Vor einigen Tagen hat ein Hackerangriff die Plattform Archive of Our Own getroffen (AO3), eine der meistbesuchten Webseiten der Welt. Die Seite war über 30 Stunden massiven Angriffen ausgesetzt und deswegen nicht erreichbar.
Zur Erklärung: Auf AO3 kann man Fanfiction lesen. Das sind von Fans (klar) geschriebene Geschichten, die in einem fiktiven Universum spielen – also zum Beispiel im „Star Wars“-Universum oder in der Welt von „Harry Potter“. Manchmal erzählen die Texte die Geschichte einer Figur weiter, andere erfinden neue. Die Schreiber:innen verbringen oft Stunden damit, die Texte auszuarbeiten, manchmal mit so großem Erfolg, dass daraus ein Millionengeschäft wird. So ist das „50 Shades of Grey“-Universum entstanden, aus einer anderen Fanfiction entwickelte sich die Buchreihe „Twilight“. Allein das gibt AO3 eine hohe Relevanz. Aber noch ein weiterer Grund macht die Hompage so wichtig: Auf keiner anderen Seite im Netz findet sich mehr Fanfiction als auf AO3.
Queere Inhalte als Ziel von Angriffen
Warum hat es also eine Sammlung von Millionen ausgedachten Geschichten getroffen und nicht zum Beispiel die Seite der New York Times? Das hat etwas mit dem Inhalt der Fangeschichten zu tun. Viele behandeln queere Themen, die Protagonist:innen haben Sex oder sind in den Geschichten schwul oder trans.
Deswegen hat eine Gruppe namens „Anonymous Sudan“ die Attacken für sich beansprucht und geschrieben, sie hätten die Seite angegriffen, weil sie gegen alle Formen der Verkommenheit seien und „die Seite voll von ekelhaften Schmuddeleien und anderen LGBTQ+ und NSFW-Inhalten ist.“ AO3 würde mit solchen Inhalten Kinder verderben.
Die Sache hatte nur einen Haken: Was anfangs noch so aussah wie ein Angriff von islamistischen Gruppen gegen liberale Werte, stellte sich als Aktion der russischen Propaganda heraus, um Menschen gegen den Islam aufzubringen.
Sudanesische Hacker, die gar nicht so sudanesisch sind
Denn auch wenn „Anonymous Sudan“ verschiedene Cyberangriffe für sich beansprucht, gab es Ungereimtheiten. Sicherheitsexpert:innen stellten schnell fest, dass es sich bei den Attacken auf AO3 kaum um die Gruppe hatte handeln können. So müssten Tausende Dollar aufgewendet werden, um Attacken in dieser Größenordnung auszuführen, zum Beispiel für Proxy-Server, um die Verteidigung der Webseiten zu überwinden. Dieses Geld müsste die Gruppe zunächst organisieren, für eine vermeintliche Anonymous-Gruppe keine einfache Aufgabe. Daher die Annahme, dass das Geld für den Angriff aus Russland kam.
Dafür spricht außerdem, dass die Gruppe anfangs hauptsächlich auf Russisch kommunizierte und erst später zu Arabisch wechselte. Mattias Wåhlén, Experte bei der Cybersicherheitsfirma Truesec, sagte dem Online-Newsportal Cybernews über die Gruppe: „Da alles, was Anonymous Sudan tut, in das Narrativ des Kremls zu passen scheint, gehen wir davon aus, dass es aus Russland kommt und von jemandem aus der russischen Regierung oder zumindest aus dem Umfeld der russischen Führung unterstützt wird.“
Warum also die Verkleidung?
Natürlich lässt sich nicht endgültig sagen, ob wirklich der russische Staat hinter den Angriffen steckt und warum die Attacken AO3 getroffen haben. Eine endgültige Gewissheit wird es in dieser Sache nicht geben. Bedenkt man aber vergleichbare Aktionen und die vergangenen russischen Versuche, auf westliche Gesellschaften Einfluss zu nehmen, ist eine These sehr wahrscheinlich: Es sollten antiislamische Ressentiments verbreitet werden. Der Angriff sollte von den Nutzer:innen als islamistische Anfeindung verstanden werden, die, so vermutlich die Hoffnung, dann ihre Wut darüber an muslimischen Menschen auslassen.
Solche Versuche erkennen wir auch immer wieder bei der Verbreitung von falschen Nachrichten. Mein Kollege Benjamin Hindrichs hat Anfang des Jahres erklärt, wie solche Propaganda funktioniert und was das Ziel dahinter ist. Es gehe darum, Chaos zu erzeugen, so den Westen zu destabilisieren, populistische Kräfte zu stärken und damit Kritik am Regime zu delegitimieren oder ganz verstummen zu lassen.
Bei dem Cyberangriff handelt es sich zwar nicht um Propaganda im klassischen Sinne. Das Kalkül, das dahinter steckt, ist aber ähnlich.
So zeigt sich: Die Aufklärung solcher Taten wird immer mehr zu einem Hütchenspiel.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert