Ein Gruppenbild von der Zumba-Klasse des Autoren.

Mit freundlicher Genehmigung von Diego Chauca, „ZJ Diego“ im schwarzen Zumba-Shirt in der ersten Reihe

Psyche und Gesundheit

Whoop! Whooop! Whoo-fucking-ooooop!

Seit vier Jahren gehe ich regelmäßig ins Fitnessstudio. Ich habe mir dabei zwei Regeln gegeben: Probier alles aus! Und: Nichts darf dir peinlich sein! So kam ich zum Zumba.

Profilbild von Christian Fahrenbach
Reporter, New York

Als ich zum ersten Mal den Raum betrete, in dem ich seit März zwei Stunden pro Woche verbringe, fühle ich mich, als wäre ich in „Fight Club“ gelandet – nur heller, mit mehr Spiegeln und 30 Frauen in Leggings. Aber da sind eben auch fünf einsam verteilte Männer, die sich nur kurz zunicken und ansonsten ausschauen, als erinnern sie sich noch ganz genau an die erste Regel von „Fight Club“: Du wirst mit niemandem darüber reden, hier zu sein. Habe ich hier gerade einen Geheimbund betreten?

Natürlich ist es hier nicht so dunkel, wie in den stylish runtergerockten Kellern, in denen sich Brad Pitt und Edward Norton die Birne eingeschlagen haben. Und die beiden haben seinerzeit auch nicht 340 Dollar im Monat gezahlt, um sich an einem frühen Nachmittag mitten in Manhattan Latino-Pop um die Ohren ballern zu lassen. Und ganz sicher bin auch ich nicht zum Kämpfen hier – wie soll das bitte gehen mit meinen dünnen Newsletter-Onkel-Ärmchen? Ich bin mit meinen 42 Jahren hier, weil wir im Jahr 2023 sind und da der moderne Schmerzensmann keine Gewalt braucht, um sich seiner selbst zu vergewissern: Ich bin hier für meine erste Stunde Zumba.

Dreieinhalb Jahre zuvor hatte ich mich in dieser Luxus-Fitnesskette angemeldet und mir angesichts der happigen Beiträge zwei Regeln gegeben. Erstens: Egal ob der Kurs von Yoga, Pilates, Barre, Fahrrad, Boxen oder Krafttraining handelt – ich muss alles ausprobieren, was sie anbieten. Zweitens: Mir darf nichts peinlich sein.

Der Dance-Beat donnert los

Gerade das Zweite ist leichter gesagt als getan, denn in den Gruppen-Fitnessräumen ist mindestens eine Wand komplett verspiegelt und ich habe vor allem zu Beginn doch erhebliche Probleme damit, diesem tapsigen Bären mir gegenüber bei Yoga-Figuren oder dem Heben von gefühlt viel zu kleinen Gewichten zuschauen, während ich am liebsten 80 Prozent der anderen Kursteilnehmer zurufen will: „Du musst nicht hier sein! Du bist schon heiß!“

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Für derlei Grübelei bleibt mir aber keine Zeit, denn wenige Minuten später betritt der Instructor den Raum, oder wie es hier heißt: „ZJ Diego“. Wie jeder Geheimbund haben auch wir unsere eigene Sprache und „ZJ“ ist die Abkürzung für „Zumba Jammer“, jene speziell zertifizierten Trainer:innen, die das markenrechtlich abgesicherte Tanz-Workout unterrichten dürfen. Er schließt seinen Laptop an die Soundanlage an, schaut kurz in den Raum und begrüßt uns mit einem „Helloooo“, das mit einem Fragezeichen endet und eigentlich sagt: „Alle bereit?“ Ein halbes Dutzend der Frauen kreischt fröhlich. Dann donnert der Dance-Beat los. Der komplette Raum tanzt Seit-Tap-Seit-Tap im Gleichschritt, wir alle reißen die Arme hoch, klatschen, schreien. Whoop! Whooop! Whoo-fucking-ooooop!

Ich stolpere den ersten Schritten noch mühsam hinterher, aber nach einem halben Song verbreitet sich von sehr tief innen ein Grinsen auf meinem Gesicht.

Ich sehe, dass viele andere im Raum auch dieses Lachen zeigen, auch wenn sie sonst ziemlich unterschiedlich daherkommen: Da sind Midtown-Frauen, die mit makelloser Lululemon-Figur und erkennbar aufwendiger Feuchtigkeitscreme-Routine ausschauen, als seien sie Statistinnen in „Sex and the City“, da sind fröhlich improvisierende Asiatinnen und perfekt schwingende Latina-Hüften – und in Reihe eins eine ältere Schwarze, hochgewachsen, schlank und mit Stirnband. Selbst der Schweiß, der ihr auf der Stirn steht, strahlt Autorität aus.

Nach dem Aufwärmen beginnen die komplizierteren Songs. Und unser Instructor erklärt: nichts. Aus meinen 90er-Jahre-Tanzschulzeiten bin ich gewohnt, dass mit steifem Rücken und „Eins, zwei, Wech-sel-schritt-!“-Kommandos Figuren separat erarbeitet und aneinandergereiht werden. Hier muss ich selbst sehen, wie ich mitkomme.

Stattdessen tanzt ZJ Diego einfach vor und hebt maximal die Hand, um mit Fingern herunterzuzählen, nach links und rechts zu zeigen oder vor und hinter sich zu weisen. Erst viel später sollte ich lernen, dass genau das Teil des Konzepts ist und die Trainer nicht in die Musik reinquatschen sollen. Zumba brüstet sich mit dem Spruch: „Ditch the workout, join the party“ – vergiss das Workout und mach dich bereit für die Party!

Mein innerer Buchhalter zählt alle Fehler

So ganz gelingt mir das nicht, auch wenn ich dank dreieinhalb Jahren deutscher Tanzschule einigermaßen hoffnungsvoll hinterher hüpfe. Und trotzdem merke ich auch schnell, dass es hier nicht ums strenge Abzählen von Schritten geht. Klar, die Bewegungen sehen besser aus, wenn der Körper eine Linie bildet und die Füße nicht sieben Mal pro Song stolpern, aber viel wichtiger als Schrittfolgen sind hier der Spaß und das, was die Amerikaner:innen „sass“ nennen, ein fröhlich-flirtendes Selbstbewusstsein, das herausfordernd einen Mundwinkel und eine Augenbraue hochzieht – gar nicht so einfach, wenn Tanzen für mich immer mit dieser „Alles ist peinlich“-Attitüde aus Teenage-Zeiten verbunden ist.

Ich merke, wie dringend ich technische Aspekte lösen will: Wann kommt der Wechselschritt, wohin muss mein Arm zeigen, wie viele Leute kriegen mit, dass ich mich gerade in die falsche Richtung gedreht habe? Mir entgeht, dass sich dabei mein Gesicht verdüstert, weil mein innerer Buchhalter nicht aufhört mitzuzählen und Fehler zu notieren. Nach gut zwanzig Minuten sind es anscheinend genau diese Stirnfurchen, die eine Tänzerin in der Reihe vor mir zu mir herüber tanzen lassen.

Wir reißen da gerade zu einem israelischen Pop-Kracher den linken Arm hoch, drehen uns seitlich zu den Spiegeln vor uns und schütteln mit dem rechten Bein stampfend den Hintern hin und her, während der rechte Ellenbogen auf Hüfthöhe vor und zurückschnellt. Sie stellt sich vor mich, zeigt zu uns beiden im Spiegel, grinst. Ich muss mitlachen und für vielleicht eine halbe Sekunde komme ich mir vor, als sei ich in der Hochzeitsszene eines Bollywood-Films gelandet. Nicht schlecht für 16.30 Uhr an einem regnerischen Tag in Manhattan – und so ist mir nach den ersten 45 Minuten klar: Das hier ist genau meins.

Ich merke, dass ich Hüften habe

Vor allem, weil die Erfolgserlebnisse weitergehen: Nach zwei Sessions merke ich, dass ich Hüften habe. Nach vier Sessions stelle ich mich nach dem Kurs zum ersten Mal einigen der Gesichter vor, die ich wiedererkenne, anstatt sofort den Raum zu verlassen. Nach sechs Sessions merke ich, dass ich Lieblingsschritte entwickle. Aufrecht mit hängenden Schultern und Armen und wie eine Marionette links-rechts-links-links-rechts-links-rechts-rechts-hüpfend denke ich mir: „Eigentlich wie Riverdance.“ Und wenn wir bei Latino-Balladen die Arme nach vorne strecken und wie beim Tauziehen zu uns heranziehen, macht mein Gesicht eine Schnute, als sei ich in eine RTL2-Boyband geraten.

Und dann kommt eines Tages der Geburtstag unseres ZJ, und das heißt für ihn: Masterclass.

Über Wochen hat er im regulären Kurs für diese Sondersession getrommelt, mit 90 Minuten ist sie doppelt so lang wie üblich, wird ausgerichtet in einem Broadway-Probenraum und zusätzlich unterrichtet von zwei Gaststar-ZJs. Ich melde mich auf der mit 40 Dollar günstigsten Stufe an und sehe, dass andere noch einmal 20 Dollar mehr für das Privileg zahlen, in den ersten beiden Reihen tanzen zu dürfen. Dann checke ich noch die Instagram-Accounts der beiden Co-Instructor: Sie sind aus Brasilien und Frankreich und haben zusammen 98.000 Follower. Da verstehe ich: Die anderen zahlen wohl nicht den Zusatzpreis, weil sie sich für die besseren Tänzer:innen halten, sondern teils auch, um ihren ganz persönlichen Idolen näher zu sein.

Ein Selfie von unserem Autoren. Er trägt Sportkleidung und hat ein Handtuch um den Nacken gelegt.

Ich, Christian Fahrenbach. Hüfte hilft.

Der Abend gerät ausgelassen, wie ja auch das Aufmacherbild dieses Artikels ein wenig zeigt – Suchbild mit Autor sozusagen, man findet mich wie auch im Kurs in der letzten Reihe, halbrechts beim silbernen Ballon. Bei den drei ZJ sitzt im Zusammenspiel jeder Fingerzeig und ich muss erwähnen, dass wir auch eine Choreographie zum albanischen Eurovisionsbeitrag 2022 tanzen – von der bekomme ich aber wiederum kaum etwas mit, weil ich mit diesem Zusammenstoßen von zwei Hobbywelten nicht gerechnet hätte.

Noch mehr wundere ich mich aber darüber, wie massiv diese Zumba-Subkultur ist, von der ich bis vor drei Monaten gar keine Ahnung hatte. Dutzende Frauen stehen mehr als eine halbe Stunde an, um mit den Coaches ein Selfie zu bekommen, eine erzählt mir, sie sei extra anderthalb Stunden für die Masterclass angereist.

Mehr Zumba als McDonald’s, Starbucks und Dunkin’

Das ist dann doch der Moment, in dem ich etwas mehr über mein neues Hobby wissen möchte. Entstanden ist Zumba angeblich, weil in den 1990er-Jahren der kolumbianische Aerobic-Lehrer Alberto Perez vor einer Klasse seine übliche Musik daheim vergessen hatte und stattdessen nur einige Latino-Tracks bei sich hatte. Er schmiss Playlist und Workout um und die Teilnehmenden fanden es so gut, dass sie um eine Wiederholung baten.

Über die Jahre hat sich um sein Zufallskonzept herum eine komplette Fitness-Markenwelt entwickelt. Wer unter dem geschützten Begriff „Zumba“ unterrichten will, muss eine eigene Ausbildung absolvieren, es gibt Spezialisierungen wie Aqua Zumba, Sitz-Zumba und „Zumbini“ für Kinder zwischen null und vier Jahren. Angeblich sollen weltweit heute 15 Millionen Menschen jede Woche zu einem Zumba-Workout tanzen. Gut möglich, dass das übertrieben ist, denn es ist um das Konzept etwas stiller geworden, seit sich vor rund 15 Jahren auch Superstars wie Jennifer Lopez, Madonna und Victoria Beckham öffentlich als Fans outeten.

Für die Immer-noch-Begeisterten im Inneren des Kults gibt es inzwischen eigene Zumba-Kleidung, Zumba-Kreuzfahrten und eine Weiterbildungsmesse für die besten Instructor, genannt Zincon, die „Zumba Instructors Network Convention“. 2017 sagte Perez in einem ausführlichen Quartz-Artikel, zu den Business-Hintergründen der Bewegung, dass es mehr Studios gebe, in denen Zumba gelehrt wird, als McDonald’s, Starbucks und Dunkin’ zusammen an Filialen haben.

Woher kommt deine Körperwahrnehmung, Junge?

Ein neongelbes Zumba-Tanktop habe ich noch nicht, aber nach mittlerweile fünf Monaten sind einige andere Dinge in mein Leben getreten. Da ist etwas mehr Reflexion. Ich schaffe es etwas häufiger, mir selbst im Spiegel zuzuschauen, auch wenn es sich immer noch anfühlt, als ob ich zum Workout auch eine Stunde Therapie gratis dazu bekomme: Woher kommt deine Körperwahrnehmung, Junge, wie könntest du sie verändern? Da ist etwas mehr Präsenz. Ich genieße es, dass mir in meinem sonst unstrukturierten und komplexen Tag jemand in minimalen Abständen zeigt, was zu tun ist.

Da ist die Freude am Durchbeißen: Woche für Woche lerne ich, wie sehr sich im Leben das Dranbleiben lohnen kann. Am Ende eines Songs kann ich mehr Bewegungen als an seinem Anfang, am Ende einer Klasse habe ich Schrittfolgen gelernt, die ich in der Woche vorher nicht konnte. Ich weiß dank einigen Rückmeldungen von KR-Leser:innen zu den Plänen für diesen Artikel hier: Mit der Sorge davor, in Kursen nicht mithalten zu können, bin ich nicht alleine. Weil ich aber so tolle Erfahrungen gemacht habe, ertappe ich mich nach einigen Monaten nun dabei, dass ich Neuankömmlingen – stets klatschend begrüßt zu Beginn des Kurses, whoo-hoo! – zurufen will: Kommt unbedingt wieder!

Da ist etwas mehr Souveränität. Wenn ich nach meiner Lieblingslektion aus dem Leben in den USA gefragt werde, habe ich immer die gleiche Antwort: Keine Angst vor Albernheit. Sich zum Affen zu machen und dabei zu Grinsen, tut nicht nur den anderen gut.

Als einmal in einer Aushilfsstunde unsere Energie etwas roboterhaft und angestrengt wird, ruft uns der Instructor zu: „LADIES! SMILE! I need attitude!“ Er klatscht dazu und es klingt wie „A-TI-TUUUUT!!!“, aber er hat ja recht: Manchmal muss man eben ein Gesicht und eine Haltung auflegen und sich lächelnd durchkämpfen. Hüfte hilft!

Wie wichtig lose Bekannte sind

Aber da sind vor allem die Leute, von denen ich inzwischen längst mehr als die Namen kenne und denen ich in verschiedenen Filialen unserer Fitness-Kette begegne, weil wir dem Instructor durch die Stadt hinterherreisen. Ich muss an die dunklen Zeiten der Pandemie denken und wie sehr mir seinerzeit Menschen fehlten, die manche Psycholog:innen „weak links“ nennen, jene losen Verbindungen, die nicht unbedingt zu unserem engen Freundeskreis zählen, die uns aber allein durch ihre Regelmäßigkeit bereichern.

Fünf Monate nach meinem ersten Zumba-Besuch tut es jede Woche neu gut, neu zu erleben, wie uns ZJ Diego nicht nur mit viel Energie und unfassbar viel Freude durch die Stunde führt, sondern eben auch eine Gemeinschaft bildet: Ich wünsche inzwischen der Lehrerin Michelle einen guten Schulstart und bin sicher, dass ihre fünfte Klasse von ihrer Energie mitgerissen wird. Ich hake bei Ken nach, welche Theaterstücke er in der Woche zuvor bei seiner Londonreise gesehen hat. Und ich lache darüber, dass Gita und ich zwar gut die Hüften miteinander schütteln, sie es aber nicht schafft, mir als deutscher Kartoffel eine unabhängigere Koordination von Händen und Füßen beizubringen. Es ist mir völlig unmöglich, zur gleichen Zeit gleichmäßig mit den Füßen zu tappen, während die Hände anders als auf eins und drei klatschen sollen – vielleicht bin ich doch einfach mehr Fernsehgarten als Fight Club.


Danke an die Leser:innen, die mit mir einige ihrer Zumba-Erfahrungen geteilt haben und mir so halfen, einige Punkte detaillierter zu betonen.

Redaktion: Judka Strittmatter, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Whoop! Whooop! Whoo-fucking-ooooop!

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