„Gabriel, entschuldige, ich weiß, wie sehr du Sprachnachrichten hasst, aber ich hatte heute einen so anstrengenden Tag und habe wirklich gerade keinen Nerv, das einzutippen, tut mir leid, aber ich musste schon X, Y und Z machen und jetzt liege ich hier im Bett und kann wirklich das alles nicht noch tippen, sorry nochmal, kommt nicht wieder vor, jedenfalls versuche ich, mich kurz zu fassen. Also, was ich sagen wollte …“
Es gibt Leute, die lieben Sprachnachrichten. Vor allem die, die sie schicken. In diesem Text aber soll es um die armen Würstchen gehen, die sie empfangen müssen. Ich bin eines von ihnen – und ich kann Sprachnachrichten nicht mehr hören.
Wer Sprachis schickt, kann endlos mäandernd vor sich hin vokalisieren, während man selbst keine Chance hat, den Redenden zu unterbrechen oder nachzufragen. Man muss sich diese Minipodcasts bis zum Ende anhören.
Anstatt einen Gedanken vorher auszuformulieren und dann abzuschicken, wird der Zuhörende zum unfreiwilligen Zeugen dessen, was Heinrich von Kleist „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ genannt hat. Diese Verfertigung geht aber oft dermaßen allmählich vonstatten, dass in den meisten Audionachrichten unklar bleibt, ob mit einem Gedanken noch zu rechnen ist.
Sprachnachrichten sind Anrufbeantworter auf Speed
Der Soziologe Niklas Luhmann wusste von der „Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, aber er kannte Sprachnachrichten noch nicht: die Unverschämtheit der Kommunikation. Denn wer Sprachnachrichten verschickt, betreibt Outsourcing an seine Freund:innen.
Erst dachte ich, Sprachnachrichten kombinieren schlicht den zeitversetzten Austausch von Textnachrichten mit der Spontaneität des Telefonanrufs. Aber tatsächlich ist die Sprachi einfach nur eine alte Kulturtechnik auf Speed. Nämlich das gegenseitige Vollsprechen von Anrufbeantwortern. (Was für ein Euphemismus auch: Diese Geräte taten nun wirklich alles, aber Anrufe beantworten gehörte nicht dazu.)
Der Anrufbeantworter stammt aus einer Zeit vor der Rufnummernübermittlung. Strategisches Ignorieren von Anrufen kam nicht in Frage, denn man wusste lange nicht, wer da anruft. Wenn der AB dran ging, war man also meist wirklich unpässlich. Aber wer heute nicht auf Anrufe reagiert, tut das aus Kalkül: nicht wichtig genug, nicht dringend genug, vermutlich Spam, kann auch Nachricht schreiben. Und so rufen nur noch die Menschen einfach an, die noch wissen, was eine Wählscheibe war. Meist aber nicht mal mehr die. Es gibt einfach zu viele bessere Kommunikationswege für das, was man früher per Anruf erledigt hat. Die Sprachnachricht gehört nicht dazu.
„Hörs dir doch einfach nicht an, wenns dich so stört“, ist der gleichermaßen wohlmeinende wie pampige Rat, den ich in solchen Fällen gerne bekomme. Aber das geht nicht, weil ich dann dem sorglosen Gelaber mit unangemessen aggressiver Zurückweisung begegne. Die Nachricht ist ja in der Welt. Zu sagen, dass man sie sich nicht angehört hat, ist eben auch nicht feiner als das Volltexten von Leuten, die sich nicht wehren können.
Außerdem: Im Gegensatz zu richtigen Podcasts, in denen vielleicht eine lebensverändernde Weisheit vermittelt wird (oder wenigstens eine gute neue Serie empfohlen), können Voicemessages tatsächlich Dringendes enthalten. Aber die Schlammlawine des selbstvergessenen Geplauders unterspült den womöglich vorhandenen entscheidenden Datendiamanten, die wichtige Uhrzeit, den wichtigen Termin, die alles entscheidende Frage.
Womöglich. Womöglich auch nicht.
