Ein lächelnder Teddybär sitzt in einem brennenden Kinderzimmer.

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Psyche und Gesundheit

Interview: „Es gibt kein inneres Kind“

Die Arbeit mit dem „inneren Kind“ verspricht Heilung bei allen psychischen Problemen. Der Psychiater Eckhard Roediger sagt: Das ist Unsinn.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Herr Roediger, die Arbeit mit dem „inneren Kind“ ist in der spirituellen Coaching-Szene auf Instagram der neue Goldstandard geworden. Sie soll beim Umgang mit traumatischen Erlebnissen, Ängsten oder Beziehungsproblemen helfen. Sie sind Psychiater und arbeiten jeden Tag mit psychisch kranken Menschen. Was halten Sie von der Idee?

Das „innere Kind“ ist ein küchenpsychologischer Ansatz, der Leuten das Gefühl gibt: Ich verstehe jetzt etwas sehr Komplexes und kann damit umgehen. Deshalb ist das so beliebt. Ich sehe diese Methode kritisch.

Warum das?

Wir Menschen erschaffen Symbole wie das „innere Kind“, weil wir uns gut fühlen, wenn wir die Dinge zuordnen können.

Aber darum geht es doch auch: Dinge zuordnen können.

Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Warum gibt es im Islam ein Verbot, Bilder von Gott zu machen?

Müsste ich raten.

Wenn Sie ein Bild von Gott malen, dann steht dieses Bild im Raum. Und das Problem ist: Dieses Bild bekommen Sie nie wieder aus Ihrem Kopf. Das ist der Effekt von Symbolen. Sie brennen sich stark in unserem Gehirn ein.

Für uns im Westen ist der liebe Gott ein Mann mit Bart und langen, weißen Haaren. Glatze oder Punkerfrisur? Geht nicht, weil uns ein anderes Bild eingeprägt wurde. Im Indischen gibt es weibliche Göttinnen, aber bei uns sind es immer Männer. Wir fühlen dann, dass das richtig ist.

Deshalb das Verbot im Islam?

Gott ist etwas sehr Diffuses. Wenn man das in ein Bild packt, ist es kaum noch anpassungsfähig. Und das ist das Problem. Diese Fixierung, dieses Festlegen auf innere Strukturen, die wir dann für die Realität halten.

Was hat das mit dem „inneren Kind“ zu tun?

Ein Beispiel. Sie setzen ihre Patientin, wir nennen sie Susanne, auf einen Stuhl, lassen sie in ihrer Fantasie zurücktreiben in ihre Kindheit. Sie fühlt wieder, was sie mit acht Jahren gefühlt hat.

Dann befindet sie sich in einem Modus dieses Erlebens. Dieses Fühlen, Denken, Erinnern ihrer Vergangenheit findet im Gehirn in bestimmten Netzwerken aus aktivierten Nervenzellen statt. Aber wenn sie etwas anderes tut, etwa ein Kreuzworträtsel löst, sind diese Nervenzellen deaktiviert – dafür aber andere aktiv. Und damit ist dieses Erleben und Erinnern ihrer Kindheit weg.

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Klingt sinnvoll.

Wenn sie in der Therapiearbeit mit dieser Patientin in Anwendung dieser Technik von der „inneren kleinen Susanne“ sprechen, und das nicht nur vorübergehend, sondern immer wieder, wird das ein Problem. Sie malen vielleicht noch ein Bildchen dazu. Mit rosa Kleid und einer Schleife in den Haaren.

Dann trägt diese Patientin dieses Bild fest mit sich. Und denkt vielleicht, sie müsse sich jetzt um diese kleine Susanne kümmern. Diese kleine Susanne gibt es jedoch nicht. Sie wartet nicht in der Ecke, traurig, dass sie abends wie ein Hund gefüttert und endlich versorgt wird. Das ist aus einer wissenschaftlichen Perspektive betrachtet Unsinn, auch wenn es sich stimmig anfühlen mag.

Niemand muss sich also um das innere Kind kümmern.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass genau das propagiert wird. Hast du heute schon mit deinem inneren Kind gesprochen? Nein? Dann bist du keine gute Mutter.

