„30 Jahre lang habe ich mir ein Zuhause aufgebaut und alles, was ich bei mir habe, ist in dieser Tasche. Mein Zuhause ist in dieser Tasche“, sagte Gayane Shagants dem Guardian. Sie ist eine von Zehntausenden Menschen, die gerade aus Bergkarabach geflohen sind und vielleicht nie in ihre Heimat zurückkehren können. Dieser Exodus ist der vorläufige Höhepunkt, aber nicht das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach.
Man könnte denken, der Konflikt habe sich erledigt, nachdem Aserbaidschan Ende September Bergkarabach besiegt und die selbsternannte Republik Bergkarabach ihre Auflösung bekannt gegeben hat. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, in die Region zu schauen, denn die Zukunft der Bevölkerung von Bergkarabach ist völlig offen. Im besten Fall kommt es „nur“ zur Vertreibung der knapp 100.000 Menschen, im schlimmsten Fall zu Gewaltexzessen durch Aserbaidschan. Je weniger das den Rest der Welt interessiert, desto größer ist die Gefahr für die Bewohner:innen von Bergkarabach. Und je weniger Kritik der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew erfährt, desto größer ist die Gefahr, dass erneut ein Krieg ausbricht und Aserbaidschan Armenien angreift.
In diesem Text erkläre ich dir anhand von drei Karten die Hintergründe des Konflikts. Es geht um vertrackte Grenzziehungen und um die mächtigeren Staaten hinter Armenien und Aserbaidschan: die Türkei und Russland. Und es geht darum, wieso die EU-Diplomatie an diesem Konflikt gescheitert ist.
Das Verhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan ist seit Jahrzehnten hasserfüllt
Kurz zum Hintergrund: Bergkarabach ist eine Region im Südkaukasus und liegt zwischen Armenien und der Autokratie Aserbaidschan. Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan, aber in dem Gebiet wohnten bis zur jetzigen Massenflucht mehrheitlich Armenier:innen. Ein Blick auf die Karte macht klar, dass das Problem zumindest teilweise daran liegt, wie in Sowjetzeiten die Grenzen gezogen wurden.
Damals wurde Bergkarabach nämlich der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Schon in Sowjetzeiten gab es Forderungen, Bergkarabach an Armenien zu übertragen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wollte Bergkarabach auf keinen Fall zu Aserbaidschan gehören und erklärte sich für unabhängig. Das ganze eskalierte zu einem mehrjährigen Krieg, bei dem Zehntausende Menschen starben.
Seit 1994 gilt der Konflikt als „eingefroren“, allerdings ist der Begriff irreführend. Denn seitdem gab es mehrmals Kämpfe, bei denen beide Seiten Kriegsverbrechen begingen. 2020 brach ein Krieg aus, bei dem Aserbaidschan viele Gebiete zurückeroberte. Zuletzt flammten die Kämpfe vergangene Woche auf, währten aber nur kurz: Aserbaidschan griff an und nach nicht einmal 24 Stunden ergab sich Bergkarabach. Doch die Gewalt ist damit nicht vorbei.
Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Georgien hat mir erklärt: „In den vergangenen Jahren ist so viel Hass in die Menschen eingesickert, auf beiden Seiten. Der Hass wurde regelrecht eingeimpft über die Medien, Schulen und die Politik.“ Malerius glaubt: „Es könnte zu weiteren Ausschreitungen und Exzessen kommen.“
Die Armenier:innen von Bergkarabach fürchten sich vor den Gewalttaten Aserbaidschans
In den vergangenen neun Monaten waren die Bewohner:innen von Bergkarabach teilweise von der Strom- und Gasversorgung abgeschnitten, Medikamente wurden knapp. Die Menschen hungerten. Denn Aserbaidschan hatte den Latschin-Korridor blockiert, die Hauptverkehrsroute zwischen Armenien und Bergkarabach. Wie du auf der Karte weiter unten sehen kannst, ist der Latschin-Korridor der einzige Zugang, mit dem Armenien die Menschen in Bergkarabach versorgen konnte.
Wovor sich die Armenier:innen in Bergkarabach fürchten, wird durch ein Video deutlich, das vor einem Jahr kursierte. Darin posieren aserbaidschanische Soldaten mit der Leiche einer armenischen Soldatin. Der Körper der Frau ist auf verstörende Weise verstümmelt. Die jetzigen Befürchtungen der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach sind eine Fortsetzung des Traumas von 1915. Während des Ersten Weltkriegs beging das Osmanische Reich einen Genozid an den Armenier:innen, die Türkei erkennt den Völkermord bis heute nicht an.
Jetzt fliehen die Menschen aus Bergkarabach. Es ist schlimm genug, wenn so viele Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Noch dazu hat Bergkarabach historisch und kulturell eine große Bedeutung für die Armenier:innen. Sie sehen dort den Ursprung ihres Volkes. In Bergkarabach wurde die armenische Schrift entwickelt und dort befinden sich viele Monumente und historische Stätten, zum Beispiel Tigranakert, eine Stadt aus vorchristlicher Zeit.
Diejenigen Armenier:innen, die in Bergkarabach zurückgeblieben sind, schweben in großer Gefahr. Es kursieren Gerüchte von Gewalt und Folter an Zivilist:innen. Allerdings sind diese Gerüchte nicht verifiziert, weil Journalist:innen oder internationale Beobachter:innen nicht nach Bergkarabach dürfen. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits gefordert, Beobachter:innen in die Konfliktregion zu entsenden.
Es droht ein Krieg – das hängt mit den Interessen größerer Staaten zusammen
Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt und Armenien bisher von Russland. Ohne diese beiden Länder würde der Konflikt um Bergkarabach vollkommen anders verlaufen. Sie haben verschiedene geopolitische Interessen, die dazu führen könnten, dass Aserbaidschan bald Armenien angreift.
Mit einem Blick auf diese Karte ist es leichter zu verstehen: Die Motivation der Türkei im Bergkarabach-Konflikt hat einen Namen, und zwar „Sangesur-Korridor“.
Wie du auf der Karte sehen kannst, wird das aserbaidschanische Staatsgebiet „zweigeteilt“. Einmal gibt es das Kernland und dann die Exklave Nachitschewan. Eine Exklave ist ein Staatsgebiet, das außerhalb des Landes liegt, also von einem fremden Staat umschlossen wird. Zum Beispiel ist Kaliningrad/Königsberg eine Exklave von Russland und von Polen und Litauen umgeben.
Zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der Exklave Nachitschewan liegt allerdings armenisches Territorium. Aserbaidschan und die Türkei träumen von einer festen Verbindungsstraße durch dieses armenische Gebiet, dem Sangesur-Korridor. Es gäbe dann eine direkte Transportverbindung von der Türkei bis in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku – wirtschaftlich vorteilhaft für beide Länder.
Kürzlich trafen sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew demonstrativ in der Exklave Nachitschewan. Armenien befürchtet nun, dass sich der aserbaidschanische Präsident Alijew ermutigt fühlen könnte, Armenien anzugreifen, um eine Verbindung zwischen Aserbaidschan und der Exklave über armenisches Territorium herzustellen. Stephan Malerius von der Adenauer-Stiftung hält dieses Szenario für realistisch.
Russland war mal Armeniens Schutzmacht, doch das ist Vergangenheit
Russland galt jahrzehntelang als Schutzmacht Armeniens, beide Länder sind Mitglied im Militärbündnis OVKS, dem mehrere frühere Mitgliedsstaaten der Sowjetunion angehören. Nach den Kämpfen von 2020 verhandelte Russland einen Waffenstillstand und stationierte russische Friedenstruppen in Bergkarabach. Doch Russland als Garant des Friedens in Bergkarabach ist jetzt Vergangenheit.
Seitdem es die Ukraine angegriffen hat, bleibt Russland im Bergkarabach-Konflikt passiv. Deshalb konnte Aserbaidschan in den vergangenen neun Monaten den Latschin-Korridor blockieren, vor einem Jahr Armenien bombardieren und nun Bergkarabach angreifen. Es gibt nur Vermutungen, warum Russland sich so zurückgezogen hat. Wahrscheinlich fehlen Russland seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine die Kapazitäten, um sich in Armenien zu engagieren. Aber möglicherweise hat Russland auch die Seiten gewechselt und sich mit Aserbaidschan verbündet. Denn für Russland ist es inzwischen besonders wichtig, gute Beziehungen zur Türkei zu haben.
Diese Eskalation zeigt, was passiert, wenn EU-Diplomatie scheitert
Die EU hat sich bemüht. Wenn das bei Kindern im Schulzeugnis steht, bedeutet das, dass das Resultat zu wünschen übrig lässt. Das gilt auch für die diplomatischen Bemühungen der EU. Zwar trafen sich Aserbaidschans Präsident Alijew und der armenische Premierminister Paschinjan mehrmals zu Verhandlungen in Brüssel. Und es gab eine sogenannte EU Monitoring Mission an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, um die Situation zu stabilisieren.
Doch angesichts der jetzigen Ereignisse ist klar: Diese Diplomatie ist gescheitert. Anstatt einen Konflikt friedlich zu lösen, hat sich ein autoritärer Staat lieber auf seine Waffen und auf Gewalt verlassen. Ein schlechtes Vorbild für andere autoritäre Staaten und zukünftige Konflikte.
Warum setzt sich die EU nicht mehr für die Armenier:innen ein? Genau wissen wir das nicht. Aber im Sommer 2022 schloss die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Gasabkommen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew. 20 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr sollen ab 2027 von Aserbaidschan in die EU fließen – doppelt so viel wie bisher. Gerade kommen drei Prozent des Gasbedarfs der EU aus Aserbaidschan.
Dieses Abkommen kritisierten viele schon damals als paradox: Die EU will weniger Gas von Russland – einem autoritären Land, das einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt – und bezieht stattdessen mehr Gas von Aserbaidschan – einem autoritären Land, das Bergkarabach und Armenien angegriffen hat.
Die EU hat noch weitere – unrühmliche – Verbindungen nach Aserbaidschan. Bei der als „Kaviar-Diplomatie“ bekannten Lobbystrategie versucht Aserbaidschan, mit Luxusgeschenken Einfluss auf europäische Politiker:innen zu nehmen. Und 2021 kam die sogenannte Aserbaidschan-Affäre ans Licht. Mehrere Politiker:innen von CDU und CSU waren in dubiose Geschäfte in Aserbaidschan verwickelt.
Wie sehr die Gasgeschäfte und diese Bestechungsversuche durch Aserbaidschan den europäischen Umgang mit dem Land beeinflussen, ist unklar. Ziemlich deutlich dagegen sind die zögerlichen Reaktionen der EU. Keine Sanktionen, keine eindringlichen Appelle. Dabei wäre es gerade jetzt so wichtig, der Bevölkerung von Bergkarabach Sicherheit zu geben und Aserbaidschan Grenzen aufzuzeigen. Armenien hat keine starken Bündnispartner, keine Länder, die es beschützen. Und die Bevölkerung von Bergkarabach hat nicht einmal mehr ein Zuhause.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Grafiken und Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert