte, in denen Armenier Tausende Jahre gelebt haben. Jetzt gibt es dort keine Armenier mehr, genauso wie in Arzach. Die Geschichte wiederholt sich. Und es ist noch nicht vorbei, denn Aserbaidschan bereitet mit der Türkei einen neuen Krieg vor.

Möglicherweise greift Aserbaidschan bald Armenien an, wegen des sogenannten Sangesur-Korridors. Aserbaidschan will eine Verbindungsstraße durch armenisches Gebiet.

Dort leben meine Verwandten. Aserbaidschan könnte diese Gebiete besetzen und irgendwann sogar die armenische Hauptstadt Jerewan erreichen. Es ist wie mit Putin: Erst hat er Luhansk, Donezk und die Krim besetzt, dann ist er mit Fallschirmjägern in Kyjiw gelandet und wollte die gesamte Ukraine einnehmen. Alles, was passiert, kann schreckliche Konsequenzen in der Zukunft haben – so wie der armenische Völkermord Hitler inspiriert hat.

Du hast auf Instagram geschrieben: „Ich glaube nicht an Pazifismus.“ Was meinst du damit?

Wenn Europa der Ukraine nicht mit Waffen helfen würde, dann hätte sich Russland bereits die ganze Ukraine einverleibt. Und der Diktator hätte gewonnen. Man muss kämpfen, um die Menschen zu schützen, auch vor Völkermord. Wenn ich als armenischer Bürger in die Armee einberufen werde – was der Fall sein könnte –, werde ich nicht davor weglaufen und sagen, dass ich Pazifist sei. Das wäre falsch. Die Ukrainer waren auch Pazifisten, bis sie angegriffen wurden und Verbrechen wie in Butscha passiert sind. Aserbaidschaner haben Armenier enthauptet und Videos davon ins Internet gestellt. Wir Armenier können das nicht vergessen.

Für viele Deutsche ist Bergkarabach weit weg. Es ist ein weiterer Konflikt, eine Katastrophenmeldung mehr. Viele sind der schrecklichen Nachrichten müde.

Es ist wichtig, gegen Diktatoren zu kämpfen, nicht nur um seiner selbst willen, sondern um der Welt zu beweisen, dass die Demokratie stärker ist als die Diktatur und dass manche Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Ich setze mich nicht deshalb für Armenien ein, weil ich Armenier bin. Ich verstehe den Konflikt nur besser, weil ich Armenier bin.

Für mich geht es um einen grundlegenden Kampf für Menschenrechte, für internationales Recht. Deshalb protestiere ich auch gegen den Krieg in der Ukraine. Wenn wir unsere Ideale nicht einhalten, wird die Welt auseinanderfallen. Wir sehen schon jetzt Anzeichen dafür. Und die Klimakrise wird all das noch schlimmer machen.

Du setzt dich immer für Themen ein, auf die es sehr schwer ist, Einfluss zu nehmen. Der Klimawandel, der russische Krieg gegen die Ukraine, die Situation der Armener:innen. Bist du nicht erschöpft davon?

Es geht hier nicht um Erschöpfung. Früher habe ich Geige gespielt, das ist dem Aktivismus sehr ähnlich. Du übst ständig, stundenlang, und am Ende kommst du in den Unterricht und dir wird gesagt, dass es noch besser geht. Wenn man für eine bessere Welt kämpft, muss man sich auf einen sehr langwierigen Kampf einstellen.

Diese Themen sind sehr unterschiedlich.

Nein, sie sind sich sehr ähnlich. Es gibt ein Muster bei dem, was in der Ukraine und in Arzach passiert. In beiden Fällen geht es um Diktaturen, Russland und Aserbaidschan, die an der Macht bleiben wollen. Der russische Krieg wird mit europäischem Geld finanziert, das an Putins Regime gezahlt wurde. Das Gleiche passierte in Arzach: Aserbaidschan konnte sich Waffen kaufen, weil es Gas an Europa verkauft.

Es ist wichtig, die Menschen darüber zu informieren, damit sie sich nicht vor ihrer Verantwortung drücken und nach einfachen Lösungen suchen. Einfache Lösungen führen zu Faschismus. Und der ist auch in Europa möglich, darüber muss sich die Bevölkerung im Klaren sein. Alles kann zusammenbrechen. Arzach war mal ein Land, jetzt ist es weg.

Das klingt sehr pessimistisch.

Wir müssen immer auf etwas Schlimmes vorbereitet sein. Die Erfahrung als Klimaaktivist hat mir geholfen, gegen den russischen Faschismus zu kämpfen. Die Klimakrise ist ein internationales Thema. Ich hatte also Kontakte in verschiedene Länder, internationale Medien kannten mich. Die Bekanntheit hat mich beschützt und ich wurde im Gegensatz zu anderen Aktivisten nicht für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt oder gefoltert. Und ich hatte eine Plattform, um erst gegen den Krieg zu protestieren, dann um auf die Ereignisse in Arzach hinzuweisen. Aber ich habe nicht wirklich etwas bewirkt. Um wirklich etwas zu verändern, hätte ich wahrscheinlich besser und mehr arbeiten müssen.

Was erwartest du von der deutschen Politik?

Verbrecher müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb finde ich es wichtig, Sanktionen gegen aserbaidschanische Politiker zu verhängen, die für Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen verantwortlich sind.

Und was ist mit dem Gas?

Europa sollte seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und Diktaturen verringern. Europa wiederholt die Fehler, die es mit Russland begangen hat, wenn es Gas aus Aserbaidschan kauft. Man füttert damit einen Diktator.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Ich werde nicht weglaufen und sagen, dass ich Pazifist bin“

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