Das „innere Kind“ ist also ein Märchen?

Es gibt kein „inneres Kind“. Es wurde in den Diskurs eingeführt, als ob es ein inneres Kind als stabile Unterperson gäbe. Das ist allerdings falsch.

Dann arbeiten also alle Coaches, die das anbieten, mit einem Phantom?

Korrekt. Der Vorteil von dieser Arbeit ist lediglich die vereinfachte Symbolik. Genauso wie das Bild von Gott oder „der Russe isst Pellkartoffeln und Quark“.

Wie bitte?

Das ist eine Vereinfachung, die unserem Bewusstsein ermöglicht, ein Gefühl von sortierter Welt zu haben. Diese Vorurteile schaffen ein Gefühl von Pseudosicherheit. Ich stelle ihnen noch eine Gegenfrage: Was ist ein Horoskop?

Ein Geschäftsmodell, mit dem man Menschen Geld aus der Tasche zieht?

Auch. Allerdings geht es eher darum: Ah, du bist ein Löwe. Das passt gut zur Waage. Menschen glauben daran, weil sie damit die Welt sortieren können. Auch, wenn sie das anhand von ausgedachten Kategorien tun.

Was ist mit traumatischen Erlebnissen? Immer wieder lese ich auf Instagram, dass Menschen die Arbeit mit dem „inneren Kind“ geholfen habe.

Schwierig. Wenn sie sagen: „In ihnen lebt eine kleine traumatisierte Susanne, die mit acht Jahren allein gelassen wurde“, trägt die erwachsene Patientin diese „verlassene Susanne“ dauernd in ihrem Bewusstsein mit.

Das, was mit acht Jahren passiert ist, können Sie nicht mehr ändern. Die Therapie besteht darin, Susanne klarzumachen: Dein Partner hat dich verlassen, du fühlst dich hilflos. Du denkst, die Welt geht unter. Das fühlst du, weil du mit acht Jahren auch verlassen wurdest – und damals tatsächlich nichts tun konntest. Für dich wäre damals die Welt tatsächlich zu Ende gewesen.

Und was ist die Lösung?

Du musst dieses Gefühl zwar annehmen, aber richtig einordnen. Du musst nur erkennen, dass deine jetzige Traurigkeit von damals kommt, weil du in ein altes Netzwerk rutschst. Du siehst sozusagen in einer Zeitung von 1956 nach, wer damals gut in der Fußballmannschaft war. Das hilft dir nur heute kaum weiter. Das ist nicht hilfreich, um mit der heutigen Situation gut umzugehen.

Sie sagen, bestimmte Gefühle seien nicht hilfreich?

Da schiebt sich eine Vergangenheit in die Gegenwart. Und das kann nicht funktionieren. Was die Patienten lernen können, ist: „Was du jetzt fühlst, sind eingefrorene Tiefkühlerbsen. Sie sehen zwar neu aus, aber die sind steinalt. Öffne dich für den Gegenwartsmoment. Was kannst du jetzt als erwachsene Person machen, um mit der aktuellen Verlassenheitssituation klarzukommen?“

Damit verdrängen sie die Vergangenheit, oder?

Nein. Das alte Erleben muss man nur einordnen – aber man muss sich nicht darum kümmern. Ablegen, es hinter sich lassen, und den Blick nach vorn wenden. Dann werden Leute frei für die Gegenwart. Das ist der therapeutische Ansatz. Ich weiß, das ist hart formuliert, aber letztlich geht es in der Therapie genau darum, wirklich in die Gegenwart zu kommen.

Moment mal. Der Punkt der Arbeit mit dem inneren Kind ist doch, dass man sich ein Mal um die schreckliche Situation in der Vergangenheit kümmert, damit sie nicht ständig alte Gefühle hervorruft.

Das machen wir ähnlich auch in der Schematherapie. Aber nur, wenn die Auflösung der Situation in der Vergangenheit dazu dient, dem Menschen zu zeigen: Jetzt bist du nicht allein. In der Gegenwart gibt es Menschen – wie mich zum Beispiel – oder auch andere in deinem Umfeld, die dir helfen können, dich jetzt besser zu fühlen.