Selbst ein Telefonat ist besser als eine Sprachnachricht
„Du, also ich bin gerade mit der Kleinen hier auf dem Spielpl– ja, Papa kommt gleich! – also wir sind hier auf dem Spielplatz und ich dachte, es – nein, Emma, gib die Schaufel mal dem Jungen, du hast doch noch die gelbe – also, ähm, wegen heute Abend da wollte doch die Esther vorbeikommen … ach nee, ich merk gerade, das war nächste Woche, jedenfalls – warte mal, ich muss Emma jetzt mal kurz – das bringt jetzt nix, ich sprech dir nachher nochmal was drauf.“
Der Whatsapp-Hersteller Meta riet 2022 in einem Sprachnachrichten-Knigge, Audiomessages auf maximal eine Minute zu begrenzen und sie sich im Zweifel vor dem Absenden nochmal anzuhören. Vor allem aber betont Meta, dass ein „zweiseitiges Gespräch“ einem einseitigen Monolog eigentlich immer überlegen ist. Dazu müsste man aber den verbotenen Button drücken: den mit dem grünen Hörer.
Man mag Sprachnachrichten zugute halten, dass Anrufe noch nerviger sind. Aber Anrufe kann man ins Leere laufen lassen. Der Anrufende kann seine Nachricht nicht loswerden und weiß, dass (außer seinem Sprechwunsch) nichts angekommen ist. Im besten Fall folgt dann eine Kurznachricht mit der Kernbotschaft. Die Sprachnachricht aber kann theoretisch abgehört werden. Der Absendende darf darauf hoffen, gehört zu werden. Deshalb ist der Anruf bei mir nur auf Platz zwei der nervigsten Kommunikationsformen.
Im persönlichen Gespräch funktioniert das laute Nachdenken, weil beide Teilnehmende idealerweise im gleichen Raum zur gleichen Zeit sind und sich von der Verfassung des Kommunikationspartners ein Bild machen können: Wie geht es dem anderen? Passt das gerade? Ufere ich gerade aus? Versteht man mich noch? Die unzähligen kleinen Reaktionen des Gegenübers, die fragenden zusammengekniffenen Augen, die zum Sprechen sich spitzenden Lippen, das unruhige Rumrutschen auf dem Stuhl – all dieses subtile Feedback fällt weg, weshalb es sich umso hemmungsloser monologisieren lässt. Niemand würde so sprechen wie in einer Sprachnachricht, wenn das Gegenüber vor einem säße.
Bald müssen wir keine Sprachnachrichten mehr abhören – hoffentlich
Dass ich nicht alleine bin mit meinem Frust, entnehme ich einer Ankündigung der Firma Apple: In der nächsten Version des iPhone-Betriebssystems, die diesen Herbst erscheint, werden iMessage-Sprachnachrichten automatisch transkribiert. Man kann dann einfach lesen, was das Gegenüber gesagt hat. Das Online-Nachrichtenportal Techcrunch fasst den Grund schön zusammen: Sprachnachrichten „sind ein Feature, das für den Absender immer bequemer war als für den Empfänger.“
Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis Künstliche Intelligenzen im Stil von ChatGPT solche Transkripte knapp zusammenfassen. Manche E-Mail-Programme können das bereits.
„Du, Gabriel, wegen meiner Nachricht von vorhin: Die kannst du ignorieren, das hat sich erledigt.“
Es gibt Gründe für Sprachnachrichten, ja. Wenn es um Atmosphärisches geht, wenn es notwendig ist, zwischen den Zeilen zu lesen, wenn man ein Gefühl vermitteln will, aber nicht gut ist im Verschriftlichen von Gefühlen. Wenn man die Stimme des Partners in der Ferne hören möchte, aber es wegen Terminen oder Zeitverschiebung nicht kann. „Du, ich bin grad echt zu faul zum Tippen“, gehört nicht zu diesen Gründen (zumal heute jedes Smartphone eine Diktierfunktion hat, die das Gesagte passabel verschriftlicht).
Und natürlich: Wenn das Gegenüber ausdrücklich einverstanden ist mit dem Empfang von Sprachnachrichten, dann ist natürlich alles erlaubt. Einvernehmlichkeit ist der Schlüssel – und ein offenes Gespräch über die Kommunikationsform, die für beide Seiten funktioniert. Idealerweise nicht per Sprachnachricht.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger