Vor ein paar Wochen habe ich gezeigt, dass Psychotherapeut:innen ihren Patient:innen nicht permanent alles sagen. Dabei stellte sich heraus, dass sie Bedürfnisse, Ängste und Nöte haben, die sie aber im Gespräch nicht kommunizieren können.
Heute möchte ich den Spieß umdrehen – und euch erzählen, welche Probleme sich psychisch Kranke nicht trauen, in der Psychotherapie anzusprechen. Eigentlich sollte das der Ort sein, an dem Betroffene nichts für sich behalten müssen, oder?
Dennoch trauen sich Menschen immer wieder nicht zu, bestimmte Aspekte ihres Lebens zu thematisieren. Um herauszufinden, welche das sind, startete ich kürzlich eine Umfrage. Mehr als 800 Menschen nahmen daran teil.
Heute zeige ich dir eine Auswahl der Antworten, die ich bekommen habe. Beim Lesen derselben stellte ich fest, dass einige Patient:innen zögern, über ihre Sexualität zu sprechen. Aber auch Suizidalität wird oft verschwiegen, da Betroffene eine Einweisung gegen ihren Willen befürchten. Der am häufigsten genannte Grund für diese Befangenheiten war: „Ich schäme mich.“
Zur Verbesserung der Lesbarkeit habe ich die Antworten, die ich erhalten habe, redigiert.
Patient:innen tragen wichtige Anliegen mit sich
Ich habe einen unehelichen Sohn.
– Heinz
Ich würde gern über meine Gewaltfantasien sprechen.
– Winfried
In meiner jetzigen (ambulanten) Therapie habe ich lange verschwiegen, dass ich glaube, transgender zu sein. Auch wenn der Gedanke schon lange in meinem Kopf war.
– Vince
Ich liebe meinen Mann nicht mehr, möchte aber nicht allein sein.
– Janine
Ohne meine Schwestern wäre das Leben für mich leichter.
– Suse
Ich sehe und nehme Dinge wahr, die eigentlich nicht da sind. Das begleitet mich schon lange.
– Ivy
Gelegentlich sind Patient:innen unzufrieden mit den Behandelnden
Sie, die Therapeutin, reden zu viel. Das geht von meiner Zeit ab.
– Anitu
Ich dachte: Für wie verrückt halten Sie mich wohl? Mein Therapeut verglich mich jüngst mit einer Patientin, die sich für einen Labrador hält. Da musste ich erst mal schlucken.
– Paulina
Was Sie gerade gesagt haben, ärgert mich echt.
– Clara
Ich dachte, das sei die falsche Therapeutin für mich. Aus Sorge, keine Alternative zu finden, habe ich es nicht angesprochen.
– Annette
Sexualität ist ein Tabuthema
Ich hatte schon sehr lange keinen Sex mehr und das belastet mich.
– Mandy
Seit ein paar Monaten habe ich eine neue Beziehung. Das weiß mein Therapeut und er ist auch zufrieden mit den Fortschritten, die ich mache. […] Was ich ihm aber komplett verschweige, ist, dass es sich um eine Beziehung mit BDSM handelt. Ich habe Angst, verurteilt zu werden, vor allem, weil ich mich in der Beziehung schlagen lasse und ich in der Vergangenheit Probleme mit Selbstverletzung hatte. Ich möchte nicht, dass mein Therapeut das in Zusammenhang zieht.
– Emma
Ich weiß, dass ich ansprechen muss, dass ich meinen Partner vor acht Jahren betrogen habe. Ich fühle mich schuldig und habe Angst, verurteilt zu werden.
– Amanda
Manche Patient:innen behalten ihre Suizidgedanken für sich
Meine Therapeutin fragte mich, ob meine Selbstmordgedanken ernst seien. Sie schaute alarmiert. Sie fragte, ob ich wisse, welche Verantwortung sie trage. Ich wollte nicht in die Klinik, also sagte ich, was sie hören musste, um mich nicht einzuweisen. Zwanzig Jahre später lebe ich noch und denke immer wieder an Selbstmord. Aber ich weiß, dass ich nie dazu in der Lage wäre.
– Nuria
Suizidgedanken. Einfach alles hinschmeißen zu wollen und einfach aufhören zu existieren. Dass ich kein Licht am Ende des Tunnels sehe und komplett hoffnungslos bin, dass sich etwas ändert.
– Anonym
Ich habe oft Dinge wie Selbstverletzung nicht angesprochen, aus der Sorge heraus, eine schlechte Patientin zu sein, wenn ich damit kämpfe. Ebenso habe ich nie erzählt, dass ich mir früher zum Einschlafen immer vorgestellt habe, einen gewaltsamen Tod zu sterben und dann als starkes magisches Wesen wiederbelebt zu werden. Damit endlich alle sehen, dass ich nicht nur ein unscheinbares Opfer bin, das man mobben kann.
– Lucia
Obwohl ich hundert Mal sage, dass ich die Situation akzeptiere, werde ich die Schuldgefühle zum Suizid meines Sohnes behalten.
– Leonie
Emotionale Momente können überwältigend sein
Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt.
– Andi
Die Therapie hat mir vor Augen geführt, wie es ist, wenn man einfach verstanden wird und sich nicht groß erklären muss. Die Tatsache, dass es im „echten Leben“ niemanden gibt, der das auch kann, tut weh. Ich habe es nicht angesprochen, weil ich nicht selbstmitleidig, unselbständig und anhänglich wirken wollte.
– Mirja
Können Sie mich einfach mal in den Arm nehmen?
– Jeannette
Sie sind der erste Mensch, der mich ernst nimmt. Ich möchte nicht, dass die Therapie vorbei geht. Ich habe Angst, ohne ihre Hilfe nicht klarzukommen.
– Anna
Sie sind ganz schön süß!
– Ida
Als Reporter für psychische Gesundheit habe ich nicht nur die Erfahrungen von anderen gesammelt; ich bin ebenfalls von Depressionen betroffen und seit meiner Kindheit immer wieder in psychotherapeutischer Behandlung. Daher kenne ich das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben, wenn ich ein schambehaftetes Thema ansprechen will.
Um diese Dynamik besser zu verstehen und herauszufinden, was in so einer Situation ratsam ist, rufe ich Christina Jochim an. Neben ihrer Psychotherapie-Praxis in Berlin ist sie in der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung als stellvertretende Bundesvorsitzende tätig. Jochim kann nachvollziehen, dass es viel Überwindung kostet und anstrengend sein kann, sich in der Therapie mit schmerzhaften Inhalten auseinanderzusetzen. „Allerdings verschwindet ein Problem nicht, wenn man es nicht anspricht.“
Wenn man Dinge benenne, so Jochim, könne das zu einer kurzfristigen Entlastung führen. „Tendenziell würde ich auch empfehlen, alles zu erzählen und nichts für sich zu behalten.“ Psychotherapeut:innen würden exakt für diese Fälle ausgebildet. Aber ohne Kenntnis eines wichtigen Anliegens des Patienten könnten sie nicht darauf eingehen. „Je mehr ich weiß, desto besser kann ich dieser Person helfen, aus ihrer Situation herauszukommen.“
Jochim bringt es auf den Punkt: „Die Psychotherapie ist der Ort, an dem man wirklich alles ansprechen kann.“ Eine Möglichkeit sei, zu benennen, dass es einem schwerfalle, das eigene Leben offen und ehrlich vor der Behandler:in auszubreiten.
Vielleicht ist das der Beginn für ein klärendes Gespräch.
Redaktion: Martha Andruschat, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Esther Göbel, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger
Bitte sprich mit anderen Menschen darüber, wenn du an Suizid denkst.
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen können dir im Notfall helfen. Eine gute Übersicht der Hilfsangebote findest du hier. Im Zweifel empfehle ich, den Notdienst (in Deutschland die 112) anzurufen. Die Telefonseelsorge erreichst du unter der Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Für Kinder und Jugendliche gibt es es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.