Man behandelt nicht das Kind von damals.

Was da im Coaching-Bereich betrieben wird, ist eine Light-Version eines Arbeitsansatzes, den es auch in der Psychotherapie gibt – aber der auch zu Recht von manchen Kollegen kritisch gesehen wird.

Ich nehme an, weil diese Arbeit Risiken birgt?

Das möchte ich ihnen an einem Beispiel erklären. Ich hatte eine traumatisierte Patientin – und in der Therapie ging es darum, Selbsttröstung zu üben. Ich gab ihr einen großen Teddy. Sie sollte versuchen, für ihn da zu sein und ihn zu beruhigen. Nach der Übung nahm sie ihn mit nach Hause. Eine Woche später kam sie völlig übermüdet zur Therapie. Sie sagte: „Ich habe den Teddy total gut versorgt! Der hat immer im Bett geschlafen und ich auf der Couch.“

Sie hat den Teddy zu einer realen Person gemacht.

Das ist die Folge, wenn man die Symbolisierung zu ernst nimmt. Wenn man zum Beispiel denkt, „da ist wirklich ein inneres Kind, mit dem ich reden muss.“ Dann wird es schräg. Das ist einfach unwissenschaftlich.

Schräg kann auch schlimm sein. Eine Betroffene erzählte mir, dass sie mit einem Arbeitsbuch einer Coachin eine Reise in ihre Kindheit machte, wo sie schöne Erlebnisse neu durchleben sollte. Allerdings hatte sie keine und fühlte sich mit den schlimmen Erinnerungen völlig überfordert. Für sie war das kaum auszuhalten, sie wurde suizidal.

Es gibt nicht umsonst den Beruf des Psychotherapeuten. Man wird über Jahre geschult, diese emotionalen Prozesse einigermaßen sicher zu führen. Alle Berufsausbildungen haben den Hintergrund, dass es da was zu lernen gibt – und das sollte man auch tun, sonst wird es gefährlich. Auch im Bereich der Psyche. Da unprofessionell ranzugehen, ist riskant. Das ist wie, wenn Sie ein Buch lesen: „Wie bohre ich einen Zahn“ – und dann versuchen Sie, selbst in Ihrem Zahn zu bohren.

Psychotherapeut:innen wissen genau, welches Besteck sie nutzen sollten?

Der entscheidende Umgang mit diesen Zeitreisen, mit dieser Aktivierung des Kindheitserlebens ist, dass man die Techniken haben muss, diese Menschen klar und entschlossen wieder in die Gegenwart zu führen und zu sagen: „Was wir da gesehen haben, gibt es in der Form nur noch in deinem Kopf. Das hat keine reale Bedeutung mehr.“

Stefanie Stahl, die Autorin des Buches, das in Deutschland die Arbeit mit dem „inneren Kind“ maßgeblich popularisierte, sieht das anders. Sie schreibt: „Wenn wir von diesen Kindheitsprägungen sprechen, die neben unseren Erbanlagen sehr stark unser Wesen und unser Selbstwertgefühl bestimmen, dann sprechen wir von einem Persönlichkeitsanteil, der in der Psychologie als das innere Kind bezeichnet wird.“

Das ist falsch.

Inwiefern?

Es gibt keinen wirklichen Persönlichkeitsanteil, weil es im Gehirn des Menschen keine Teile einer Persönlichkeit gibt, sondern nur vorübergehende Erlebenszustände.

Können sie das erklären?

Stellen wir uns vor, dass sie Angst davor haben, dass ihr Redakteur ihre Texte nicht gut findet. Sie hören seine Stimme, wie er sagt: „Das ist kaum lesbar! Unerträglich! Du bist kein guter Journalist!“ Dieser Vorgang ist ein Erlebenszustand, in dem bestimmte Netzwerke in ihrem Gehirn aktiviert werden.

Wenn sie dann zu mir in die Therapie kommen, könnte ich sagen: „In Ordnung, Herr Gommel, dann setzen wir diese Stimme mal auf einen Stuhl und hören genau zu, was sie sagt. Und sie sprechen diese Gedanken alle aus.“ Dann hätten wir einen sogenannten inneren Kritiker kreiert. Für diesen Moment wäre das ein Teil, mit dem wir sprechen.

Aber?

Allerdings handelt es sich hier nicht um einen festen, stabilen Teil, sondern einen, den wir gemeinsam erfunden haben. Denn sobald wir das Thema wechseln, verschwindet dieser innere Kritiker, weil die dazugehörigen Netzwerke nicht mehr aktiviert sind. Deshalb sage ich: Wissenschaftlich gesehen gibt es keine Persönlichkeitsanteile.

Stefanie Stahl schreibt auch: „Und zugleich strebt es (das innere Kind) immer noch danach, seine Wünsche nach Sicherheit und Anerkennung erfüllt zu bekommen, die in seiner Kindheit zu kurz gekommen sind.“

Es gibt kein Kind, das im Inneren strebt. Der Mensch, das psychische Bewusstsein als Ganzes, versucht seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn Sie im Alter von fünf Jahren eine depressive Mutter hatten, bekamen Sie möglicherweise ein Verlassenheitsschema. Das ist ein wunder Punkt, besser gesagt, eine Narbe, die Ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurde.

In diesem Fall bewirkt es, dass Sie hoch sensibilisiert sind für Momente, in denen sie wieder verlassen werden könnten. Beispielsweise, wenn ihre Freundin sich ein paar Stunden nicht meldet. Dann wird diese Wunde, dieses Schema, aktiviert, und Sie denken: „Oje, hier stimmt etwas nicht, das ist der Anfang vom Ende! Sie wird mich verlassen!“

Als Kind versuchen Sie, dass es Ihrer Mutter so gut wie möglich geht. So bekommen Sie selbst wenigstens etwas Aufmerksamkeit von ihr. Später landen Sie im Beruf der Krankenschwester, des Sozialarbeiters, des Psychotherapeuten. Einige, die in diesen Jobs arbeiten, haben es zu ihrer beruflichen Rolle gemacht, andere glücklich zu machen, damit es ihnen letztlich selbst besser geht. Das ist ein unterordnender, aufopfernder Bewältigungsmodus. Aber das macht nicht das innere Kind, sondern das ist die Antwort des gesamten psychischen Apparates, also von Ihnen als Person insgesamt.

Ich fühle mich ein wenig ertappt, denn ich bin ausgebildeter Erzieher und habe vor zwei Jahren den Job geschmissen, weil ich nicht mehr konnte.

Genau. Viele Leute in sozialen Berufen sagen in der Therapie: „Wenn ich mich nicht um die anderen kümmere, dann geht es mir schlecht“. Ein guter Therapeut sagt dann: „Das ist dein alter Bewältigungsmodus. Heute darfst du auch sagen: Nein, ich bin ermüdet, ich kann nicht mehr, das muss jemand anderes machen.“

Ein Satz, den ich von anderen Erzieher:innen nie gehört habe!

Schade. Denn damit balancieren wir den Menschen aus, weil er jetzt mehr Autonomie und eine gesunde Selbstfürsorge entwickeln kann. Weil er sich abgrenzt von den Erwartungen anderer. Aber da ist kein Kind, das handelt, es ist immer der erwachsene Mensch, der versucht, klarzukommen.

Ich habe im Internet Kinderlieder und Spielzeug für das innere Kind gefunden.

Das ist eine Marketingstrategie.

Ich fand sogar Spielzeuge aus den 1980ern, damit man sein eigenes Kind, wenn man in dieser Zeit aufgewachsen ist, heilen kann.

Es geht doch nicht darum, das Kind aus den 80er-Jahren zu versorgen, sondern die Bedürfnisse heute zu befriedigen. Da entsteht ein Vergangenheitsbezug, der die Menschen unter Umständen sogar daran hindert, heute für sich die besten Lebensbedingungen zu schaffen. Und das wäre doch schade, oder?


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Es gibt kein inneres Kind“

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